Der Abschied

Es war ein wunderschöner Frühsommertag. Kinder tobten lachend durch den Nachbargarten, die Sonne spiegelte sich in den Fenstern der Häuser, und auf der Ulme im Hof saß eine Amsel und sang mit Leidenschaft ihr Lied. Doch Mélanie nahm all dies nur am Rande war. Es konnte doch nicht sein, daß die Welt sich einfach immer weiterdrehte, während Samuel starb? Es war unmöglich, daß Menschen sich liebten, tanzten, lachten und er seine letzten Atemzüge tat! Bestimmt war alles nur ein böser Traum!

Doch Dr. Chatron ließ keinen Zweifel offen. »Ihr Mann wird sterben«, sagte er. »Ein, vielleicht zwei Tage noch, mehr Zeit bleibt ihm nicht mehr.«

»Aber …« Mélanie hatte Tränen in den Augen. »Dann geben wir ihm die falsche Arznei!«

»Nein, Madame, machen Sie sich nicht länger etwas vor. Hahnemanns Lebenskraft ist so geschwächt, daß keine Medizin mehr helfen kann. Wenn es noch etwas zu regeln gibt, tun Sie es jetzt. Nehmen Sie Abschied, lassen Sie ihn gehen.«

»Aber ich kann ihn doch nicht aufgeben!«

»Meine Mutter sagte, einen Sterbenden darf man nicht festhalten, weil seine Seele sonst zwischen den Welten gefangen bleibt. Aber gleichgültig, ob Sie an solche Dinge glauben oder nicht – quälen Sie Dr. Hahnemann nicht, Madame, machen Sie es ihm nicht unnötig schwer.«

Mélanie entriß ihm ihre Hände, die Dr. Chatron genommen und festgehalten hatte, und lief davon. Im Ordinationszimmer brach sie schluchzend auf dem Sessel zusammen, in dem Samuel sonst seine Patienten empfing. Nicht einmal neun Jahre wären ihnen vergönnt gewesen, müßte Samuel jetzt sterben!

Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrem Arm. Sie hob den Kopf, es war Charles. Mit tränenverschleiertem Blick sah sie ihn an. »Dr. Chatron behauptet, daß Samuel sterben wird!«

»Ich weiß. Er hat es mir schon gestern gesagt.«

»Aber ich kann es nicht glauben! Vielleicht sollten wir ihm Aconitum geben … oder …«

»Quäl dich nicht!« Charles nahm sie in die Arme. Eine Weile ließ sie es zu, dann schob sie ihn von sich.

»Du mußt sie holen – Amalie und Leopold.« Sie wischte sich die Tränen ab. »Ich werde Samuel sagen, daß sie in Paris sind.« Sie stand auf, richtete sich das Haar, strich sich das Kleid glatt und verließ das Zimmer.

Samuel schlief. Sie setzte sich an sein Bett, nahm seine Hand und lauschte auf das Rasseln in seinen Bronchien. Ein plötzlicher Hustenanfall ließ ihn sich aufbäumen. Er hustete, bis er erschöpft wieder in die Kissen sank. Dann sah er sie betrübt an.

»Aber du hast ja geweint, mein Engel!«

»Es fällt mir schwer, dich so krank zu sehen«, sagte sie. »Du mußt bald wieder gesund werden!«

»Ich werde nicht wieder gesund – ich werde sterben.«

Sie öffnete die Lippen, um etwas zu entgegnen, aber er legte seine Hand auf ihren Mund. »Wir waren stark genug für die Herausforderungen, die das Leben an uns stellte, jetzt sollten wir auch stark genug für den Tod sein!«

Mélanies Lippen zitterten, ein Schluchzen drang aus ihrem Mund.

»Du mußt mir versprechen, nicht aufzuhören, für unsere Sache zu kämpfen. Ich werde kaum unter der Erde sein, und schon werden sie versuchen, meine Lehre zu untergraben. Wie die Wölfe werden sie über alles herfallen und es zerreißen. Aber du darfst es nicht zulassen, du mußt ihnen die Stirn bieten! Sie dürfen nicht die Oberhand gewinnen, diese Halbhomöopathen! Du mußt …«

Wieder quälte ihn ein Hustenanfall. Als es endlich vorbei war, fühlte er sich so geschwächt, daß er kaum noch sprechen konnte. Er griff Mélanies Hand und sah sie beschwörend an. »Und du darfst auf gar keinen Fall aufhören zu behandeln, versprich mir das!«

»Aber …« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du weißt, daß sie es nicht zulassen werden. Ich bin eine Frau! Die Ärzte werden mich hassen, wenn ich tue, was sie tun.«

»Was kümmert dich das? Tue, was ich will! Du mußt kämpfen. Du bist stark, und nur durch dich kann alles fortbestehen.«

Sie schmiegte ihr heißes, tränennasses Gesicht in seine geöffnete Hand und seufzte. »Gut, ich verspreche es dir. Ich werde einen Weg finden …«

Mélanie legte sich zu ihm aufs Bett, nahm seine Hand und hielt sie fest an ihre Brust gedrückt. So schliefen sie beide ein.

Nach einer Weile klopfte es. Mélanie schrak aus unruhigen Träumen hoch, kroch aus dem Bett und richtete sich das Haar. »Es werden Amalie und Leopold sein – denk dir nur, Liebster, sie sind aus Deutschland angereist, wollten dich unbedingt sehen!« Sie versuchte ihrer Stimme einen möglichst unbefangenen Beiklang zu geben. »Ja, bitte!«

Rose trat ein. »Frau Dr. Süß-Hahnemann und ihr Sohn aus Deutschland sind nun da, Madame.«

»Danke, Rose.«

Amalie und Leopold erschienen in der Tür. Die Mutter hatte sich in Schwarz gekleidet, dafür hätte Mélanie sie erwürgen können. Der Junge war blaß und schweigsam wie immer. Schüchtern sah er von ihr zu seinem Großvater, schlug dann die Augen nieder und trat hinter Amalie ans Krankenbett.

»Na, das ist mir aber eine Überraschung.« Samuel lächelte, hob seiner Tochter die Hand entgegen. Amalie ergriff sie und preßte sie an sich.

»Wir sind schon einige Tage in Paris, aber deine …« Sie stockte, suchte nach einer Bezeichnung für Mélanie. »Aber Madame meinte, es ginge dir nicht gut genug, uns zu sehen.«

»Meine Frau hatte recht. Ich war nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen.« Samuel drückte Amalies Hand. »Ich bin es auch jetzt noch nicht, aber es wird wohl zu Ende gehen mit mir, und wir können keine bessere Verfassung mehr abwarten.«

»Vater, so dürfen Sie nicht reden.«

»Es ist, wie es ist.« Samuel winkte Leopold zu sich. »Na, mein Junge – du mußt Leopold sein!«

»Ja, Großvater.«

»Als ich dich das letzte Mal sah, warst du sieben, und du hattest dir gerade einen rostigen Nagel in den Fuß getreten.«

»Das ist inzwischen verheilt, Großvater.«

Samuel lächelte. »Na, das will ich doch hoffen. Und was hast du vor mit deinem Leben?«

»Ich gehe auf die Lateinschule, und dann werde ich Homöopath wie Sie.«

Samuel nickte. »Das ist gut, aber dann mußt du mir auch versprechen, nichts zu vermischen und ganz im Sinne deines Großvaters zu behandeln.«

»Ich verspreche es, bei meiner Ehre.«

»Und wenn du Hilfe brauchst, wende dich getrost an meine liebe Frau. Sie ist der beste Homöopath, den ich kenne!«

Amalie sah Mélanie kühl an, und es war klar, daß eher der Arc de Triomphe auf den Kopf gestellt werden würde, bevor das passierte.

Mélanie brachte zwei Stühle und stellte sie an Samuels Bett. Dann verließ sie das Zimmer und ließ Rose Tee und Kekse servieren. Sie selbst ging in ihren Salon, setzte sich an den Schreibtisch und starrte blicklos vor sich hin. Sie fühlte sich so leer, so ausgelaugt und verloren.

Wie mechanisch griff sie nach der Mappe, die auf dem Tisch lag. Ihre Hand fuhr zärtlich über das dunkelgrüne Leder, auf das in goldenen Lettern ihr Monogramm geprägt war. Samuel hatte sie ihr zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt, und sie bewahrte noch unbeantwortete Briefe darin auf.

Sie zog die Mappe zu sich und öffnete sie. In einem Seitenfach befand sich ein Billet, es war der letzte Neujahrsgruß von Samuel. Sie nahm es heraus, faltete es auf und las es.

Meine liebste Mélanie!

Ich kann nur immer wieder sagen, daß ich Dich von Herzen liebe, so sehr, wie ich in meinem ganzen heben noch nie jemanden geliebt habe. Als Frau und als Mensch übertriffst Du alles, was ich mir je für mich erhofft und vorgestellt habe, und Du bist so sehr meine Liebe, daß es mich manchmal schmerzt. Dein ganzes Wesen entspricht so genau dem, was ich in mir selbst spüre, daß wir eins geworden sind, und darum kann uns nichts und niemand je trennen. Selbst über den Tod hinaus werden wir verbunden bleiben, jetzt und immer, bis in alle Ewigkeit –

Du, mein Herz, mein Leben, meine Liebste.

Mit zitternder Hand ließ Mélanie das Blatt auf ihren Schoß sinken. Plötzlich nahm dieser Neujahrsgruß eine ganz andere Bedeutung an. Sie hatte ihn als Beteuerung seiner Liebe gesehen, aber nun wußte sie, es war bereits ein erster Abschied gewesen. Eine Ahnung war zwischen den Zeilen zu lesen, als wollte Samuel ihr Mut machen und Trost schenken für die schwere Zeit, die ihr bevorstand.

Ein Schluchzen zerriß die Stille. Mélanies Tränen fielen auf den Brief und verwischten die Tinte. Sie legte ihn auf den Tisch und schlug beide Hände vors Gesicht.

Als sie in Samuels Zimmer zurückkehrte, war mehr als eine Stunde verstrichen. Samuel war erschöpft eingeschlafen, Amalie und Leopold waren bereits gegangen. Mélanie legte sich wieder zu ihm und hielt seine Hand. Es war still, nur das Ticken der Uhren war zu hören, die Samuel mit so viel Liebe gesammelt hatte und die auf allen Simsen standen.

Gegen Mitternacht wurde Samuel wieder wach. Er beugte sich zu Mélanie und küßte sie zärtlich auf den Mund. Sie schlug sofort die Augen auf.

»Brauchst du etwas?«

»Nur dich, Liebste.« Es war dunkel im Zimmer, sie konnte ihn nicht sehen, aber sie wußte, er lächelte für sie.

»Du mußt mir noch etwas versprechen. Du darfst die sechste Auflage des Organon nicht veröffentlichen. Nicht jetzt! Es ist zu früh, die Zeit ist noch nicht reif. Wenn sie erfahren, wie hoch wir potenziert haben, werden sie von Demenz und Altersschwachsinn reden und mich für verrückt erklären! Du mußt warten, bis andere Leute den Acker gepflügt haben, bevor du meine Samen säst, und dauert es noch so lange.«

»Ich verspreche es dir.«

»Du versprichst es mir an meinem Totenbett! Es ist mein Letzter Wille!«

Tränen traten über den Rand ihrer Wimpern. »Ja, Liebster – ja, ich verspreche, ich werde erst veröffentlichen, wenn die Zeit reif ist dafür!«

»Das bedeutet, daß auch die Krankenjournale bei dir verbleiben müssen. Hüte sie wie einen Schatz – es ist mein Lebenswerk.«

»Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ja, das weiß ich.« Seine Lippen suchten ihre. »In dir hat sich alles erfüllt. Kein Mann kann glücklicher sterben.«

Sie umarmten sich und hielten sich fest, bis sie wieder einschliefen.

Noch einmal, im Morgengrauen, wurde Samuel wach. »Wir müssen auch darüber sprechen, was mit mir geschehen soll, wenn ich gestorben bin«, sagte er seiner verzweifelten Frau. »Ich will keine pompöse Bestattung und nicht das heilige Geschwafel eines Priesters. Ich will mein Leben beschließen, wie ich es immer gelebt habe. Ohne Aberglaube, im Spiegel der Vorsehung.« Die Brust wurde ihm eng, er rang nach Atem, hustete bis zur Erschöpfung, sank dann wieder in die Kissen zurück und sah Mélanie an. »Non inutilis vixi  – ich habe nicht umsonst gelebt – das sollst du auf mein Grab schreiben.«

»Ja – ja, das werde ich tun.« Weinend hielt sie ihn fest, preßte ihre Stirn gegen seine kühle Wange und seine Hand an ihre Brust.

»Weißt du noch, wie du einmal für mich gesungen hast … Eine Arie aus einer Oper. Mir ahnt, hier liegt ein Geheimnis verborgen …«

»Es war aus Die weiße Dame.«

»Ja, die weiße Dame – auch der Tod ist ein Geheimnis. Unser letztes. Ich werde es jetzt ergründen.«

»Samuel …«

»Sing ein Lied für mich, dieses Lied. Ich will nicht traurig von dir gehen.«

Bilder tauchten aus Mélanies Erinnerung auf. Auch damals, als sie zu Samuel fuhr, war ein Mensch in ihren Armen gestorben. Sabine, dieses liebe, schattenhafte Wesen, so zerbrechlich und voller Sehnsucht nach einer anderen, glücklicheren Welt. Und auch damals hatte sie ein Lied gesungen.

Mit erstickter Stimme begann sie: »Mir ahnt, hier liegt ein Geheimnis verborgen …«

Er schlief wieder ein. Sie lag neben ihm und lauschte wie gebannt auf das Rasseln seiner Bronchien. Mein Gott, du darfst nicht sterben! Vielleicht gibt es doch noch eine Rettung … vielleicht finden wir doch noch eine Arznei …

Die Uhren tickten.

Die Amsel im Garten trällerte ihr Lied.

Das Rasseln verstummte. Einfach so. Kein Hustenanfall mehr. Kein letztes Aufbäumen. Ein Herzschlag und dann keiner mehr. Christian Friedrich Samuel Hahnemann war eingeschlafen – diesmal für immer.

Seine Frau lag neben ihm. Stumm. Leer. Verloren. Ihre Tränen waren versiegt, das Herz blutete. Er war alles für sie gewesen, und er hatte sie verlassen.