Das Urteil

Auch Rose wollte mit zur Urteilsverkündung kommen. Weinend flehte sie Mélanie an. »Bitte, Madame, haben Sie Mitleid. Zu Hause würde ich krank werden vor Angst!« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, dann fiel sie Mélanie schluchzend in die Arme.

Was hatte ihre geliebte Herrin in den letzten Jahren doch alles erleiden müssen. Vor Trauer ist sie fast verrückt geworden! Belogen und betrogen hatte man sie! Freunde hatten sich von ihr losgesagt, und ihr Hab und Gut mußte sie verkaufen, um existieren zu können. Bilder, Möbel, Schmuck, sogar Dr. Hahnemanns Uhren verschwanden nach und nach aus der Wohnung, damit sie zu essen hatten. Dazu ständig die erbitterten Anfeindungen aus allen Lagern. Die Ärzte griffen sie an, weil man verhindern wollte, daß sie praktizierte. Aus den Reihen der Homöopathen wurden immer unflätigere Beschimpfungen laut. Egoistisch, selbstsüchtig und boshaft nannte man sie. Fast vier Jahre nach Dr. Hahnemann Tod sei es doch endlich an der Zeit, die Manuskripte und Patientenberichte ihres Mannes zur Veröffentlichung freizugeben. Auf die Trauer und die Gefühle ihrer Herrin nahm niemand Rücksicht.

»Na gut, dann kommst du eben mit zum Gericht!« erklärte sich Mélanie einverstanden.

Die alte Haushälterin bedankte sich. Sie wischte sich die Tränen ab, setzte ihren Hut auf, zog ihr Cape über und griff nach ihrem Regenschirm. »Dann können wir jetzt gehen, Madame!«

Charles öffnete die Tür, ließ den beiden Frauen den Vortritt. Vor dem Haus wartete Sébastien mit einer Mietdroschke. Schweigend fuhren sie zum Gericht.

Mélanie wurde bereits von ihrem Anwalt erwartet, Rose folgte Charles und Sébastien in den Gerichtssaal. An der Tür stießen sie mit einem Mann zusammen, den Rose kannte. Es war Dr. Pierre Doyen – dieser gemeine Mensch, der Madame Hahnemann und Monsieur Sébastien durch eine Intrige bloßgestellt hatte. Finster starrte sie ihn an. Auch Sébastien ging grußlos an seinem Onkel vorbei.

Als der Richter und all die anderen Männer in ihren ehrfurchtgebietenden Roben hereinkamen, konnte Rose nicht anders, sie griff nach Charles' Hand. Früher hatte sie ihn ›mein Junge‹ genannt; seit er sechzehn war, sagte sie ›Monsieur‹ zu ihm. Nun vergaß sie alle Konventionen und hielt sich mit klopfendem Herzen an ihm fest. Sie hatte ein halbes Leben für ihn gesorgt, nun mußte er eben einmal für sie dasein.

Von alldem, was der Richter sagte, verstand Rose nicht viel. Ihr Blick ruhte auf Mélanie. Wie sie da so stolz und doch verloren auf ihrem Stuhl saß und das alles klaglos über sich ergehen ließ, zerschnitt ihr das Herz.

Schließlich mußten die Leute im Saal aufstehen, und der Richter verkündete das Urteil. Von Recht und Gesetz sprach er, vom Staat Frankreich, dem König, den Bürgern – und dann sagte er das, wovor Rose sich so sehr gefürchtet hatte: »Madame Mélanie Hahnemann wird entsprechend der Anklage für schuldig befunden!«

Schuldig, hämmerte es in Roses Kopf nach. Schuldig! »Mon Dieu!« Ein leiser Aufschrei drang aus ihrer Kehle.

»… und zu einer Geldstrafe von 100 Francs verurteilt.«

Die Verblüffung im Saal war so groß, daß es im ersten Moment mucksmäuschenstill war. Für schuldig befunden! Das Herz raste Rose noch immer vor Angst und Empörung! Doch dann diese lächerliche Summe von 100 Francs? So viel hatte Monsieur von den reichen Leuten unter seinen Patienten für eine erste Anamnese genommen, und ein Jahresabonnement einer Zeitung kostete auch nicht mehr.

Auf einmal brach Jubel los. Es war in die Köpfe der Anwesenden durchgedrungen, daß zwar eine Strafe gegen Madame Hahnemann verhängt wurde, daß diese Strafe aber mehr symbolischer Art war. Kein Urteil – ein Kompromiß! Ein übler Kompromiß in den Augen derjenigen, die Madame am liebsten die Pest an den Hals gewünscht hätten, aber von denen gab es nicht mehr viele hier. Die anderen, die Anhänger Madame Hahnemanns, waren längst in der Überzahl.

Mélanie drehte sich um und sah zu ihnen her. Rose schlug beide Hände vors Gesicht und wußte nicht, ob sie vor Freude weinen oder lachen sollte. Plötzlich wurde sie von Monsieur Charles an sich gerissen. Er hob sie hoch und drehte sie einmal herum. Monsieur Sébastien, der vor lauter Nervosität die ganze Zeit über seinen Hut geknetet hatte, warf das malträtierte Stück hoch, juchzte dazu und fing es wieder auf. Erst Richter Borels berüchtigter Hammer machte dem Tumult ein Ende. Dreimal klopfte er auf den Tisch.

»Ruhe! Das Gericht hat noch etwas zu sagen!« Borel nahm Platz, alle anderen setzten sich ebenfalls. Dann sah er Madame Hahnemann eindringlich an. »Ich hoffe, Madame, Sie haben verstanden. Sie haben sich strafbar gemacht, und bei einer neuerlichen Mißachtung des Gesetzes wird kein Gericht Frankreichs noch einmal so viel Nachsicht mit Ihnen üben. Sie sollten sich das durch den Kopf gehen lassen. Werden Sie vernünftig – heiraten Sie, oder tun Sie sonst etwas, das Ihnen sinnvoll erscheint. Aber praktizieren Sie nicht mehr!«

Er legte den Hammer, den er noch immer in der Hand hielt, auf den Tisch, rückte kurz an seiner Perücke, stand dann auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Saal. Rose konnte nicht anders, sie fiel Charles um den Hals und küßte ihn mitten auf den Mund.

Mélanie zog den Mantel aus, setzte die Schute ab, legte beides auf einen Stuhl und ging in den Salon. Charles und Sébastien folgten ihr, Rose verschwand in die Küche, um Tee aufzubrühen.

»Und nun?« Mélanie stand am Fenster. Als Sébastien die Tür hinter sich zugezogen hatte, drehte sie sich um und sah die beiden Männer an. »Sagt mir – was nun?«

»Aber du freust dich ja gar nicht!« Sébastien faßte sie an den Schultern und schüttelte sie sanft. »Alles ist glimpflich abgelaufen! Du hättest Grund zu feiern!«

»Feiern!« Sie lachte hart auf, dabei hatte sie Tränen in den Augen. »Man sperrt mich nicht ein, aber ich habe auch nichts mehr, was meinem Leben einen Sinn geben könnte. Nicht einmal meine geliebte Arbeit ist mir geblieben – das einzige, das mich ein wenig über Samuels Tod hinwegtrösten konnte. Wovon soll ich existieren? Wer bin ich jetzt noch? Eine Frau, der man Hände und Füße gebunden hat, um sie dann in die Wüste zu schicken!« Sie warf beide Arme hoch und äffte den Richter nach. »›Heiraten Sie! Oder tun Sie sonst etwas, das Ihnen sinnvoll erscheint!‹ Als ob es sinnvoll sein könnte, sich einem ungeliebten Mann an den Hals zu werfen!«

Sie war wütend hin und her gelaufen. Plötzlich blieb sie stehen und raufte sich die Haare. »Ach, zum Teufel mit euch Männern!«

Sébastien trat hinter sie, drehte sie zu sich um und sah ihr tief in die Augen. »Und wenn es einer wäre … wenn es eine Verbundenheit wäre, die aus gegenseitiger Achtung bestünde? Du weißt, was du mir bedeutest.«

Mélanie öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Lange schwieg sie, dann hob sie plötzlich die Hand und fuhr Sébastien zärtlich durchs Haar. »Nein, mein lieber, guter Freund – nein, gerade darum nicht! Weil ich dich achte. Weil du mir neben Charles das wertvollste bist. Weil man die schönste Blume im Garten nicht schneiden darf, um sie ins Haus zu holen. Denn damit zerstört man sie.«

Sébastien senkte den Kopf. Mélanie legte eine Hand in seinen Nacken und sagte: »Ich liebe dich. Du bist mein Bruder, mein Freund, mein Vertrauter, du bist Hoffnung und Kraft für mich. Würde ich dich zu meinem Mann machen, würde ich das alles zerstören.« Sie seufzte und fügte flüsternd an: »Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich weiß nur, daß ich von der Homöopathie nicht lassen kann. Was wäre schon ein Adler ohne Flügel? Was wäre schon ein Anfang ohne ein Ende …«