Das Ende
Eine halbe Stunde hatten sie schweigend nebeneinander gesessen und aus dem Fenster gestarrt.
Auf einmal legte Mélanie ihre Hand auf Sébastiens Arm und sah ihn an. »Worüber denkst du nach? Etwas bedrückt dich, ich spüre es.«
»Über das Glück dachte ich nach.« Er nahm ihre Hand und küßte sie. »Darüber, daß jeder glückliche Augenblick mit einem Abschied verbunden ist, denn kein Moment, und sei er noch so schön, kehrt je wieder. Trotzdem werden wir nimmer satt, dem Glück nachzureisen, solange wir auf Erden sind.«
»Also leben wir auch für den Abschied so sehr wie für das Glück?«
»Wir müssen beides nehmen, das ist alles, was ich sagen wollte.«
Plötzlich zog er sie an sich. Er küßte ihre Stirn, ihre Augen, ihre Lippen. Dann legte er eine Hand auf die Kiste, die neben ihr stand und die sie seit ihrer Abreise nicht einen Moment aus den Augen gelassen hatte. »Hierin ist Samuels Lebenswerk aufbewahrt. Du hast es verteidigt wie eine Löwin ihre Jungen, hast darin deine Lebensberechtigung gesehen, doch wofür wir tatsächlich gelebt haben, wissen wir doch erst im Augenblick des Todes.« Er sah sie zärtlich an. »Ich liebe dich, Mélanie. Ich weiß, dein Herz gehört allein Samuel, aber das schmälert meine Liebe nicht. Im Gegenteil – vielleicht liebe ich dich gerade darum so sehr, weil du dir und ihm ein Leben lang treu geblieben bist. Selbst in jener Nacht, als du in meinen Armen vielleicht ein ganz klein wenig glücklich warst, bist du ihm treu geblieben.« Er nickte. »Ich glaube, das war es auch, was deine Widersacher so sehr gegen dich aufgebracht hat. Neid wächst aus der Sehnsucht nach Liebe und wird zu Haß, wenn sie unbefriedigt bleibt. Haß, der sich gegen diejenigen wendet, von denen man spürt, daß sie haben, was man vergeblich sucht.«
»Und du – warum warst du nie neidisch, wo du mich doch vergeblich geliebt hast?«
»Aber ich habe dich nicht vergeblich geliebt. Meine Liebe zu dir war immer in meinem Herzen. Nicht du und nicht Samuel hat sie mir je verboten, und ihr hätte sie mir auch gar nicht verbieten können. Lieben ist etwas, das bei dir geschieht. Und ich wußte ja immer, du liebst mich auch … so sehr du es eben konntest.«
Sébastien hätte noch mehr zu sagen gehabt, doch draußen war Geschrei zu hören. Die Kutsche hielt an.
»Aussteigen!« brüllte jemand.
Die beiden sahen nach draußen und erkannten ihre mißliche Lage. Sie waren am Bach angelangt. Ein junger Bursche von höchstens sechzehn Jahren stand, mit einer Mistgabel bewaffnet, vor der Kutsche, ein anderer, älter und mit einem Gewehr im Anschlag, seitlich dahinter. Sie waren beide blond wie die Frau auf dem Hof, und auch ihre Gesichter verrieten ihre Ähnlichkeit mit der Frau. Die Kutsche stand auf der Brücke, die so schmal war, daß rechts und links höchstens noch eine Elle Platz blieb und man sich nur mit äußerster Mühe herauszwängen konnte. Jeder Gedanke an Flucht war vollkommen aussichtslos.
Auf einmal sah Sébastien alles klar vor sich. Daß das blonde Miststück ihm diesen Weg gewiesen hatte, war eine Falle gewesen. Die beiden Männer, vermutlich ihre Brüder, hatten sich, während sie die Pferde tränkten, aus dem Haus geschlichen, um ihnen hier aufzulauern und sie auszurauben.
Noch etwas wurde Sébastien sekundenschnell klar. Er kannte den Hof, er würde ihnen die Polizei auf den Hals hetzen, damit mußten sie rechnen. Also konnten die Männer sie unmöglich laufenlassen. Sie würden sie umbringen, so oder so.
Sébastien öffnete die Tür und zwängte sich aus der Kutsche. »Tut mir leid, aber meine Frau kann hier nicht aussteigen, sie hat nur ein Bein. Ich müßte sie aus der Kutsche heben, doch dafür ist es auf der Brücke zu eng.«
Der ältere schien nachzudenken. »Merde«, zischte er. Dann deutete er mit dem Gewehr nach den aufgeladenen Kisten. »Was habt ihr da drin?«
»Nur Papiere – Krankenjournale.« Sébastien ging langsam nach hinten auf den Mann zu.
»Erzähl keinen Mist, verdammt!« Der Mann spuckte aus. »Und bleib stehen! Warum hättet ihr ein paar blöde Krankenjournale wohl mit Schlössern und Ketten gesichert?«
Sébastien zuckte die Schultern. »Damit wir sie nicht jede Nacht abladen müssen.« Er drehte sich kurz um. Immer noch stand der junge Bursche vor der Kutsche und hielt die Mistgabel auf die Pferde gerichtet.
»Schlüssel her!« schrie der ältere und fuchtelte wieder mit seinem Gewehr herum.
»Den Schlüssel hat mein Kutscher. Ich hole ihn.« Sébastien hob die Hände zum Zeichen, daß er nicht vorhatte, irgend etwas zu unternehmen.
»Aber laß dir ja nichts einfallen, sonst säbeln wir deiner Frau auch noch das zweite Bein ab und werfen es unseren Hunden zum Fraß vor!« Er fing an zu lachen. »Und sag deinem verdammten Kutscher, daß ich dich genau im Visier habe. Eine unbedachte Bewegung, und ich mache kurzen Prozeß mit dir!«
Sébastien behielt die Hände oben. Er fixierte Jacques mit Blicken und sagte so laut, daß der Junge ihn verstehen konnte: »Gib mir die Schlüssel; reich sie mir vorsichtig herunter, denn wenn du sie wirfst, könnten sie ins Wasser fallen.«
»Ja, Herr.« Jacques zitterte, als er die Tasche öffnete, die er umhängen hatte. Er holte einen Bund heraus und beugte sich zu Sébastien hinab, der nun sehr leise sprach.
»Wenn ich schieße, dann fährst du, verstanden? Du fährst einfach los, egal, was vor oder hinter dir geschieht. Und du bringst Madame Hahnemann nach Deutschland.«
»Ja, Herr.«
»Was flüstert ihr da!« schrie der mit dem Gewehr.
Sébastien hielt die Hand hoch. »Nichts – ich habe die Schlüssel.« Er ging noch einen Schritt weiter nach vorne auf den Jungen zu, und dann holte er plötzlich aus und warf den Bund weit von sich in den Bach.
Ein paar Schrecksekunden lang starrten die Brüder dem Schlüsselbund nach. Es war wie ein Reflex, sie mußten sehen, wohin er fiel, denn wie sollten sie ihn sonst wiederfinden. Diese Sekunden der Unachtsamkeit nutzte Sébastien. Er zog die Pistole, die er unter der Jacke im Gürtel stecken hatte, und schoß auf den Jungen. Zugleich schrie er: »Los – fahr, Jacques! Los!«
Der Junge war am Arm getroffen. Er ließ die Mistgabel fallen und taumelte zur Seite. Jacques knallte mit der Peitsche. Eines der Pferde stieg im Geschirr, doch dann preschten sie los.
»Hüh – hüh-hot!« Jacques schlug erbarmungslos auf die Tiere ein.
Der ältere der Männer, aufgeschreckt und voller Haß, schoß zuerst der Kutsche nach, dann auf Sébastien. Die Kugel traf ihn über dem Herzen. Er brach zusammen und blieb auf dem Rücken liegen.
Durch das Blattwerk der Bäume sah Sébastien über sich den Himmel. Er war wolkenlos und blau. Die Bäume drehten sich; ein rasendes Kaleidoskop. »Kein Glück ohne Abschied«, dachte er. Dann wurde es schwarz um ihn. Ein Lächeln lag auf seinem Mund – er hatte sein Leben für Mélanie geopfert.
Eine schier endlos scheinende Ewigkeit raste die Kutsche dahin, bis Jacques es endlich wagte, sich in die Zügel zu stemmen und die Rösser anzuhalten. Zitternd und mit schäumender Brust standen die Pferde da und atmeten stoßweise aus geblähten Nüstern. Jacques drehte die Bremse ein und kletterte vom Bock, dann öffnete er die Tür des Wagens, um nach Mélanie zu sehen.
»Gott sei's gedankt, es ist Ihnen nichts geschehen!« Er zog den Hut und schlug ein Kreuz. »Wir sind in Belgien, Madame.«
Mélanie starrte ihn kreidebleich an. »Warum bist du ohne ihn gefahren?«
»Er hat es so befohlen.«
»Er hat es so befohlen …«, wiederholte Mélanie flüsternd.
Sie legte ihre Hand auf die Kiste, in der das Manuskript aufbewahrt war, und schloß die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. »Kein Glück ohne Abschied«, sagte sie leise, »wie kann ich dir je danken, Sébastien.«