Giovannella Dimucci
O’Kane hatte von Rosaleen geträumt – oder
von einer Frau wie ihr, einem silbrigen Sukkubus mit federweichen
Lippen und begierigem Fleisch, zum Greifen nahe, doch unerreichbar
–, als ihn wie jeden Morgen das gepreßte, röchelnde Krähen von Sal
Oliveirios zerfleddertem Hahn aufweckte. Gefolgt von brüllenden
Kühen, einer konfusen Debatte von drei, vier italienischen Stimmen,
und dann, nach einer Weile, vom Geruch eines Holzfeuers und dem
starken Duft nach Kaffee und brutzelnden Spiegeleiern. Er stand
nicht sofort auf – sein Dienst begann erst um acht Uhr –, sondern
blieb liegen, starrte zur Decke empor und auf den dünnen Lichtfilm
auf den Fenstern und hoffte, in den Traum zurückgleiten zu können.
Er hatte einen Ständer – irgendwie hatte er in letzter Zeit dauernd
einen Ständer, Tag und Nacht, und das lag daran, daß er wie ein
Mönch in der Klosterzelle lebte –, und er streichelte sich mit
langsamem, sehnsüchtigem Rhythmus, dachte dabei an Rosaleen, an die
junge Frau im Zug, an Katherine, bis der Moment der Erleichterung
kam und er wieder ruhig daliegen konnte.
Doch er fand keinen Schlaf mehr, und das war
ärgerlich, denn Schlaf war eine Abwechslung von der Langeweile, und
er war gelangweilt, das mußte er sagen – nervös und rastlos und
gelangweilt. Man schrieb Mitte Juli, er war jetzt sieben Wochen in
Kalifornien, lebte im Erdgeschoß des großen Steingebäudes, in einem
Zimmer des Dienstbotentrakts, während die Dienstboten – Itaker
zumeist, aber es waren auch ein paar Spanier oder Mexikaner dabei –
sich in den Hütten hinter dem Haus zusammenpferchten. Mart wohnte
im Nebenzimmer, aber Nick und Pat hatten sich Wohnungen im Ort
gesucht, als ihre Familien eingetroffen waren – und Rosaleen hätte
eigentlich auch mitkommen sollen, vor zwei Wochen war das, aber
O’Kane hatte abgewinkt. Begründet hatte er es damit, daß er noch
keine anständige Wohnung für sie und das Baby habe, und das stimmte
ja auch – er hatte tatsächlich nichts gefunden. Allerdings war er
seit seiner Ankunft genau viermal in Montecito gewesen, und wenn er
dort gewesen war – am Abend, zusammen mit Mart und Roscoe LaSource,
dem Chauffeur –, dann hatte er nicht nach einer Wohnung
gesucht.
Er hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, sein
Sohn fehlte ihm – und Rosaleen auch, vielleicht sogar seine Eltern
und Onkel Billy und seine Schwestern mit dazu –, aber er wollte
Kalifornien auf eigene Faust erleben, wollte diesem unirdischen
Land, in dem Eidechsen über die Felsen huschten, die Blumen so groß
wie Bäume waren und der Ozean sich bis zum fernen China erstreckte,
alles entlocken. Es war genau, wie er es sich ausgemalt hatte, nur
viel üppiger und komplexer, so als wäre seine Vorstellung von
Kalifornien gerade die erste Seite einer riesigen Enzyklopädie von
Vorstellungen gewesen. Hier gab es sechs Meter hohe Farne und
Bäume, die statt dem Laub ihre Rinde abwarfen, Palmen so dünn wie
Laternenmasten und Blumen, überall Blumen – die ganze Welt bestand
hier aus Blumen. Es war trockener, als er geglaubt hatte – während
der gesamten Zeit, die er hier war, hatte es nicht einen Tropfen
geregnet, wenn man einmal von dem Tau absah, der sich nachts über
alles legte und jeden Morgen in einen verblassenden Traum
verwandelte –, und er hätte nie gedacht, daß Riven Rock und all die
anderen großen Landsitze so fern von der Stadt waren, über acht
Kilometer weit weg. Vielleicht sollte er sich ein Fahrrad zulegen –
oder Flügel wachsen lassen. Himmel, jedenfalls rühlte er sich fast
so eingesperrt wie der arme Mr. McCormick, denn das vermißte er am
meisten: Saloons, Geschäfte, Gehsteige, Straßenlaternen,
Zivilisation.
Er hatte noch nie auf dem Land gelebt, war nie
von Hähnen und Kühen geweckt worden, und er hatte nie soviel Zeit
mit Ausländern verbracht – also mit Italienern. Sie waren überall,
schlurften in ihren ausgebeulten Hosen und schweißfleckigen Hemden
über die Schotterwege, hauten Steine zurecht, schnitten Hecken,
hackten Unkraut in den Obstgärten, jeder Kuh und jeder Ziege der
Gegend klatschten sie sechsmal am Tag aufs Hinterteil, sie walkten
die Wäsche in großen Wannen draußen im Hof, oder sie schlichen mit
Schrubbern und Besen und einer Miene schmieriger Ergebenheit durchs
Haus. Aber sie waren ganz in Ordnung, die Italiener. Die meisten
sprachen Englisch, zumindest eine Variante davon, die er und Mart
entwirren konnten, und abends saß er meist mit Sal und Baldy und
ein paar von den anderen im Orangenhain, wo sie einen Krug Rotwein
oder eine Flasche von diesem flüssigen Feuer herumgehen ließen, das
sie Grappa nannten. Und ihre Frauen waren gar nicht übel, vor allem
die jungen. Eher der ländliche Typ, nicht so wie Miss Ianucci zum
Beispiel, aber eine oder zwei von ihnen waren ihm angenehm
aufgefallen.
Und die Orangen. Die hingen hier einfach an den
Bäumen, nicht anders als im Osten die Äpfel und Birnen, und es
verging kein Tag, ohne daß er morgens nach dem Aufstehen in der
würzigen Luft herumspazierte und sich zwei oder gar drei davon
pflückte; dann schälte er sie im Gehen, die Sonne schien ihm ins
Gesicht, die Kolibris hingen über den Blüten wie in der Luft
schwebendes Buntpapier, und die Berge, die vor ihm aufragten, waren
in Dunst gehüllt wie auf einem Ölgemälde.
Trotzdem mußte er an Rosaleen denken, als er
sich jetzt aus dem Bett hievte, etwas Wasser ins Gesicht klatschte,
das Haar nach hinten kämmte, seinen Unterkiefer im Spiegel musterte
und dabei überlegte, ob er sich das Rasieren sparen konnte.
Vielleicht sollte er sie doch nachkommen lassen – die McCormicks
zahlten die Reise. Er könnte eine Wohnung im Ort finden, in einer
dieser Straßen bei der alten Mission mit schönen schattigen Bäumen,
und er wäre in der Nähe der Saloons und Grill-Imbisse und der
chinesischen Wäscherei, er würde es jeden Abend besorgt kriegen und
müßte sich auch nicht mehr von diesen verdammten Hühnern wecken
lassen und sich so einsam und ausgelutscht fühlen. Darüber sann er
nach, als er vor dem Spiegel stand, sich die Krawatte band und
langsam ernsthaft ans Frühstück dachte, an Sam Wahs Haferkuchen und
drei Spiegeleier, in Butter gebraten und mit einer Scheibe
Schinken, dazu das frischgebackene Brot, das er bereits riechen
konnte, und dann fiel sein Blick auf den Brief auf dem
Schreibtisch. Er war von Rosaleen, vor zwei Tagen gekommen, und
obwohl er ihn schon sechsmal gelesen hatte, konnte er in seiner
augenblicklichen Geistesverfassung nicht umhin, ihn aufzuheben. Und
sobald er ihn in der Hand hatte, entfaltete er ihn beinahe
unwillkürlich und strich ihn auf der kühlen Marmorplatte
glatt:
Liber Eddie:
Die Sone schaint ich hab für Eddie Junjor ein
neues paar kurtze Hosen gekauft Vielen dank für das Geld. Er is so
süs und ich will jede nacht das du mir dein Ding reinschtekst ich
bin wie eine frau die fahungat und fon irngwo weet der geruch von
gebratnen schpek durch die luft und desweegen bitte Eddie schik uns
bald die farkarten weil Mildred Tompsn und Ernestine sind schon
seit zwei wochen weg mit ihren Jungs und ich fermis Dich so.
In Libe & Lust
Deine Rosaleen
Deine Rosaleen
Er hörte ihre Stimme und sah sie vor
sich, in einer zuckenden Serie von Posen, größtenteils sexuellen,
so wacklig und vergänglich wie eines von Edisons bewegten Bildern,
und er wurde weich. Dann aber sah er nochmals auf ihre ungelenke,
nach hinten kippende Krakelschrift und diese Rechtschreibung, die
nie über die dritte Klasse hinausgekommen war, und er fragte sich,
was in ihn gefahren war, sie je zu heiraten. Als sie ihm damals im
September sagte, sie sei schwanger, sie kamen gerade Hand in Hand
von »Brophy’s Bar & Grill« nach Hause, der Himmel hing voller
Sterne und ihre Lippen waren prall wie Schwämme und so süß, als
leckte er den Deckel eines Honigglases ab, da hätte er abhauen
sollen, ohne sich umzusehen, nach Alaska, Sibirien, sonstwohin.
Aber er tat es nicht. Er heiratete sie. Stand vor dem Altar und
schwor vor Gott und Pater Daugherty, für den Rest seines Lebens bei
ihr zu bleiben. Ja. Aber jetzt war sie in Waverley, daheim im Schoß
ihrer Familie, bei ihren Eltern und ihren glotzäugigen Halbidioten
von Brüdern, und er war hier, in Kalifornien, ohne irgendeine Sorge
auf der Welt. Was konnte man dem entgegenhalten?
Mart war im Eßzimmer, saß über den Teller
gebeugt und kaute mit hirnloser Unentwegtheit, als O’Kane zum
Frühstück hereinkam. Der Doktor und Mrs. Hamilton waren noch nicht
auf. Sie wohnten mit ihrem plärrenden Baby in einem der Gästeräume
im Ostflügel, bis sie ein passendes Haus in der Gegend gefunden
hätten. Die Dienstboten aßen in der Dienstbotenküche hinten im
Haus, und Mr. McCormick wurde von seinen Pflegern mit einem
Schlauch gefüttert, um Punkt neun Uhr. Deshalb war an diesem
Morgen, an dem die Sonne fahl, weiß und geradezu gespenstisch in
einem Äther von Dunst hing, der jeden Hintergrund verschwimmen
ließ, so daß das Haus ebensogut ein Schiff auf hoher See sein
konnte, Mart mit O’Kane allein beim Frühstück. »Schönen guten
Morgen, Mart«, krähte Ound klappte den Deckel der Servierschale
auf, umschwirrt vom Hausmädchen, einer geschlechtslosen Jungfer von
Mitte Dreißig namens Elsie Reardon, mit einem großen Krug voll
frisch gepreßtem Orangensaft in der einen Hand und einer funklenden
Silberkanne mit Kaffee in der anderen.
Martin knurrte eine Antwort. Er hatte sich das
Haar gewaschen, das er nach vorn kämmte, um die riesige schimmernde
Fläche seiner Stirn zu vertuschen, und die nassen Haarsträhnen
sahen aus wie auf eine Glühbirne gepappte Holzwolle. An seinem Kinn
klebte Ei.
»Ich weiß nicht, wie du das aushältst«, seufzte
O’Kane und sank auf den Stuhl neben ihm nieder. »Ich meine, ohne
Frau hier draußen in dieser Einöde, wo deine Brüder jeden Abend mit
ihrer Alten ins Bett hüpfen, sogar Dr. Hamilton hat seine Frau
dabei... und die Itaker, die vögeln da draußen in ihren Hütten wie
die Karnickel. Ich halt das nicht mehr aus. Ich werd noch verrückt
hier.«
Mart wirkte interessiert. Er legte die Gabel
weg und tupfte sich das Kinn mit der Serviette ab. Elsie goß mit
entrüsteter Miene Kaffee ein und stampfte dann aus dem Zimmer. »Was
ist denn mit Rose?«
O’Kane winkte ab. »Ich meine heute, jetzt,
diese Nacht. Ich bin dran gewöhnt, es besorgt zu kriegen, verstehst
du? Aber klar, mit wem rede ich denn hier – du hast ja
wahrscheinlich noch nie im Leben ordentlich gebumst, oder?«
Mart protestierte, aber nur sehr matt, und
O’Kane wußte, daß er ins Schwarze getroffen hatte.
»Es ist wie mit dem Schinken hier« – und er
hielt die rosa Scheibe auf den Gabelzinken hoch, knusprig vom
Braten und überzogen von glänzendem rauchigem Fett. »Wenn Elsie dir
morgen keinen gibt, wirst du nichts sagen. Aber wenn zwei Tage ohne
vergehen, drei, eine Woche – verstehst du, was ich meine? Und Sex –
also, das ist ein echtes körperliches Bedürfnis, genau wie Essen
und Wasser und die Verdauung...«
»Und Whiskey«, ergänzte Mart mit verschlagenem
Grinsen. »Vergiß den Whiskey nicht.«
O’Kane grinste zurück. »Was meinst du? Sollen
wir Roscoe überreden, daß er heute mit uns in die Stadt
fährt?«
Und dann folgte die morgendliche
Routine. Gute Nacht sagen zu Nick und Pat, die ihre Schicht jetzt
beendeten, und hallo zu Mr. McCormick, der zusammengekrümmt wie
eine Brezel im Bett lag. Danach hieß es, Mr. McCormick das
Nachthemd auszuziehen und die Bescherung aufzuwischen, die er in
der Bettwäsche hinterlassen hatte, das ganze Zeug für die Wäscherin
zu bündeln und Mr. McCormick sein Duschbad zu verabreichen; dabei
mußte O’Kane die ganze Zeit an Robert Ogilvie denken, den Leiter
des Peachtree Asylum in Stone Mountain/Georgia, der seine
Katatoniker an einem Gestell in einer großen Metallwanne aufhängte,
Tag und Nacht, und nur das Wasser wechseln ließ, wenn es dreckig
wurde. Keine Flecken, kein Gestank, keine Wäsche – nur ein Ablauf
und ein Wasserhahn. Also, wenn das kein Fortschritt war.
»Er sieht heute nicht besonders gut aus«,
bemerkte O’Kane, als sie im Zimmer das verdreckte Bett und die
Haltung betrachteten, in der Mr. McCormick darin lag.
Mart war etwas abwesend. Er nickte nur mit dem
großen Kopf, auf dem das Haar zu Fransen getrocknet war, und
starrte auf ihren Arbeitgeber hinab wie auf ein Möbelstück. »Hab’n
schon schlimmer gesehen.«
Irgendwann in der Nacht hatte Mr. McCormick
sich wie ein Fötus im Mutterleib zusammengerollt, und es war ihm
gelungen, den einen Fuß so in den anderen zu verhaken, daß es
unbequem, ja geradezu schmerzhaft aussah – eine Haltung, wie sie
einem Swami oder einem Schlangenmenschen anstand. Er atmete schwer,
der Brustkorb arbeitete, als wäre er gerade fünfzehn Kilometer
gelaufen, seine Augen standen weit offen, die Hände waren
unentwirrbar ineinandergeklammert, aber er reagierte nicht auf sie.
Sie hatten keine Wahl, als ihn so aus dem Bett zu heben, wie er
war, jeder eine Hand unter eine Achsel und eine Hinterbacke, und in
die Dusche hinüberzuwuchten, wo das Wasser einiges von der Kruste
abspülte und sie den Rest mit Palmolive-Seife und Scheuerbürsten
beseitigen konnten, und es schien alles nicht viel anders als jeden
Tag, bis auf diese Körperhaltung. Trotzdem war es ein seltsames
Gefühl, einen erwachsenen nackten Mann durch die Gegend zu
schleifen, der unvorstellbar viele Millionen schwer, aber leblos
wie eine Rinderhälfte am Fleischerhaken war. Nur seine Augen
bewegten sich, aber sie nahmen nicht allzuviel wahr – höchstens
einmal sahen sie zu den Wassernadeln der Brause auf oder zu dem
durchs Fenster hereindringenden Licht, dann ging der Blick wieder
ins Leere.
Es war unheimlich. Beklemmend. Egal, wie oft
O’Kane es erlebt oder bei wie vielen Patienten er es schon gesehen
hatte – und er hatte in der Irrenanstalt von Boston genug von ihnen
gebadet, zwanzig auf einmal, und danach mit dem Schlauch
abgespritzt wie Schweine im Stall –, es ging ihm immer noch nahe.
Wie konnte jemand so leben? So sein? Und was mußte passieren, daß
der Mechanismus kaputtging, daß der Normale abnormal wurde, daß ein
Mann wie Mr. McCormick, der alles besaß und noch mehr, selbst die
Fähigkeit, das zu wissen, verlieren konnte?
»Ich wünschte, er würde da rauskommen, Mart«,
sagte er, nachdem sie ihn im Wasserstrahl der Dusche auf die Seite
gelegt hatten. »Auch wenn er wieder durchdreht – alles lieber als
das.«
»Soll das ein Witz sein?« Mart rieb sich die
Stelle über dem linken Auge, wo ihr Arbeitgeber ihn im Zug erwischt
hatte. Dampf stieg vom Boden auf. Wasser prasselte gegen die
Fliesen. Mr. McCormicks Haut glitzerte jetzt, und sein Haar war ein
dunkles Käppi, das an seinen Schläfen klebte und sich den Nacken
hinunterzog; er grunzte leise.
»Denk doch mal nach, Mart, das ist Stanley
McCormick, einer der reichsten Männer der Welt, und er hat nicht
mal eine Ahnung davon. Ich meine, ich war schon so sturzbesoffen,
daß ich nicht mehr wußte, wo ich bin, hab
in einem Hinterhof gepennt, und einmal bin ich an einem Strand
aufgewacht, mit ekligen Krabben überall am Körper – aber ich wußte
immer noch, daß ich Eddie O’Kane bin.«
Mart schien nicht ganz zu begreifen. Er starrte
nur kopfschüttelnd zu der gekrümmten Gestalt auf den nackten
Kacheln hinab. »Ich wünsch mir, daß er immer so bleibt, schön still
und ruhig.« Und dann senkte er die Stimme, da man ja nie wußte, was
Mr. McCormick dachte und woran er sich erinnern würde. »Wenn er je
wieder gesund wird, dann braucht er uns nicht mehr, das ist mal
klar – und was wird dann aus uns?«
Um neun Uhr, nachdem sie Mr. McCormicks Füße
entwirrt und ihn massiert hatten, um ihn ein wenig zu entkrampfen,
drückte Mart dem Patienten mit einem Holzspatel die Kiefer
auseinander und O’Kane schob ihm das Rohr zwischen die Zähne. (Und
Mr. McCormick hatte gute, kräftige Zähne, nur wurden sie inzwischen
gelb, weil er nicht imstande war, sie zu pflegen.) Das Gerät
bestand aus einem ausgehöhlten Stück Bambus, wie es Kopfjäger zum
Verschießen ihrer Pfeile benutzten, sowie einem gewöhnlichen
Küchentrichter, und zum Frühstück bekam Mr. McCormick das gleiche
wie sie – Schinken und Eier, Toast und Kaffee –, allerdings von Sam
Wah, dem chinesischen Koch, gründlich zu einem dicken schwarzen
Brei verarbeitet. Während O’Kane damit beschäftigt war, vor Mr.
McCormicks weit offenem Mund zu lauern wie ein flugunfähiger Vogel
vor einem übergroßen Küken, dem langweiligen Tropfen des
Nahrungsbreis zuzusehen, dem Patienten immer wieder Mund und Kinn
abzuwischen und ihm die Nase zuzuhalten, um den Schluckreflex
auszulösen, mußte er unwillkürlich darüber nachdenken, wie wenig
Fortschritte Mr. McCormick im Lauf der letzten zwei Monate doch
gemacht hatte.
Er war nicht immer so gewesen. Als er vor zwei
Jahren zum erstenmal ins McLean eingeliefert wurde, hatte er nur
einen Zusammenbruch gehabt, und die Prognose war gut. Natürlich war
er schwer gestört, vor allem während der ersten Tage, da ging er
auf jeden los, der ihm näher als einen Meter kam, und er schimpfte
wüst über alles mögliche – über Jack London, seinen Vater,
Zahnärzte, die Mähmaschinenfirma und auf Frauen, vor allem auf
Frauen, er brüllte »Fotze«, »Schlitz« und »Hure«, bis die Wände
vibrierten und sein Gesicht so ausgebleicht war wie ein Blatt
Papier im Schnee –, aber nachdem er eine Woche lang festgebunden
war, besserte er sich. Mit einemmal wurde er ruhig und vernünftig,
ein würdevoller Gentleman, der sich morgens ohne Tics oder
sonstigen Blödsinn ankleidete und mit den anderen Patienten und
deren Verwandten herumscherzte und plauderte, so daß ihn bald alle
für einen der Ärzte hielten. Und Mr. McCormick, für Späße immer zu
haben, spielte mit: er gab Ratschläge, ging Arm in Arm mit
enttäuschten Eltern, dem Cousin aus Bayonne, dem unwirschen Bruder
und dem grimmigen Ehemann den Flur entlang und verhielt sich auch
Frauen gegenüber tadellos: er war die Höflichkeit selbst mit der
sanftesten, einfühlsamsten und leutseligsten Stimme, die O’Kane je
gehört hatte.
Innerhalb einer Woche erkannte er O’Kane – er
nannte ihn »Eddie« und fragte speziell nach ihm –, und sie
unternahmen gemeinsam lange Spaziergänge auf dem
Sanatoriumsgelände, spielten Golf, Croquet, Schach und andere
Brettspiele. Er beharrte darauf, daß ihm gar nichts fehlte – nur
die Nerven und Überarbeitung, das war alles –, und er sprach und
kleidete sich ganz normal, hatte für jeden ein Lächeln übrig, so
daß O’Kane es beinahe auch glaubte. An den Abenden hielt er die
ganze Station in Bann mit Geschichten von seinen Reisen – er war
schon überall gewesen, in allen Hauptstädten Europas, in Ägypten,
in Albuquerque, Carson City und San Francisco –, und jeder, ob
Ärzte, Pfleger oder Patienten, mußte über seine Witze lachen. Er
riß dauernd Witze – keine bösen Streiche, nichts Gemeines oder
Gestörtes, wie man das von vielen anderen Patienten kannte,
überhaupt nichts dergleichen. Er traf auch immer den richtigen Ton.
Und auch wenn die Witze schon zu Zeiten seiner Mutter alte Kamellen
gewesen sein mußten (»Was sagt die Sonne am Abend zum Ozean? –
Hilfe, ich gehe unter!«), hatte er so offenkundigen Spaß daran –
seine Miene öffnete sich zu diesem breiten Lächeln, mit dem er
gesegnet war, und die Augen legten sich in winzige Fältchen –, daß
sie unwiderstehlich waren, auch wenn man sie schon zum zehntenmal
hörte.
Alle waren optimistisch. Alle waren
erleichtert. Nur die Nerven, sonst nichts. Dann aber, eines
Morgens, nach einem längeren Besuch seiner Frau, wollte er nicht
mehr aufstehen. Das Lächeln war verschwunden, die Witze tot und
begraben. Auf einmal sprach und aß er nicht mehr, ging nicht mehr
auf die Toilette und wusch sich nicht mehr. Dr. Hamilton, Dr.
Cowles und Dr. Meyer versuchten ihn zurückzuholen, sie redeten sich
den Mund fusselig, sie argumentierten, ermahnten, lockten und
drohten – sie holten sogar den ehrwürdigen Dr. Emil Kraepelin aus
dem weit entfernten München, damit der sein Glück versuchte –, aber
Mr. McCormick schien nur immer tiefer in sich selbst zu versinken,
wie ein Mann, der bis zum Kinn im Treibsand steckte, und niemand
auf der ganzen Welt konnte ihm helfen. Bald danach attackierte er
Schwester Doane – Arabella – und mußte erneut am Bett festgebunden
werden.
Man hatte gehofft, daß Kalifornien einen
Umschwung herbeiführen würde, aber soweit O’Kane sah, war das eine
ziemlich sinnlose Übung. Bisher jedenfalls. Mr. McCormick war so
blockiert wie noch nie, so tief versunken in seinen Halluzinationen
und Phobien, daß er nicht einmal seine Pfleger wiedererkannte. Und
es schien keinen zu kümmern – nach Riven Rock hatte man ihn fest
verschnürt wie einen preisgekrönten Truthahn verfrachtet, und auch
ohne viel mehr Bewußtsein als so ein fettes Federvieh, und damit
war der Fall erledigt, aus den Augen, aus dem Sinn. Für alle, bis
auf Mrs. McCormick. Katherine. Sie war die ganze Zeit über
dageblieben, lange nachdem Mr. McCormicks Mutter und Geschwister
abgereist waren, sie fuhr jeden Morgen zum Anwesen hinaus, wo sie
Hamilton und die Pfleger ausfragte und die Dienstmädchen, den
Butler und sogar den Koch mit seinem verhunzten Englisch verhörte.
Was hat mein Mann zum Frühstück bekommen? Ißt
er jetzt wieder? Wie ist seine Gesichtsfarbe? O’Kane hatte sie
zweimal mit einem Opernglas in der Hand draußen im Gebüsch
herumkriechen sehen, von wo sie einen kurzen Blick auf ihren Mann
zu erhaschen hoffte, wenn er auf die Sonnenveranda hinausgerollt
wurde. Auch Nick und Pat hatten jedes Interesse verloren, sie
behandelten ihren Arbeitgeber wie einen dieser Sabberlappen auf der
geschlossenen Abteilung; Mart schien die ganze Sache vollkommen
gleichgültig zu sein, und Hamilton war so sehr mit seinen Affen
beschäftigt und damit, ein Haus zu suchen und seine Frau wegen des
Umzugs aus Massachusetts zu besänftigen, daß er nicht mal mehr die
Zeit fand, den Kopf zur Tür hereinzustecken.
Und O’Kane? Der saß in den Kulissen des
Paradieses fest, mit einem Haufen Itaker um sich herum und einem
Ziehen in den Lenden, das schlimmer war als Fieber, und wartete
darauf, daß Mr. McCormick eines Tages wieder gesund würde, um ihm
seine Ausdauer und Loyalität zu vergelten, und das wäre dann der
Tag, an dem seine eigenen Orangen schwer an den Zweigen hingen und
er endlich, zu guter Letzt, einmal selbst im Mittelpunkt stehen und
das Drama des eigenen Lebens beginnen lassen könnte.
Am Nachmittag saß er am Schreibtisch im
oberen Flur, direkt hinter der verriegelten Tür zu Mr. McCormicks
Zimmerflucht, er legte Patiencen und klappte alle dreißig Sekunden
die Taschenuhr auf, um den schildkrötenhaften Fortgang der Zeit
persönlich zu überwachen, als Dr. Hamilton hektisch und außer Atem
die Treppe heraufgestolpert kam. »Edward«, rief er, »Edward, Sie
müssen sich das ansehen!«
O’Kane blickte von den Karten auf, erfreut über
die Abwechslung. Er sah kurz Mart an und die gekrümmte Gestalt auf
dem Bett hinter ihm, dann erhob er sich, um die Tür aufzuschließen,
die »drei Ps« immer im Sinn. »Was ist denn los?« fragte er und
drehte die Schlüssel. »Ein neuer Hominide?«
Im Licht der unermüdlichen kalifornischen
Sonne, das durch die Fenster im ersten Stock hereinströmte, schien
der Kopf des Arztes zu glühen. Er ließ in letzter Zeit eine Menge
Kopfhaut sehen, bleiche Streifen unter den graubraunen Strähnen
seines Haars, und O’Kane bemerkte mit Schrecken, daß der Haaransatz
tatsächlich zurückgewichen war – wann hatte das angefangen? Auch
sein Gesicht – die Furchen waren tiefer geworden, und da war noch
etwas, etwas völlig Merkwürdiges... aber natürlich, er hatte sich
den Bart abrasiert. »Sie haben sich rasiert«, hörte O’Kane sich
sagen.
Der Arzt winkte ab, als wäre das nicht der Rede
wert, doch das war es sehr wohl, denn dieser Bart hatte ihn als
Psychiater ausgewiesen, er war praktisch ein Zwilling jenes Barts
gewesen, der im Gesicht des Dr. Freud sproß. Wie konnte er ohne
Bart überhaupt die Psychiatrie praktizieren? Es war undenkbar.
»Meine Frau hatte nie viel Freude damit«, erklärte Hamilton, der
vor Anstrengung schwer atmete, »und außerdem wurde er mit den
Hominiden allmählich zum Risiko – Mary hatte Angst, er könnte Flöhe
anlocken. Oder Schlimmeres. Aber genug von meinem Bart – ich möchte
Ihnen etwas zeigen, Edward, etwas wirklich Erstaunliches, meinen
bisher besten Fund. Kommen Sie, kommen Sie schon – worauf warten
Sie denn?«
Und dann eilten sie die Treppe hinunter, durch
die Küche und zur Hintertür hinaus, auf dem Weg zum Hominidenlabor,
und der Doktor war so aufgewühlt, daß er am liebsten gerannt wäre.
O’Kane hörte das Gekreische und Gekeife der Affen, lange bevor sie
den Pfad erreichten, der sich in das Eichenwäldchen schlängelte,
und bald roch er sie auch – ein scharfes, beißendes, von
Schmeißfliegen wimmelndes Gemisch aus Hominidenschweiß und
Hominidenkotze und der betäubende Gestank nach mit Exkrementen
verklebtem Affenfell. Und er nannte sie jetzt ganz einfach Affen,
jedenfalls solange Hamilton nicht zuhörte, denn nichts anderes
waren sie: neun Rhesusäffchen und ein Paar olivfarbener Paviane.
Primaten, so hatte sich gezeigt, waren nicht so leicht
aufzutreiben. Der Doktor hatte bei jedem Händler mit exotischen
Tieren, jedem Zirkus und jedem Zoo entlang der gesamten Küste nach
ein paar Schimpansen gesucht, aber es waren einfach keine zu
haben.
Dafür hatte er kleinere Affen bekommen, und es
sollten noch mehr werden. Nachdem die ersten beiden rattenartigen
Viecher gestorben waren – das Blut war ihnen aus Ohren und Anus
geronnen –, hatte der Doktor Glück gehabt und neun neue Affen auf
einen Schlag von einem der Millionäre aus der Gegend kaufen können,
einem Exzentriker, der auf seinem Grundstück eine ganze Menagerie
frei herumlaufen ließ: Strauße, Känguruhs, Boa constrictors,
Impalas und Buschböcke, und die Paviane hatte er in dem
heruntergekommenen Zoo von Muchas Vacas in Mexiko aufgetrieben, wo
ein paar Pesos einen noch weit brachten. O’Kane war nur froh, daß
er sich um die Bestien nicht zu kümmern brauchte – sie waren noch
keine zwei Wochen hier gewesen, da hatte Hamilton schon davon
angefangen, aber schließlich hatte er dann zwei magere braune
Männlein angeheuert, einen Itaker und einen Mexikaner, die ihm die
Käfige gebaut hatten und jetzt jeden Morgen die stinkenden
Kackehaufen mit dem Wasserschlauch wegräumten.
Affen übten auf O’Kane überhaupt keinen Reiz
aus – sie erinnerten ihn viel zu sehr an die Sabberer und
Scheißeschmierer, mit denen er die letzten sieben Jahre verheiratet
gewesen war, und diese Ära wollte er gern für immer hinter sich
lassen. Er war jetzt Oberpfleger von Stanley McCormick, und nicht
mehr lange, dann würde er Orangenpflanzer oder Erdöl-Tycoon sein,
der mit Panamahut durch die Empfangshalle des Potter Hotel
schlenderte, während sein eigenes Automobil vor der Tür wartete.
Natürlich mußte er, solange er unter Hamiltons Fuchtel stand,
zumindest Interesse an den Hominiden heucheln, aber er sah wirklich
keinerlei Sinn darin – auch eine ganze Wagenladung Affen würde Mr.
McCormick nicht von seinem Leiden kurieren. Und soweit er es
beurteilen konnte, hatte Katherine auch nicht viel für diese
Hominiden übrig und nahm sie nur widerwillig hin, wohl in der
Hoffnung, Hamiltons Experimente könnten zur Heilung ihres Mannes
beitragen, und so verbrachte sie den Großteil ihrer Besuche unter
den Eichen und hörte Hamilton zu, der über die hominide
Blasenentleerung, Autoerotik und Kopulationsfrequenz erzählte. Der
Doktor hatte den Affen Namen wie Maud, Gertie und Jocko gegeben,
und so, wie er von ihnen sprach, konnte man meinen, er hätte sie
alle persönlich gezeugt. (»Jocko hat gestern sechsmal mit Bridget
kopuliert, und dann noch zweimal mit Gertie«, sagte er zum
Beispiel, oder: »Sobald ich Jimmy zu Maud in den Käfig lasse, nimmt
sie die sexuelle Demutshaltung ein und bietet ihre Genitalien
dar.«) Nach O’Kanes Ansicht war die ganze Geschichte etwas, na ja,
übertrieben. Um nicht zu sagen: schweinisch.
Und jetzt stand Hamilton zwischen dem
grinsenden Spaghettifresser und dem grinsenden Tortillafresser und
machte Anstalten, eine schmutzige karierte Tischdecke von einer Art
Käfig wegzuziehen, der hinter ihm stand. Er strahlte wie ein
Zauberer. Die Affen kreischten und verströmten Gestank. Mildes
Sonnenlicht flutete durch die Bäume. »Fertig, Edward? Voilà!«
Die Tischdecke flatterte zu Boden, und der
Käfig war freigelegt. Darin befand sich eine orangegelbliche
Ansammlung von Gliedmaßen und Haar, die an nichts mehr erinnerte
als an einen Haufen vertrockneter Palmwedel, bis sie sich plötzlich
bewegte. O’Kane sah die beiden schwimmenden Augen, Nüstern wie zwei
Löcher in einem Gummischlauch, das nackte Affengesicht. »Jesus,
Maria und Joseph«, sagte er, »was ist denn das?«
»Ein Orang-Utan«, sagte der Doktor. »Wörtlich
heißt das ›Mann des Waldes‹. Sein Name ist Julius, und er kommt aus
dem fernen Borneo zu uns, durch die freundliche Vermittlung eines
Kollegen von Kapitän Piroscz, Benjamin Butler von der Siam.« Der Arzt grinste jetzt übers ganze Gesicht.
»Unser erster Menschenaffe.«
O’Kane trat einen Schritt zurück, als Hamilton
daranging, die Maschendrahttür des Käfigs zu entriegeln. Er dachte
an den einäugigen Schimpansen damals in Donnellys Bar, der Frank
Leary spielend im Armdrücken besiegt hatte – in diesen Sachen waren
die Menschenaffen doch ganz groß, oder?
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Hamilton, »er ist
völlig zahm. Er ist Menschen gewöhnt. Komm schon, Julius«, lockte
er mit jenem hypnotischen Flüstern, mit dem er seinen Irren und
Tobsüchtigen begegnete, »komm doch raus.« Zwei Orangen,
verführerisch in die Höhe gehalten, waren der Köder.
»Sind Sie sicher, daß...« begann O’Kane.
»O ja, kein Problem«, sagte Hamilton über die
Schulter. »Sie hatten ihn an Bord des Schiffes, seit er ganz klein
war, und alle haben ihn geliebt, die ganze Mannschaft, sie wollten
ihn mir gar nicht geben, aber natürlich jetzt, wo er ausgewachsen
ist, da wurde es etwas gefährlich, mit den vielen Schnüren und
Wanten und Fässern mit heißem Teer und so weiter... Ja, komm doch,
so ist’s brav.«
Geräuschlos entwand sich die zerfledderte
orangegelbe Kreatur dem Käfig und kauerte auf ihren haarigen Armen
wie eine Riesenspinne. O’Kane trat noch einen Schritt zurück, und
die beiden Wärter wechselten einen nervösen Blick – das Vieh war
fast so groß wie sie und auf jeden Fall wesentlich schwerer. Und
wie alle anderen Hominiden stank es natürlich wie eine Bootsladung
voller Wasserleichen.
Julius schien sich nicht allzusehr für die
Orangen zu interessieren, schob sie aber in den Schlitz mitten in
seinem plastischen Gesicht, als wären es Pferdepillen, dann
schlurfte er durch den Staub dahin, wo die Paviane und die anderen
Affen an ihren Käfigtüren rüttelten und sich die Kehle aus dem Leib
kreischten. Er tauschte verschiedene Körperflüssigkeiten mit ihnen
aus, den Kopf gesenkt und teilnahmslos, während sie sich am Gitter
festkrallten und die Zähne fletschten, dann setzte er sich auf die
Erde, beschnüffelte lustvoll seine Finger und Zehen, ehe er sich
lässig in den nächstgelegenen Baum hinaufhievte, wo er prompt
einschlief wie ein fetter Käfer. Oder auch starb. Es war schwer zu
sagen – er wirkte so absolut ungerührt und leblos, daß es aussah,
als hätte jemand einen nassen Teppich in die Astgabel
gesteckt.
O’Kane fühlte Hamiltons Blick. »Na?« fragte der
Arzt. »Was halten Sie davon? Großartig, was?«
Die beiden Wärter waren in die große
Einfriedung zurückgewichen, die Hamilton als Gemeinschaftsbereich
bestimmt hatte, wo seine Hominiden, wie er es nannte,
»interagieren« konnten. Dort bauten sie die Gerätschaften für
dieses oder jenes rätselhafte Experiment des Doktors auf. Die in
ihren Einzelkäfigen eingesperrten Affen betrachteten sie mit
glänzenden Augen. Sie wußten, was Dr. Hamiltons Experimente
verhießen: fressen, kämpfen und vögeln, wenn auch nicht unbedingt
in dieser Reihenfolge. O’Kane war um Worte verlegen.
»Sie sehen nicht eben enthusiastisch aus,
Edward«, bemerkte Hamilton, dessen bartloses Kinn bleicher als der
Rest seines Gesichts war, wie die aufgeweichte Haut unter einem
Pflaster. Seine Pupillen hüpften kurz.
»Nein, daran liegt es nicht – ich überlege bloß
gerade, ob Sie wohl noch mehr, äh, Hominiden wie den orangen da
kriegen können. Die müssen ziemlich selten sein. Muß zugeben, daß
ich so was wie den noch nie im Leben gesehen hab.«
»O ja, das sind sie. Aber gerade Menschenaffen
wollen wir ja haben, Edward. Macacus rhesus
ist ein hervorragendes Tier zum Experimentieren, und wir können
froh sein, daß wir welche haben, auch die Paviane, aber die
Menschenaffen sind unsere nächsten Verwandten, und je mehr wir
davon bekommen, desto gründlicher – und aussagekräftiger – werden
meine Studien sein. Begreifen Sie das?«
O’Kane bohrte die Schuhspitze in den körnigen
gelblichen Erdboden und beschrieb ein Muster aus konzentrischen
Kreisen, von denen jeder den nächsten schluckte. Er brauchte einen
Drink. Er brauchte eine Frau. Er wollte in der Stadt sein, mit Mart
und Roscoe LaSource, die Ellenbogen auf einen Tresen aus poliertem
Mahagoniholz gestützt, ein Schälchen mit gesalzenen Erdnüssen in
Reichweite. »Dr. Hamilton?« fragte er, den Kopf gesenkt, immer noch
mit dem Schuh in der Erde kratzend. »Eines beschäftigt mich schon
seit längerem, und ich möchte hier bestimmt nicht respektlos
erscheinen oder Ihre Methoden irgendwie in Frage stellen, aber ich
verstehe nicht ganz, wie das alles Mr. McCormick helfen soll. Also,
ich meine, die Affen hier draußen werden auf Herz und Nieren
geprüft, und er liegt da drin im Haus, verdreht wie ein Stück Draht
– und vielleicht irre ich mich ja, aber ich sehe ihn nicht gesünder
werden.«
Der Arzt ließ die Augen einmal, zweimal hüpfen;
O’Kane mußte an einen Ochsenfrosch denken, der etwas zu schlucken
versuchte, das in seinem Kopf steckengeblieben war. Lange Zeit
herrschte Schweigen, die Affen schnatterten in gedämpfter Vorfreude
auf ihre Entlassung in den Gemeinschaftsbereich, der Wind drehte
kaum merklich, wehte ihren Geruch noch konzentrierter heran. O’Kane
fragte sich, ob er zu weit gegangen war.
»Zunächst einmal, Edward«, sagte Hamilton
schließlich, seine Augen lauerten unter der blinkenden Fläche
seiner Brille wie die eines Schuppentiers, »möchte ich Ihnen sagen,
wie sehr es mich freut, daß Sie ein so aktives Interesse an Mr.
McCormicks Zustand haben. Wie ich schon einmal sagte, ist er der
Schlüssel zu allem, was wir hier tun, und diese Tatsache dürfen wir
nie aus den Augen verlieren. Dr. Kraepelin mag ihn als unheilbar
eingeschätzt haben, aber sowohl Dr. Meyer als auch ich sind mit
dieser Diagnose nicht einverstanden – wir sehen keinen Grund,
weshalb es eine vollständige Heilung, zumindest aber eine Besserung
seiner Symptome und eine allmähliche Wiedereingliederung in die
Gesellschaft nicht möglich sein sollte.«
Plötzlich ertönte ein lautes Krachen aus der
Richtung des großen Käfigs, gefolgt von einem Duett aus
mexikanischen und italienischen Flüchen – puta/puttana, puta/puttana –, und O’Kane sah, wie
die beiden Wärter mit einer bunt angestrichenen Holzkiste von der
Größe eines Klaviers hantierten. Er erkannte das Ding als die
Trichterkonstruktion, die der Doktor zum Testen der geistigen
Beweglichkeit der Affen entworfen hatte: sie bestand aus vier
Fächern mit je einem Türchen, und die Affen mußten sich daran
erinnern, welches davon unverschlossen war und zu der Belohnung
führte: einer Banane. Im selben Moment warf Hamilton verärgert den
Kopf herum und fauchte die beiden an: »Seid ja vorsichtig damit,
ihr unfähigen Idioten! Wenn ihr auch nur den Lack zerkratzt, kürz
ich euch den Lohn, das könnt ihr mir glauben!« Und dann schimpfte
er auch noch auf italienisch – vielleicht war es auch Mexikanisch.
Die Adern an seiner Kehle traten hervor, und sein Gesicht nahm die
Farbe der Pflaumentomaten an, die die Itaker hinter ihren Hütten
anbauten. O’Kane war beeindruckt.
Er zeterte gut eine Minute lang in ihrer
Sprache auf sie ein, dann wandte er sich wieder O’Kane zu, als wäre
überhaupt nichts gewesen, der besonnenste Mensch der Welt, die
Stimme erneut zu seinem gewohnten hypnotischen Flüsterton gesenkt:
»Gewiß ist Mr. McCormicks Fall ganz besonders schwierig, Edward,
und ich kann Ihnen versichern, wie sehr es mich beunruhigt, daß er
derzeit so vollkommen blockiert ist, aber das gibt mir nur um so
eher Grund, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, Gebiete zu
betreten, die noch niemand vor mir erkundet hat, um die
psychologischen Grundlagen der infrahumanen – also der sexuellen –
Verhaltensmuster zu untersuchen, so daß wir sie alsbald auf unsere
eigene Spezies übertragen können, und zwar insbesondere auf Mr.
McCormick, dessen Großzügigkeit all dies hier überhaupt nur
ermöglicht hat.«
Aber wie lange würde das dauern, wollte O’Kane
wissen. Sechs Monate? Ein Jahr? Zwei Jahre? Drei? »Aber letzten
Herbst hab ich noch Golf mit ihm gespielt«, hörte er sich sagen,
»und jetzt kann er nicht mal mehr reden. Und da sagen Sie, ein paar
Affen oder Hominiden, oder wie Sie sie auch nennen wollen, die
sechsmal am Tag miteinander rammeln, können ihn aus diesem Bett
wieder rausholen?«
Wiederum Schweigen. Der Arzt klopfte seine
Taschen ab, bis er Pfeife, Tabak und Streichhölzer gefunden hatte.
Er nahm sich Zeit zum Entzünden der Pfeife und musterte O’Kane
dabei nachdenklich. Er hatte diese Situation in der Hand, und er
würde sich nicht drängen oder provozieren lassen. »Ich sage Ihnen
eines, Edward«, sagte er und betonte den
Namen auf seine irritierende Weise. »Wie Charcot, Breuer und
Chrobak alle bereits festgestellt haben, und wie Dr. Freuds
brillante Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie nochmals bestätigen, gibt es an der Wurzel jeder
nervösen Störung immer eine genitale Komponente. Und wollen Sie
etwa auch nur einen Moment lang bezweifeln, daß Mr. McCormicks
Problem ein sexuelles ist? Sie haben doch gesehen, wie er auf diese
Frau im Zug losgegangen ist und auf die Krankenschwester im McLean
– wie hieß sie schnell?«
»Arabella Doane«, antwortete O’Kane
mechanisch.
»Sex ist die Wurzel und der Urgrund allen
menschlichen Tuns, Edward, vom morgendlichen Aufstehen und dem Gang
zur Arbeit bis zum Erobern fremder Nationen, von der Erfindung der
Glühbirne bis zum Kauf eines neuen Mantels, vom Fleischverzehr bis
zum Taxieren jeder vorbeigehenden Frau als potentielle
Paarungspartnerin. Sex ist das A und O, unser Daseinszweck, eine
unbezwingbare Lebenskraft.« Der Doktor war einen Schritt näher
getreten. O’Kane sah die dunklen stoppligen Pfefferkörnchen an
seinem Kinn. »Wir sind Tiere, Edward, vergessen Sie das nie, und
Tiere – ja, diese Hominiden, die so wenig Eindruck auf Sie machen –
werden uns eines Tages unsere verborgensten Geheimnisse enthüllen.«
Wie aufs Stichwort heulte einer der Affen in orgiastischer Ekstase
los. Die Augen des Doktors loderten. »Unsere sexuellen
Geheimnisse«, setzte er mit ersterbendem Zischen hinzu.
Gerade in diesem Moment, gerade als Hamilton
diese Worte aussprach, blickte O’Kane zufällig auf und sah
Giovannella Dimucci hinter ihnen in einem grellen Fleck
Sonnenlichts über den Weg gehen. Sie trug Holzschuhe, und er
betrachtete ihre nackten Beine, die unter dem Saum ihres Rocks
verschwanden, die schimmernde wehende Flagge ihres Haars, ihre
Brüste, die unter dem Stoff der Bluse bebten, und ihre Arme, die
sie mit rhythmischer Eleganz beim Gehen hin und her schwenkte, bis
sie um die Ecke bog. O’Kane sah zurück auf den Doktor, auf die
Affen, die sich lustvoll und hoffnungsfroh an ihre Gitterstäbe
klammerten, und auf den großen orangefarbenen Fellhaufen in der
Astgabel über ihm. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, wie um
alles wegzuwischen. Er schwitzte, und er war sich andererseits
einer Trockenheit in der Kehle bewußt: die Drangsal des
ausgedörrten Heiligen in der Wüste.
»Tja«, sagte er seufzend, als könnte er sich
kaum losreißen, »wirklich einen schönen Menschenaffen haben Sie da,
Doktor, und besten Dank auch, daß Sie sich Zeit genommen haben, ihn
mir zu zeigen und mir alles zu erklären – jetzt fühl ich mich
besser, wirklich –, aber ich muß wieder zurück... Mart fragt sich
bestimmt schon, wo ich bin. Also dann. Auf Wiedersehen.«
Giovannella Dimucci war die Tochter von
Baldessare Dimucci, der in seinem quietschenden Pferdefuhrwerk von
Crawfords Molkerei den Kuhmist abholte und an Orangenpflanzer und
reiche Witwen mit Blumenbeeten und riesigen Rasenflächen verkaufte.
Sie war siebzehn, mit kräftigen Schultern versehen, fleißig und
hilfsbereit, und sie arbeitete seit einer Woche in der Küche,
während die normale Köchin, eine bucklige kleine Warze von Frau
namens Mrs. Fioccola, sich von der Geburt ihres zwölften Kindes
erholte, allesamt Mädchen. O’Kane holte sie ein, als sie gerade die
Hintertreppe hinaufging, in der Hand einen leeren Abwascheimer.
»Giovannella«, rief er und sah zu, wie sie sich umdrehte, ihn
erkannte und ein Lächeln aufblitzen ließ, das sich von den Lippen
zu ihren Augen ausbreitete.
»Eddie«, sagte sie, und nun war er mit dem
Grinsen an der Reihe. »Was für eine Überraschung, dich um diese
Zeit zu sehen.« Sie stellte den Eimer ab und ließ ihr Lächeln noch
mehr erblühen. Hinter dem Maschengitter der Tür war Bewegung – Sam
Wah stand am Herd, mit dem Rücken zu ihnen, und eines der anderen
Dienstmädchen, O’Kane konnte es nicht genau erkennen, wusch gerade
einen Berg von Geschirr ab. Um die Ecke, von der Garage her, hörte
man Roscoe an den Autos basteln, er ließ einen Motor abwechselnd
aufheulen und leise säuseln, und der süßliche Geruch nach Benzin
drang schwach zu ihnen. Immer noch lächelnd, einen Finger im Mund,
fragte Giovannella etwas leiser: »Mußt du nicht bei Mr. McCormick
sein? Oder habt ihr die Schichten getauscht?«
Wie in Trance ging O’Kane auf sie zu und setzte
sich ihr zu Füßen auf die unterste Treppenstufe. Er roch ihren
Körper, die Seife an ihren Händen, den sauren Essiggeruch des
Abwascheimers. »Ja, eigentlich schon« – ein Zwinkern, bei dem er
sie der Länge nach abmaß und den Blick in die Sonne hob, die ihren
Kopf und die Schultern und die dunkle Kamee ihres Gesichts umrahmte
–, »du kennst meinen Zeitplan aber genau, was?«
Sie wurde nicht rot, nur das Lächeln erlosch
einen Moment lang, ehe es zurückkehrte. Sie sah kurz über die
Schulter auf Sam Wahs Silhouette, dann zupfte sie an ihrem Rock und
setzte sich behende neben ihn. »Sicher doch. Ich kenne von jedem
den Zeitplan –sogar von Mr. McCormick.«
»Schlaues Mädchen«, sagte er.
»Ja, ich bin ein schlaues Mädchen.« Ein Hauch
von Akzent. Sie war neun Jahre gewesen, als ihr Vater aus Marsala
ausgewandert war, und sie war ebenso amerikanisch wie alle anderen,
zum Beispiel wie Rosaleen, nur dunkler, wesentlich dunkler,
dunkler, als es sich ein Ire je vorstellen konnte. Rosaleens Haut
war weiß wie Porzellan, kreideblaß, mondbleich, so hell, daß die
Adern an den Knöcheln, den Handgelenken und zwischen den Brüsten
blau hervortraten; Giovannellas Haut dagegen war wie Darjeeling,
der zu lange in der Kanne gezogen hatte und in eine Tasse mit
heißer Milch gegossen worden war, Tropfen für Tropfen. Er liebte
diese Haut. Er wollte ihre Finger lecken, ihre Hände, ihre
Füße.
»Er ist ein sehr gefährlicher Mann«, sagte
O’Kane, um sich abzulenken.
»Wer?«
»Mr. McCormick.«
Die Sonne, die Blumen, das leise Gegacker der
Hühner, das Dröhnen des Motors. Giovannella hob die
Augenbrauen.
»Er ist das, was man einen Triebtäter nennt –
weißt du, was das ist?«
Sie wußte es nicht. Oder tat jedenfalls, als
wüßte sie es nicht.
»Er braucht – na, also er hat ständig ein
körperliches Bedürfnis nach Frauen, verstehst du? Er wird
gewalttätig. Und wenn er seinen Willen nicht kriegt, dann dreht er
bei der ersten Gelegenheit durch und geht auf eine Frau los, auf
irgendeine – sogar auf seine eigene.«
Ihr Gesicht hatte sich verdüstert, und er
fragte sich, ob er zu weit gegangen war, sie schockiert hatte, doch
dann verflog die Maske; sie beugte sich dicht zu ihm heran und
legte ihm die Hand auf den Ellenbogen. »Klingt wie ein ganz
normaler Mann für mich.«
O’Kane durchzuckte es heiß. Es war, als ob in
ihm eine Brandbombe geplatzt wäre – schlagt Alarm und holt die
Feuerwehr! »Hör mal«, sagte er, »du weißt doch, daß ich dich sehr
mag, du bist nämlich wirklich witzig, aber hier ist es so gräßlich
langweilig, oder?Ich meine, ich könnte vielleicht Roscoe überreden,
uns heute abend mit einem von den Packards in die Stadt zu fahren,
das heißt, wenn du mitkommen willst... mit mir, meine ich... wir
beide.«
Sie sah erneut über die Schulter, als könnte
jemand sie belauschen. Sie senkte den Kopf und sie blickte sich
verstohlen um. Ihr Vater würde sie niemals gehen lassen, das war
O’Kane klar, obwohl Baldy keine Ahnung hatte, daß O’Kane
verheiratet war. So waren die Italiener nun mal, wenn’s um ihre
Frauen ging – vor allem um ihre Töchter. Sie mißtrauten jedem
männlichen Wesen zwischen elf und achtzig, außer er war Priester,
und ganz egal wie beschickert sie von ihrem Grappa und ihrem
Bardolino waren, ein Auge hielten sie immer offen, sie waren
wachsam, auf der Hut, sprungbereit. Er war sicher, daß sie nein
sagen würde, daß sie sich hinter dem Verbot ihres Vaters verstecken
würde, hinter dem Hexenschuß ihrer Mutter und der dringenden
Notwendigkeit, sich um ihre zerlumpten, barfüßigen kleinen
Geschwister zu kümmern und das Feuer unter dem großen Topf mit
pasta e fagioli in Gang zu halten, doch sie
verblüffte ihn. Sie preßte die Lippen aufeinander und holte tief
Luft, sie suchte mit Blicken den Hof ab, um ihn schließlich
rundheraus anzusehen und zu flüstern: »Also wann?«
O’Kane war betrunken, als er in den Wagen stieg
und, während Mart auf dem Beifahrersitz herumzappelte, Roscoe
instruierte, bei der Olivenmühle an einem dunklen Weg haltzumachen,
wo die ganz in Weiß gekleidete Giovannella barfuß aus einer Lücke
in den Oleanderbüschen huschte und neben ihn auf den Ledersitz
kletterte, die Schuhe in der Hand und nach Knoblauch, Basilikum und
zerlassener Butter riechend, daß ihm das Wasser im Mund
zusammenlief, und er war auch betrunken, als Roscoe mit der
Gangschaltung kämpfte, Mart starr nach vorn glotzte und Giovannella
sich unter seinen Arm schmuggelte und ihr Gesicht an sein Gesicht
schmiegte.
In der Stadt hatten sie einen Riesenspaß, sie
gingen zu viert in einen Imbiß und aßen dort Bratkartoffeln und
Eiersandwiches mit Ketchup, was O’Kane genügend ausnüchterte, um
sich darauf zu konzentrieren, wie sich Giovannellas Lippen um den
Strohhalm in ihrem Sarsaparillasaft schlossen, danach zogen sie
weiter in Cody Menhoffs Saloon, wo O’Kane mit Whiskey und Bier sein
Feuer neu schürte, bis er auf einer Bank vor dem Potter Hotel
praktisch über Giovannella herfiel. Das Erstaunliche war, daß sie
gar nichts dagegen zu haben schien, sie hielt ebenso
leidenschaftlich mit, und als sie später wieder aus dem Wagen
hüpfte, um durch die Oleanderbüsche zu entschwinden wie eine süße
Erscheinung, da war es nach Mitternacht, und O’Kane war
verliebt.
Nach einer Woche ließ sie ihn alles mit sich
machen, unter dem Sternenhimmel am Hot Springs Creek, wo sie
stundenlang nackt auf einer Steppdecke herumkugelten, die seine
Großmutter bei Kerzenschein daheim in Killarney zusammengenäht
hatte. Er paßte immer auf, daß er ihn herauszog, bevor er kam, aber
sie war unbeherrscht und heftig, zappelte ungestüm unter ihm und
preßte sich mit derartiger Wildheit gegen seine Schultern und
Lenden, daß es ihm fast unmöglich war, sich loszureißen, und in dem
Augenblick, wenn er den unaufhaltsamen Schwall in sich kommen
spürte, war es jedesmal wie ein Ringkampf, wie Krieg, wie Geburt
und Tod und Wiederauferstehung von etwas ebenso Schrecklichem wie
Schönem. Aber er war kräftiger, deshalb gewann er. Er hatte schon
einem Mädchen ein Kind gemacht, und er sollte verdammt sein, wenn
ihm so etwas noch einmal passierte.
Im verwaschenen Mondlicht setzte sich
Giovannella zitternd auf und weinte über seinem vergeudeten Samen,
sie tauchte die Finger in die glänzende Pfütze auf ihrem straffen
braunen Bauch und schleckte sie ab, bis auch ihre Lippen glänzten.
»Eddie«, schluchzte sie immer wieder, »liebst du mich denn nicht?
Willst du mir nicht ein Baby schenken? Eddie, das ist Sünde,
Todsünde ist es, und du liebst mich nicht, ich weiß es!« Er
flüsterte ihr dann zu, das sei Unsinn, versprach ihr alles
mögliche, bis sie sich eine Zeitlang beruhigte, und er nahm einen
tiefen Schluck aus dem Weinkrug, reichte ihn ihr, und sie trank
ebenfalls, ihre Brüste bebten und schwangen, wenn sie die Arme
bewegte, und er griff mit der Hand nach ihnen, drückte seinen Mund
auf ihren, um die Tränen wegzuküssen, und bald trieben sie es
wieder, ineinander verkeilt wie Gegner, wie Liebende.
Er konnte nicht genug von ihr kriegen. Den
ganzen Tag, jeden Tag, spürte er ihre Berührung, die ganze Welt war
Tastsinn geworden, er fühlte sich durch und durch elektrisiert,
seine Kleider rieben, die Bettdecke juckte und lastete auf ihm wie
ein härenes Hemd. Am liebsten wäre er ständig nackt gewesen. Er
wollte bei ihr sein, wollte sie anfassen, sie schmecken, ihr mit
den Fingern durchs Haar, über die Brüste, in die weiche Seide ihrer
Spalte fahren. Er schrieb Rosaleen nicht zurück. Öffnete nicht mal
ihre Briefe. Sie war tot und begraben – und Eddie jr. genauso: ein
Fehler, ein mysteriöser Auswuchs, der aus dem Nichts entstanden
war, ein Hefeklumpen, ein Giftpilz, ein Krebsgeschwür, entsprungen
aus einem hastigen, hitzigen Gefecht in schweren Kleidern an einem
kalten Abend in einer kalten Scheune. »Giovannella«, sagte er zu sich selbst, raunte den
Namen auch dann vor sich hin, wenn er Mr. McCormick in die Dusche
hob, dem Doktor bei seinen Affengeschichten zuhörte oder mit dem
armen, schlichten Mart beim Frühstück das Wetter erörterte.
»Giovannella«, hauchte er, »Giovannella Dimucci.«
Ein Monat verging. Und dann kam ein Abend, an
dem er mit Mart und Roscoe allein in die Stadt fuhr, ohne weiter an
sie zu denken. Er war betrunken, sturzbetrunken, später ging er in
seinen Sachen am West Beach schwimmen und ruinierte sich die Schuhe
und eine gute Hose. Um vier Uhr morgens wachte er auf, sein Hirn
fühlte sich an wie aufgespießt, er war ausgetrocknet wie ein
Wüstennomade, und irgendwie war sie da, in seinem Zimmer, sie
hockte auf ihm, mit gespreizten Beinen und geballten Fäusten, und
sie knurrte vor sich hin. »Du Dreckskerl!« schrie sie, kaum daß er
im Zwielicht die Augen öffnete, und die harten kleinen Nuggets
ihrer Fäuste prasselten auf sein Kinn, seine Ohren, seinen Mund
nieder, in einem flatternden Ansturm, der wie ein Taifun auf See
war. Er versuchte, sie zu besänftigen, weil er fürchtete, Mart
könne sie aus dem Nachbarzimmer hören, oder noch schlimmer,
Hamilton am anderen Ende des Hauses, und er hob die Unterarme, um
ihre Schläge abzuwehren, aber er war zu schwach und zu besoffen,
und ihre Fäuste trafen immer wieder. Er wich aus, wand sich in den
Hüften, versuchte unter ihr wegzurollen, fluchte, war wütend und
verletzt, hatte den Geschmack seines Blutes auf den Lippen, doch
ihre Oberschenkel waren wie ein Schraubstock, und der Alkohol
machte ihn schlaff, bis er am Ende nur den Kopf mit den Armen
schützen und sie gewähren lassen konnte.
Wie lange das so ging, wußte er nicht, aber als
sie fertig mit dem Schluchzen und Schlagen war und seine Unterarme
nicht mehr mit Nägeln und Zähnen bearbeitete, da beugte sie sich
vor, bis ihr Gesicht auf seinem lag und er die rauhe Wut ihres
Atems auf der nackten Fläche seiner Augen, Lippen und Kiefer
spürte. Ihr Geruch war wie Metall. Wie Säure. Er ließ ihn auf der
Stelle schwach werden. »Ich würde mich umbringen für dich«, zischte
sie, »und meine Eltern, meine Geschwister, die ganze Welt würde ich
umbringen.« Und dann war sie weg. Zum Fenster hinaus, in die Nacht
hinein, zurück auf die Strohmatratze, die sie mit ihren Schwestern
Marta und Marietta in der dunklen brodelnden Festung des
Dimucci-Haushalts teilte.
Am nächsten Tag versöhnten sie sich, er liebte
sie wieder und wieder, auf jede Art, die er sich ausdenken oder
erträumen konnte, und sie krallte sich in seinen Rücken und flehte
ihn an, ein Mann, ein richtiger Mann zu sein und in ihr zu bleiben,
um ihr ein Baby zu schenken, aber er tat es nicht, und deswegen
stritten sie. Befriedigt, keuchend, schweißgebadet, so lagen sie
nebeneinander auf der Steppdecke unter den Bäumen, schweigsam wie
Feinde, bis sie hochfuhr, sich anzog und ohne ein Wort verschwand.
Danach machte er sich ein paar Tage lang rar und sah sie eine Weile
nicht wieder. Zur Vorsicht versperrte er das Fenster mit einem
Vorhängeschloß, und er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, aber er
konnte nicht zulassen, daß Dr. Hamilton sie in sein Zimmer klettern
sah. Oder Katherine – was, wenn sie es herausfände? Er fuhr in die
Stadt zu Nick, um bei ihm zu Hause Ernestines Geburtstag zu feiern,
und trank dort genug Bier, um ein Schiff zu Wasser zu lassen, und
kein einziges Mal flüsterte er Giovannellas Namen. Tagsüber war sie
nicht mehr da – Mrs. Fioccola arbeitete jetzt wieder in der Küche,
und Giovannella hatte in Riven Rock nichts mehr zu tun –, deshalb
blieb ihr nur die Möglichkeit, nachts herumzuschleichen und
Kieselsteine an sein Fenster zu werfen. Die Kiesel prasselten wie
Hagelkörner. Das Fenster schepperte wie wild im Eisenrahmen. Hunde
bellten in der Nacht, und zweimal kamen die Dienstboten aus ihren
Hütten gerannt und jagten Phantome im Hof. Und wie fühlte sich
O’Kane dabei? Er war verärgert. Er brauchte all das nicht. Sie war
eine Wahnsinnige, eine Furie, dabei hatte er doch nur ein Mädchen
gewollt, etwas Unschuld, Sanftheit und die Wärme von ein bißchen
Liebe.
Eine Woche verstrich, und O’Kane marschierte
jeden Abend zu Fuß in die Stadt, neun Kilometer hin und neun
Kilometer zurück, um den Italienern aus dem Weg zu gehen, die sich
nach dem Abendessen auf dem großen Felsen im Obstgarten
versammelten, um dort Dame zu spielen, auf dem Akkordeon zu
musizieren und Grappa zu trinken; manchmal blieb er auch bis ein
oder zwei Uhr früh bei Nick und Pat und der leise schnarchenden
Hülse ihres Arbeitgebers sitzen, und er mied sein Zimmer, bis er so
kaputt vor Erschöpfung war, daß er es nicht länger meiden konnte.
Zu seiner Erleichterung gab es keine Kieselsteine mehr, keine
nächtlichen Überraschungen. Giovannella war verschwunden. Es war
vorbei. Und er versuchte sich gerade mit dieser traurigen Tatsache
abzufinden, fühlte sich leicht wehmütig und deprimiert dabei, als
eines schönen blumenbunten Samstagmorgens Baldessare Dimucci und
sein ältester Sohn Pietro in ihrem Mistkarren den langen Steinweg
zum Haus entlangrumpelten und vor der Garage parkten. Elsie Reardon
kam ihn holen. »Da wollen dich zwei Männer sprechen, Eddie«, sagte
sie und spähte durch die Gitterstäbe vor Mr. McCormicks Zimmer.
»Zwei Itaker.«
Als Hamilton ihn an diesem Abend nach
seiner Schicht in die Bibliothek rufen ließ, dachte sich O’Kane
nichts dabei – normalerweise wollte der Doktor bei solchen Terminen
die neuesten Fortschritte – oder deren Ausbleiben – von Mr.
McCormick erfahren, entweder das, oder er redete sich den Mund
fusselig über Julius’ Stuhlgang oder darüber, wie oft Gertie von
Jocko bestiegen worden war und ob Mutt ihnen zugesehen hatte. Aber
sobald er das Zimmer betrat, sah er Mrs. McCormick und ihre Mutter
dort sitzen wie die Scharfrichter, und auch das lange Gesicht des
Doktors ließ keinen Zweifel daran, daß ihm einiges bevorstand. Noch
ehe Katherine mit ihrer eisigsten Stimme sagte: »Guten Abend, Mr.
O’Kane, setzen Sie sich doch bitte«, die Mutter ihm
gewohnheitsmäßig ein rasch verblassendes Lächeln schenkte, der
Doktor sich betont räusperte und das Licht auf seinen
Brillengläsern Reflexe warf, so daß man die Augen nicht recht sehen
konnte, überlegte sich O’Kane, wie er den kleinen Zwischenfall im
Hinterhof erklären könnte, er konstruierte bereits mildernde
Umstände und bastelte an einer uneinnehmbaren Mauer aus
Halbwahrheiten, plausiblen Erfindungen und eklatanten Lügen.
Aus seiner Erfahrung mit Frauen – und diese
Erfahrungen waren vielfältig, ja geradezu umfassend – hatte er im
Laufe der Zeit gelernt, daß es immer am besten war, alles
abzustreiten. Das hatte er auch gegenüber Vater und Sohn Dimucci
versucht, aber die Dimuccis waren cholerisch und handelten
überstürzt, Endprodukte jahrhundertelanger Blutfehden und eines
unabänderlichen ländlichen Ehrenkodex, und sie wollten davon nichts
hören. »Eddie«, hatte der alte Mann so laut gebrüllt, daß jede
Seele innerhalb von tausend Metern ihn hören konnte, »hast du
geschändet meine Tochter Giovannella und jetzt du sie wirst
heiraten«, während sein Sohn, eins dreiundfünfzig und keinen
Zentimeter größer und mit einem Gesicht wie ein Fuchs in der Falle,
nur Heimtücke und Haß versprühte. O’Kane versuchte ihnen
klarzumachen, daß sie nicht mehr in Sizilien lebten, daß dies ein
freies Land und Giovannella eine erwachsene Frau sei und ebenso
Schuld trage wie er – sogar noch mehr, so wie sie immer in der
Küche herumstolzierte, bei allem und jedem die Unterlippe vorschob
und ihre Brüste herumbaumeln ließ wie reifes Obst in einem Beutel
–, doch als er das mit dem reifen Obst erwähnte, ging Pietro auf
ihn los, und er mußte ihn leider gegen die Hauswand drücken wie
einen aufgespießten Schmetterling.
Das Ganze gefiel ihm nicht. Er war kein
Monster. Er wollte niemandem weh tun. In seiner ganzen Zeit mit
Rosaleen war er nur zweimal vom geraden Pfad der Ehe abgewichen,
Giovannella nicht mitgezählt, und auch nur dann, als sie schon so
schwanger gewesen war, daß sie ihn nicht mehr befriedigen konnte
oder wollte. Sie weigerte sich, es ihm mit dem Mund oder auch nur
mit der Hand zu besorgen, ja sie war richtig empört deswegen, als
hätte er sie gebeten, den Papst zu erschießen oder ihre Seele dem
Teufel zu verkaufen oder sonstwas. Und beide Male hatte ihn
irgendein Judas verraten – er verdächtigte ihren älteren Bruder
Liam, der seine Nase ständig in anderer Leute Angelegenheiten
steckte, oder ihre Schulfreundin Irene Norman, die in Bisbys Imbiß
arbeitete und jeden Fetzen Klatsch aus der Stadt dreimal täglich
wiederkäute –, und Rosaleen hatte ihm die Hölle heiß gemacht, als
bräuchte sie noch einen Grund für ihre Wutanfälle. Er stritt alles
rundheraus ab. Sagte, wer immer ihr diesen Dreck ins Ohr geblasen
habe, müsse ein gemeiner, infamer Mensch sein, der es nicht wert
sei, daß man ihm zuhörte, aber Rosaleen schrie sich trotzdem die
Lunge aus dem Leib und verbeulte vor Wut sämtliche Töpfe und
Pfannen im Haus. »Gib es zu!« verlangte sie kreischend. »Gib’s doch
zu«, flüsterte sie nach einer durchwachten Nacht, in der sie
schluchzend neben ihm gelegen hatte, »gib’s zu, und ich verzeih
dir«, aber er wußte es besser, er wußte, daß er in jeder Minute
seines restlichen Lebens die Namen von Eulalia Tucker und
Bartholomew Piersons Frau Lizzie hören würde, wenn er auch nur ein
Wort sagte.
Jetzt aber, in der Bibliothek, umgeben von den
prächtigen, vielfarbigen Lederrücken Hunderter wunderschöner
Bücher, die Katherine in den vergangenen Wochen für den Tag der
Genesung ihres Mannes auf den Teakholzregalen angesammelt hatte,
war er plötzlich verlegen. Wieviel wußten sie? Wie wichtig war es
überhaupt? War er denn ihr Niggersklave, den sie wegen jeder
Kleinigkeit auspeitschen und tadeln und zurechtweisen konnten? Das
waren seine Gedanken, während er Platz nahm und versuchte,
Katherine in die Augen zu sehen, ohne den Blick zu senken und auf
seine Schuhe zu starren. In die nervenzerfetzende Stille, die nun
herrschte, hallte ein einsamer Affenschrei aus dem Wald herüber.
»Ja?« sagte er schließlich und übernahm damit die Initiative. »Kann
ich Ihnen helfen?«
Katherine richtete sich auf. Sie war in Samt
gekleidet, in einem königlichen Dunkelbraun, wie es Monsignore
O’Rourke immer zur Fastenzeit und im Advent angelegt hatte, dazu
ein passender Hut mit langen Reiherfedern. Ihre Haltung war wie
immer mustergültig, sie hielt Knie und Füße absolut gerade und
züchtig aneinandergepreßt, der Rücken war so aufrecht, daß er
nahezu konkav wirkte, das Kinn nach vorn geschoben und die Lippen
fest geschlossen. »Das können Sie allerdings«, sagte sie, und ihr
Blick ließ ihn nicht entkommen. »Vielleicht wären Sie so
freundlich, Mr. O’Kane, uns eine Erklärung für diesen Vorfall –
oder vielmehr diese Affäre – mit dem Bauernmädchen zu geben.«
Er versuchte ihrem Blick standzuhalten,
versuchte Unschuld und Demut auszustrahlen, die offene
Bereitwilligkeit, alles Menschenmögliche zu tun, um aufzuklären,
was im schlimmsten Fall ein Mißverständnis war, aber er konnte es
nicht. Ihre Blicke waren wie pfeifende Kugeln, Explosionen im
Dunkeln. Er sah zu der Mutter hinüber, die war jedoch in einen
persönlichen Traum abgeglitten, dann zu Hamilton, aber der äffte
nur Katherine nach. »Ach«, sagte er und probierte sein
gewinnendstes Lächeln, von dem seine Mutter meinte, es könne die
Herzen von Toten wieder zum Schlagen bringen, hob den Blick, um dem
ihren zu begegnen, und grinste, was das Zeug hielt, »eine ganz
unschuldige Geschichte ist das, eine Schulmädchenschwärmerei,
nichts weiter. Sehen Sie, das betreffende Mädchen hat eine Zeitlang
hier in der Küche ausgeholfen, während Mrs....«
Katherine unterbrach ihn. Sie schob die starre
Kleiderstange ihres perfekten Rückens und ihrer perfekten Schultern
so weit nach vorn, daß er meinte, sie müsse gleich splitternd
zerbrechen. »Ihnen ist doch klar, Mr. O’Kane, daß ich jetzt hier
bestimme?« fragte sie, und er nahm den ungeduldigen Beiklang in
ihrer Stimme sehr wohl wahr.
Es war nicht der Augenblick zum Improvisieren –
sie war die Dirigentin und er das Orchester. »Ja, Ma’am«, sagte er,
und er meinte das ernst. In den vergangenen Monaten hatte sie das
ganze Haus umdekoriert, die düsteren spanischen Gemälde, die
schweren schwarzen Möbel und das braune Steingut in die Dachkammer
über der Garage verbannt und durch Seestücke und Landschaftsbilder,
moderne Stühle und Sofas mit eckigen Kanten und niedrigen Lehnen
ersetzt, außerdem hatte sie neue Vorhänge ausgewählt, die das Licht
betonten und das Haus weniger wie eine Westküstenversion des McLean
Hospital aussehen ließen, sondern eher wie den Wohnsitz eines
wichtigen und geistig völlig gesunden Mannes, der an einer
leichten, schnell vorübergehenden Unpäßlichkeit litt. Sie hatte
einen neuen Obergärtner, einen Landschaftsarchitekten und ein
halbes Dutzend neue Itaker und Mexikaner angestellt. Und obwohl die
McCormicks immer noch Eigentümer des Hauses waren und Mr. McCormick
seiner Mutter eine monatliche Miete zahlte, liefen sämtliche
Entscheidungen, egal, wie banal sie waren, jetzt über Katherine.
Sie bestimmte hier. Darüber bestand kein Zweifel.
»Gut«, sagte sie, »ich möchte nämlich, daß Sie
daran denken, wenn Sie mir jetzt genau zuhören.«
O’Kane sah sich im Zimmer um. Der Doktor
rutschte verlegen auf dem Stuhl herum; die alte Lady lächelte
versonnen.
»Ich habe mit den Beteiligten gesprochen, Mr.
O’Kane – auf italienisch, um bei den Tatsachen absolute Klarheit zu
haben –, und ich finde Ihr Verhalten verwerflich. Sie haben mit der
Liebe dieser jungen Frau ein leichtfertiges Spiel getrieben, Mr.
O’Kane, ja schlimmer noch, Sie haben sie ausgenutzt – entehrt, wie
man so sagt. Glauben Sie denn, eine Frau sei nichts als ein Objekt,
Mr. O’Kane, ein Stück Fleisch, das nur auf dieser Welt ist, um Ihre
Gelüste zu befriedigen?Glauben Sie das?«
O’Kane hielt den Kopf gesenkt, innerlich jedoch
kochte er. Es war ihm verdammt egal, wer sie war, aber sie hatte
kein Recht – er war doch kein Sklave – er konnte tun und lassen...
»Nein«, sagte er.
Es gab eine Pause. Das Licht schillerte auf den
Buchrücken und dem Kristallglas auf der Anrichte. Die alte Lady,
Katherines Mutter, schien vor sich hin zu summen.
»Nun höre ich von Dr. Hamilton, daß Sie ein
hervorragender Pfleger sind«, fuhr Katherine mit gepreßter Stimme
fort, »und ich weiß selbst, wie sehr Sie sich meinem Gatten widmen,
aber glauben Sie mir, wenn dem nicht so wäre, ich würde Sie auf der
Stelle entlassen. Haben Sie verstanden?«
»Ja«, sagte er, und es war ein Quaken, er
quakte wie ein Frosch, wie etwas, das man einfach zertrat.
»Denn solange Sie für Mr. McCormick arbeiten,
sind Sie sein Repräsentant hier im Gemeinwesen, und Sie benehmen
sich gefälligst so, wie es seinen untadeligen moralischen Maßstäben
angemessen ist, oder Sie müssen sich anderweitig nach einer
Anstellung umsehen. Ganz zu schweigen davon – und das ist wohl der
traurigste Gesichtspunkt dieser ganzen Angelegenheit –, daß Sie
verheiratet sind. Sie haben vor Gott und den Menschen das
Ehegelöbnis abgelegt, Mr. O’Kane, und es gibt keine Entschuldigung
auf Erden dafür, daß Sie es gebrochen haben. Sie enttäuschen mich,
das tun Sie wirklich.«
O’Kane hatte dazu nichts zu sagen. Dieses
Miststück. Dieses hochnäsige Miststück aus dem feinen Boston
mischte sich einfach ein. Wie konnte sie es wagen, ihn wie einen
Pennäler herunterzuputzen? Unglaublich! Doch er hielt den Mund
wegen der Orangenbäume, wegen Mr. McCormick und der besten Chance
seines Lebens. Er würde es ihr zeigen. Eines Tages. Eines Tages
würde er das.
»Eines noch«, sagte sie und ließ sich nun
endlich in die bequeme Rückenlehne sinken, auch wenn ihre Füße
weiterhin wie an den Boden genagelt blieben. »Ich habe zwei
Fahrkarten zweiter Klasse auf den Namen Ihrer Frau kaufen lassen.
Ich erwarte sie Ende nächster Woche hier.«