Patientenberichte

Zehn Tage nach diesem Gespräch fuhr Sébastien Colbert bei den Hahnemanns vor. Es war erst neun Uhr morgens, doch zu seinem großen Erstaunen warteten bereits einige Wagen vor dem Haus. Sébastien wurde von einem Diener empfangen und in einen Salon gebracht, in dem ein Herr und zwei Damen saßen.

»Bonjour Mesdames, Monsieur«, grüßte er.

»Bonjour, Monsieur.«

Sébastien setzte sich. Eine der Damen erkannte er. Sie hieß Cora Mowatt, war Amerikanerin und eine erfolgreiche Schauspielerin. Sie unterhielt sich leise und in englischer Sprache mit dem Herrn, der rechts von ihr saß und den sie Lord Elgin nannte. Er erzählte ihr, daß ihn die meisten seiner Freunde für verrückt erklärten, weil er sich weiterhin von Dr. Hahnemann behandeln ließ.

»Diese Leute sehen nur, daß sich meine Gesichtsneuralgie aufgrund der Behandlung verschlimmert hat, ohne zu verstehen, daß dies ein gutes Zeichen ist.«

Cora Mowatt sah ihn zweifelnd an. »Ich muß zugeben, daß es auch mir nicht leichtfällt, ein gutes Zeichen in einer Verschlimmerung zu erkennen.«

»Dann sind Sie also zum ersten Mal in homöopathischer Behandlung und wissen noch nichts über diese Methode?«

Sie nickte. »Ich kam auf Empfehlung her. Ein Mr. Leaf, Teehändler aus London, machte mir Hoffnung, daß ich in Dr. Hahnemanns Obhut von einer immer wiederkehrenden Entzündung meiner Stimmbänder geheilt werden könnte. Er sagte: ›Fahren sie zu Hahnemann – bei Hahnemann stirbt man nicht!‹«

Lord Elgin lachte. »Ich kenne Leaf. Sein Humor ist mitunter etwas makaber.«

»Wenn ich nun allerdings sehe, daß Ihr Problem durch die Behandlung noch schlimmer geworden ist …«

»Aber meine Liebe, zum ersten muß durch die Behandlung nicht unbedingt eine Verschlimmerung eintreten, und zum zweiten ist so eine Verschlimmerung im allgemeinen nur kurzzeitig und vorübergehend. Stellen Sie sich eine Blume vor. Die Knospe stellt die Krankheit dar. Die Medikamentengabe wirkt wie Dünger, sie bringt die Knospe dazu, sich zu öffnen und in Windeseile zu verblühen. Meist fällt die Krankheit dann schon im Verlauf weniger Tage wie ein welkes Blatt von einem ab. Die Allopathie hingegen brächte im selben Fall nicht mehr zustande, als die Knospe zu verätzen und mit ihr auch den Stiel, die Blätter und bald die Wurzeln. Ich kenne einige Leute, die von all den Quecksilber- oder Arsenpräparaten, die sie bekamen, vergiftet wurden und statt gesund nun erst recht krank sind. Glauben Sie mir, da sind mir ein paar Tage, in denen die Krankheit sich verstärkt zeigt, bedeutend lieber.«

Im selben Moment ging eine der Türen auf, und eine hochgewachsene, blonde Frau erschien in Begleitung einer alten Dame, die am Stock ging und sich nur mühsam fortschleppen konnte.

Als die Blonde die Alte an der gegenüberliegenden Tür verabschiedet hatte, sah sie sich unter den Wartenden um.

Sébastien stand auf, verneigte sich vor ihr und reichte ihr seine Visitenkarte. »Ich hoffe, Dr. Hahnemann hat Zeit, mich zu empfangen.«

»Wenn Sie Zeit haben zu warten«, entgegnete die Frau.

Für einen Moment ruhte ihr Blick auf Sébastien, dann nickte sie ihm zu und bat schließlich Lord Elgin, ihr in das Ordinationszimmer zu folgen.

Sébastien sah ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Wenn das, wie er vermutete, Madame Hahnemann war, hatte Doyen ihm nicht zuviel versprochen. Sie war eine elegante Schönheit, mit der er sich gerne ein paar angenehme Stunden gönnen würde.

Einige Minuten war es still im Salon. Dann erschien ein junger Mann – groß und schlank, dunkelblond, mit wachen dunklen Augen und sehr modisch gekleidet. Er grüßte und verschwand, ohne anzuklopfen, in einem Nebenraum.

Cora Mowatt richtete sich an die Frau, die links von ihr saß, eine Mrs. Erskine aus Schottland, wie sich bald herausstellte. Sie sprach französisch mit einem leichten Akzent.

»Ein gutaussehender junger Mann – gehört er zur Familie?«

»Es ist Charles Lethière, der Ziehsohn von Madame Hahnemann. Er wohnt nicht hier im Haus, soviel ich weiß, aber er geht Dr. Hahnemann zur Hand. Er studiert Pharmazie.«

»Ach ja …« Cora Mowatt nickte, dann richtete sie sich mit einer anderen Frage an Mrs. Erskine: »Waren Sie auch schon öfter hier, und haben Sie ebenfalls mit solchen Verschlimmerungen zu tun gehabt, von denen mir Lord Elgin erzählte?«

Mrs. Erskine legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Warum so ängstlich, meine Liebe? Schlechte Erfahrungen habe ich bisher ausschließlich mit Allopathen gemacht.«

Cora Mowatt seufzte. »Ich bin Schauspielerin! Nicht auszudenken, wenn sich die Entzündung meiner Stimmbänder zu allem, was ich bereits aushalten muß, auch noch verschlimmerte!«

»Lieber einmal wirklich krank als lange Zeit dahinsiechen!« Nun war es Mrs. Erskine, die seufzte. »Vierzehn Jahre lang haben Ärzte auf die unterschiedlichste Weise an mir herumgedoktert, und dabei wurde alles immer noch ärger.«

»Vierzehn Jahre!« Mrs. Mowatt war entsetzt. »Aber wie konnte das denn sein?«

»Wollen Sie sich meine Krankengeschichte wirklich anhören?«

»Ich bitte Sie darum. Egal, wie erschreckend sie auch sein mag, es würde mich beruhigen, wenn ich erkennen könnte, daß mein Besuch bei Dr. Hahnemann sinnvoll ist. Manche Leute sprechen nur das Beste über die Homöopathie, aber andererseits gibt es auch einige Zeitungsberichte, denen zufolge man besser vorsichtig sein sollte.«

»Solchen Berichten sollten Sie nun wirklich keinen Glauben schenken! Aber gut, wenn Sie meinen, erzähle ich Ihnen von meinem Leidensweg.«

Mit einem kurzen Seitenblick auf Sébastien, der inzwischen eines der Journale vom Tisch genommen hatte und so tat, als würde er darin lesen, wechselte sie ins Englische. Sie nahm wohl an, er könne es nicht verstehen, oder hoffte es zumindest.

»Mein Hauptproblem waren Drüsenschwellungen an der Brust und unter dem linken Arm, die äußerst schmerzhaft waren. Hinzu kamen starke Regelblutungen alle zwei Wochen und … nun ja, starke Schleimabgänge aus dem Rektum. Behandelt wurde ich mit Salzen, die ich trinken mußte und die äußerst ekelhaft schmeckten. Man hat mir Blutegel angesetzt, ich habe schwefel- und eisenhaltige Wasser getrunken. Für kurze Zeit ging es mir tatsächlich etwas besser, aber lange hielt der Erfolg nicht vor. Ich bekam Einläufe in Rektum und Vagina – zuerst mit Aachener Mineralwasser, später wurde Quecksilber ins Rektum und Rotwein und Alaun in die Gebärmutter injiziert.«

Cora Mowatt war blaß geworden. Entsetzt starrte sie Mrs. Erskine an.

»Soll ich weitererzählen?« fragte diese mit zweifelndem Blick.

Mrs. Mowatt schluckte und nickte tapfer.

»Leider wirkte sich diese Behandlung sehr ungünstig auf die Gebärmutter aus. Um die Reizung zu lindern, bekam ich auf die Innenseite des Schenkels ein Zugpflaster gesetzt. Aber das hatte zur Folge, daß eine starke Blutung auftrat. Um ihr entgegenzuwirken, verordnete mir der Arzt alle halbe Stunde ein Sitzbad in lauwarmem Wasser. Doch durch die Sitzbäder kam der Ausfluß zurück. Also wurde ich mit Digitalis und Säuren sowie mit Dampfbädern behandelt. Eine gewisse Linderung war zu erkennen, allerdings verstärkte sich die Periode nun wieder sehr. Zudem traten ganz neue Symptome auf. Die Haut fühlte sich sehr heiß an, vor allem an den Händen.« Mrs. Erskine streckte Mrs. Mowatt wie zum Beweis beide Innenflächen entgegen. »Und nach dem Essen brannte mir der Magen. Auch hatte ich morgens einen fauligen Geschmack nach verdorbenem Fleisch auf der Zunge, und wenn ich aufstieß, roch es nach faulen Eiern. Dazu traten plötzlich starke Verstopfungen und Kopfschmerzen auf, obwohl ich doch vorher an Durchfall gelitten hatte. Auch Wein vertrug ich nun nicht mehr und …«

»Oh, ich bitte Sie, hören Sie auf!« flehte Cora Mowatt. »Das alles ist ja schrecklich, geradezu furchterregend! Wenn ich Ihnen zuhöre, kann ich Gott auf Knien danken, daß er mir nicht mehr zumutet als ab und zu eine Stimmbandentzündung.«

»Sie irren, meine Liebe, was mir passiert ist, war nicht Gottes Schuld, sondern die der Ärzte«, antwortete Mrs. Erskine ungerührt. »Obwohl nicht zu übersehen ist, daß sie sich manchmal mit unserem Herrgott gleichsetzen.«

»Und nun? Ich meine, konnte Dr. Hahnemann Ihnen helfen?«

»In der Tat, er konnte mir helfen. Ich war schon seine Patientin, bevor er nach Paris kam, und kann Ihnen darum, was den gynäkologischen Befund betrifft, bereits einen abschließenden Bericht geben. Alle meine Beschwerden traten durch die homöopathische Behandlung noch einmal auf. Diesmal in umgekehrter Reihenfolge. Jedoch immer nur für kurze Zeit. Nach zwei Monaten ging es mir wieder gut, und ich konnte mich mehr oder weniger als geheilt betrachten. Dagegen stehen vierzehn qualvolle Jahre in den Händen von Allopathen.«

»Und weshalb sind Sie heute hier?«

Mrs. Erskine sprach nun wieder französisch. »Ich komme regelmäßig aus Schottland nach Paris, um liebe Freunde zu besuchen. Da Dr. Hahnemann nun hier praktiziert, nutze ich die Gelegenheit, ihn aufzusuchen. Kontrollbesuche, wenn Sie so wollen. Ich bin sehr glücklich über seinen Umzug nach Paris und hoffe, man wird hier bald wissen, was man an diesem Mann hat.«

Die beiden Damen hoben den Kopf, denn die Tür ging auf, und drei neue Patienten betraten den Salon. Eine Frau in Begleitung eines jungen Mädchens, außerdem ein Mann, dessen Erscheinung vermuten ließ, daß er nicht zu den Leuten gehörte, die sich einen Arzt leisten konnten. Aber vielleicht war er ja auch nur ein Bote, der eine Nachricht überbrachte oder ein Medikament abholte, überlegte Sébastien.

Der Mann sah sich schüchtern um, nickte zur Begrüßung den anwesenden Personen zu und stellte sich dann etwas abseits ans Fenster.

Kurz darauf erschienen auch Madame Hahnemann und Lord Elgin wieder. Lord Elgin küßte ihr die Hand, grüßte die übrigen Anwesenden und verließ den Raum durch die Tür, durch welche die drei Neuankömmlinge gerade gekommen waren.

Mélanie ging auf den Mann zu, der am Fenster stand. Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln und erkundigte sich nach seinem Befinden.

»Danke, es geht mir unverändert gut, Madame Hahnemann. Ich bin Ihnen so dankbar, Sie haben mich geheilt! Ich bin auch nur gekommen weil …« Er drückte ihr etwas in die Hände, das in eine Tuch eingeschlagen war. »Das wollte ich Ihnen geben. Es ist geräucherter Schinken von meinem Schwager. Er hat einen Bauernhof in Villeneuve. Vielen Dank, Madame Hahnemann, danke für alles!«

Mélanie schüttelte den Kopf. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, die Behandlung kostet für Sie nichts.«

»Das ist ja auch keine Bezahlung, es ist nur ein kleines Geschenk, eine Dankbarkeit – ich bitte Sie, nehmen Sie es an, sonst beschämen Sie mich.«

»Also gut.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Aber versprechen Sie mir, daß Sie wiederkommen, falls Ihr Zustand sich verschlechtert.«

»Ja, Madame, das verspreche ich.« Er verneigte sich, dann ging er zur Tür, und Mélanie wandte sich der Mowatt zu.

»Madame – bitte folgen Sie mir.«

Es verging noch einmal mehr als eine Stunde, bis Sébastien endlich an die Reihe kam. Neugierig folgte er der blonden Gazelle, wie er Mélanie insgeheim nannte, in das angrenzende Ordinationszimmer.

Der Raum war viel einfacher eingerichtet als der Salon, in dem er gewartet hatte. In der Mitte des Zimmers stand ein langer Tisch. An seinem Ende, auf einer etwas erhöhten Plattform, befand sich ein schlichter Schreibtisch, auf dem sich einige Bücher türmten und außerdem ein offenes, unbeschriebenes Buch lag, neben dem ein Tintenfaß stand.

Hinter dem langen Tisch saß, in einem bequemen Lehnstuhl, ein älterer Herr, der ihm freundlich entgegenblickte. Er war nicht besonders groß, trug einen geblümten Hausrock, der ganz der neuesten Pariser Mode entsprach, und sein Kopf wurde von einem schwarzen Samtkäppchen bedeckt, unter dem sich silberne Haarlocken hervorstahlen. Sein freundliches, für sein Alter ungewöhnlich jung wirkendes Gesicht war glatt rasiert, er hatte weder einen Schnauz- noch einen Backenbart. Auch fiel Sébastien sofort das Funkeln seiner sehr dunklen blauen Augen auf, das man allerdings nur erkannte, wenn er nicht gerade an seiner langen, bemalten Porzellanpfeife zog und kleine Rauchwölkchen ausstieß.

»Aber bitte, setzen Sie sich doch, Monsieur Colbert!« Samuel deutete auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Seite des Tisches, während Mélanie am Schreibtisch Platz nahm und zu einer goldenen Feder griff.

Sébastien verbeugte sich und folgte der Aufforderung.

Eine Weile betrachtete Samuel den jungen Mann, schien ihn mit Blicken abzutasten, um sich ein Bild von ihm zu machen. »Nun?« fragte er schließlich. »Was können wir für Sie tun?«

»Es geht um Schmerzen in der Brust, dazu kommt ein hartnäckiger Husten. Allerdings nur nachts im Liegen. Aber gerade dann ist es unangenehm. Es gibt Nächte, in denen ich kaum zur Ruhe komme.«

»Husten Sie Schleim aus?« fragte Mélanie.

Sébastien sah zu ihr hinüber. Sie hatte die Feder in Tinte getaucht und schrieb etwas in das Buch, das vor ihr lag. Offensichtlich notierte sie alles, was hier gesprochen wurde. Das verunsicherte ihn, und er räusperte sich.

»Schleim – nun ja, natürlich«, sagte er zu Hahnemann.

»Und wie sieht er aus?« fragte Mélanie.

Sébastien sah sie erstaunt an. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, ist er grün, weiß, eher durchsichtig?«

Mit solchen Fragen hatte er nicht gerechnet, auch nicht damit, daß er von Madame Hahnemann und nicht von Dr. Hahnemann selbst befragt wurde.

»Durchsichtig«, antwortete er verwirrt.

Die Feder kratzte übers Papier, das Geräusch kam Sébastien plötzlich vor wie das Zischeln einer Schlange.

Schweiß? Besserung durch Wärme? Verschlimmerung in den Morgenstunden? Die Fragen, die man an ihn stellte, schienen ihm immer absurder zu werden. Er gab Antwort, so gut er konnte, und weil er nicht darauf vorbereitet gewesen war, hielt er sich an das, was er tatsächlich von sich kannte.

Als Madame Hahnemanns Wissensdurst endlich gestillt zu sein schien, zeigte die Uhr auf dem Kaminsims bereits 12 Uhr 30 an – ein gutes Stück mehr als eine Stunde hatte er also hier gesessen und Auskunft über seinen körperlichen Zustand und seine geheimsten Gedanken erteilt. Das alles schien ihm irgendwie lächerlich! Andererseits fühlte er sich plötzlich von einem ganz seltsamen wohligen Gefühl getragen – einem Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

Eine Weile sahen sich Madame und Monsieur Hahnemann an.

»Wir geben Sulfur in der für den Anfang üblichen Potenz«, sagte sie plötzlich, worauf er nickte und meinte: »Ja, liebes Kind.«

»Ich denke, wir werden auch in Folge dabei bleiben müssen.«

»Ja, so sehe ich das auch. Aber warten wir ab.« Hahnemann nickte seiner Frau zu.

Sie stand auf, machte sich eine Weile an einem Schrank zu schaffen, kam dann mit einem Glas zurück, das halb mit Wasser gefüllt war, und reichte Sébastien einen Löffel.

»Bitte, nehmen Sie von der Medizin einen Löffel voll, Monsieur, und halten Sie die Flüssigkeit einige Augenblicke im Mund.«

Als er zögerte, nickte sie ihm lächelnd zu. »Keine Angst, es tut nicht weh – und es ist auch nicht giftig. Möglicherweise kann es sein, daß sich Ihre Atembeschwerden in nächster Zeit etwas verschlimmern. Wenn es größere Probleme geben sollte, zögern Sie nicht, zu kommen. Ansonsten sehen wir uns am Freitag wieder. Es ist wichtig, daß Sie regelmäßig vorsprechen und uns Bericht erstatten.«

Als Sébastien kurze Zeit danach in seiner Kutsche an der Seine entlangfuhr und über die Ereignisse nachdachte, fiel ihm dreierlei auf: Man hatte erkannt, daß er gelegentlich an Asthma litt, obwohl er von Husten und Schmerzen in der Brust gesprochen hatte und glaubte, keinen Hinweis auf seine tatsächliche Erkrankung gegeben zu haben. Er wurde behandelt, obwohl er nicht vorgehabt hatte, sich behandeln zu lassen. Und Madame Hahnemann war ihm zwar höflich begegnet, aber es war ihm nicht gelungen, ihr in irgendeiner Weise näherzukommen, obwohl er sich beim Abschied doch alle Mühe gegeben hatte. Außerdem war ihm der alte Hahnemann sehr sympathisch. Er strahlte eine väterliche Wärme aus, ein Freundlichkeit, die ihm, Sébastien, das Gefühl gab, willkommen zu sein. Irgendwie schämte er sich plötzlich, sich mit so unlauteren Absichten Zutritt zu den Hahnemanns verschafft zu haben.

Als Sébastien am Freitag wie verabredet zum zweiten Mal die Praxis aufsuchte, wurde er von Charles Lethière empfangen und in das Ordinationszimmer gebracht. Sébastien schätzte den Jungen auf neunzehn, vielleicht zwanzig Jahre. Er wirkte etwas verschlossen, war dabei aber stets auf Höflichkeit bedacht.

»Hier ist Monsieur Colbert.« Charles hielt ihm die Tür auf, wartete, bis Sébastien eingetreten war, dann betrat auch er das Ordinationszimmer und ging zum Medikamentenschrank, den er öffnete.

Mélanie war diesmal allein. Sie saß am Schreibtisch und schrieb in das Patientenbuch. Als Sébastien näher trat, legte sie die Feder hin, stand auf und kam zu ihm, um ihm die Hand zu reichen. Sébastien beugte sich in einem angedeuteten Kuß darüber.

Charles hatte inzwischen ein Tablett mit braunen Medizinfläschchen aus dem Schrank genommen. Nun wandte er sich an Mélanie. »Das soll ich zu Dr. Hahnemann in den Apothekenraum bringen – kommen Sie alleine zurecht?« Er sah mit einem schnellen Seitenblick zu Sébastien.

»Es geht schon, danke, mein Lieber!« Mélanie bot Sébastien an, sich zu setzen, wartete, bis Charles die Tür geschlossen hatte, und setzte sich dann ebenfalls.

»Nun, wie geht es Ihnen, Monsieur?« Sie sah ihm forschend in die Augen.

»Danke, sehr gut. Und Ihnen, Madame?«

Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Haben Sie bereits vergessen – ich führe hier die Befragungen durch!«

»Oh, Verzeihung.« Er verneigte sich kurz, suchte ihren Blick und hielt ihn fest.

»Also? Wie waren Ihre Nächte seit der Mittelgabe?«

»Einsam, Madame.«

»Ich bitte Sie, Monsieur! Ich muß Sie zur Vernunft rufen! Sie sind nicht hier, um mir den Hof zu machen, es geht um Ihre Gesundheit.« Sie sagte es streng, aber mit einem Lächeln. »Hatten Sie Husten?«

Sébastien lehnte sich zurück und dachte nach, bevor er berichtete. »Es war Mittag, als ich die Arznei von Ihnen bekam. Ich fuhr dann nach Hause. Dort angekommen, aß ich eine Kleinigkeit, danach legte ich mich für kurze Zeit hin, um zu schlafen – das heißt, ich versuchte es, aber das Liegen schien mir nicht gutzutun, denn kaum hatte ich die Augen geschlossen, um in das Land der Träume hinüberzugleiten …« Er unterbrach sich und sah sie versonnen an.

»Nun, was passierte dann?«

»Ja, dann fing ich an zu husten.«

»Und weiter – was stellten Sie noch fest?«

»Hitzewallungen. Beklemmung und Brennen in der Brust, auch ein Brennen in den Augen. Ich stand schließlich auf und öffnete das Fenster. So ging es mir besser. Außerdem fiel mir eine gewisse Reizbarkeit auf. Ich war ungeduldig mit dem Hausmädchen, auch mit dem Pferd, als ich am Nachmittag in geschäftlicher Angelegenheit nach Versailles ritt.«

Mélanie notierte alles in ihrem Buch, wobei sie hin und wieder nickte. »Eine kleine homöopathische Verschlimmerung in den ersten Stunden ist ein gutes Zeichen und bedeutet meist, daß die akute Krankheit schon von der ersten Gabe geheilt wird«, erklärte sie, ohne aufzublicken. Dann hob sie plötzlich den Kopf, lächelte und sah Sébastien forschend an. Ihr Lächeln kam ihm vor wie das Strahlen der Morgensonne, und er fing an, diese ganz und gar außergewöhnliche Frau ehrlichen Herzens zu bewundern.

»Und weiter?«

»Nachts schlief ich nun aber viel besser als üblicherweise. Allerdings wurde ich schon beim geringsten Geräusch wach, und danach fiel es mir schwer, wieder einzuschlafen – aber vielleicht lag das ja auch an Ihnen, Madame, ich hatte immerzu Ihr Bild vor Augen.«

Mélanie schnappte nach Luft, wollte etwas entgegnen, doch im selben Moment ging die Tür auf, und Samuel kam herein.

»Schönen guten Tag, Monsieur.« Er verneigte sich vor Sébastien. Dann ging er zu Mélanie, legte ihr eine Hand auf die Schulter, beugte sich über das Buch, in das sie ihre Aufzeichnungen schrieb, und las.

Schließlich nickte er zufrieden. »Und sonst, meine Liebe?«

»Sonst hat Monsieur immerzu mein Bild vor Augen!« Sie lachte leise, weil Sébastien sie so erschrocken ansah.

»Ach?« Die beiden tauschten Blicke, lächelten sich zärtlich an, dann nahm Samuel Mélanies Hand, küßte sie und sagte: »Nun, was das betrifft, muß ich Monsieur leider sagen, daß es da kein Mittel zur Heilung gibt. Ich bin selbst von dieser Krankheit befallen und muß gestehen, es wird täglich schlimmer.«

Mélanie lachte. »Soll ich das auch als Symptom in diesem Buch verzeichnen?«

»Wir schreiben es in ein anderes Buch, meine Liebe.«

Samuel ging um den Tisch, setzte sich in seinen Sessel und sah Sébastien an. »Meine Frau wird Ihnen dasselbe Mittel noch einmal in einer anderen Dosis verabreichen. Bitte beobachten Sie sich ganz genau, und kommen Sie in ein paar Tagen wieder, um uns Bericht zu erstatten. Ich bin sicher, Sie werden schon bald keine Beschwerden mehr haben. Zumindest, was den Husten und die Atmung betrifft. Das mit dem Herzen ist eine andere Sache. Hier muß ich Sie allerdings warnen – auch wenn in Frankreich das Duellieren inzwischen per Gesetz verboten ist, was meine Frau betrifft, bin ich bereit, bis zum Äußersten zu gehen!« Ein Lächeln zuckte um seinen Mund, aber das Blitzen in seinen Augen ließ erkennen, daß er vielleicht ein alter Mann war, aber keiner, der sich Hörner aufsetzen ließ.

Dodo stieß die Tür auf und ließ Dr. Doyen den Vortritt. Dann folgte sie ihm in Sébastiens Arbeitszimmer, nahm das Tablett vom Tisch und wartete auf Anordnungen ihres Herrn.

Die beiden Männer begrüßten sich.

»Möchten Sie etwas trinken, Onkel – vielleicht ein Glas Wein?«

»Ja, gerne einen Wein.«

Sébastien sah Dodo an. »Bring uns eine Karaffe von dem Roten Médoc.«

Sie knickste und ging, und die beiden Männer nahmen Platz.

»Nun, wie weit bist du in unserer Sache gekommen, lieber Neffe?« Doyen faltete die Hände und sah Sébastien aufmerksam an.

»Tut mir leid, Monsieur, aber …« Sébastien stockte.

»Aber?«

»In beiden Fällen konnte ich nichts erreichen. Was das Simulieren betrifft – es ist mir nicht gelungen, Dr. Hahnemann etwas vorzumachen. Um ehrlich zu sein, ich beginne zu glauben, daß die Homöopathie tatsächlich eine ernst zu nehmende Heilkunst ist.«

Doyens Blick wurde hart. »Unsinn! Jeder vernünftig denkende Mensch muß erkennen …«

»Ich bin ein vernünftig denkender Mensch«, unterbrach Sébastien, »und erkannt habe ich vor allem, daß Dr. Hahnemann und seine Frau sich nicht an der Nase herumführen lassen. Sie fragen gezielt, und auch wenn einem die Fragen zuerst einmal etwas seltsam vorkommen, haben sie offensichtlich ihren Sinn. Am Ende wissen die beiden ganz genau, was zu tun ist. Obwohl ich zu Beginn nur fadenscheinige Symptome angab, verdichtete sich die Befragung immer mehr. Am Schluß hatte ich, ohne es zu wollen, alle Angaben gemacht, die zu meiner tatsächlichen Erkrankung führten, einem gelegentlichen Asthma, das meist nur nachts und im Liegen auftritt. Man gab mir eine Arznei, worauf sich mein Gesundheitszustand täglich besserte. Heute, nach zwei Wochen Behandlung, schlafe ich so gut wie seit Jahren nicht mehr.«

»Eine Arznei?« fragte Doyen nach. »Wie muß ich mir das vorstellen?«

»Es waren kleine Zuckerkügelchen, getränkt mit einer Substanz aus Sulfur, die in Wasser aufgelöst wurden, von dem ich einen Löffel voll einnehmen mußte. Ich habe nachgefragt, und man hat mir alles bereitwillig und ganz genau erklärt. Keine Geheimnisse, nichts, was mir Anlaß zum Mißtrauen gab. Auch die Leute, die im Salon warteten und sich über ihre Krankheiten unterhielten, berichteten immer nur das Beste.«

»Seltsam.« Doyen bedachte seinen Neffen mit einem abschätzenden Blick. »Ich habe genau das Gegenteil gehört! Bekannte berichteten von einem Lord, der eine Gesichtsneuralgie hat, die sich durch die Behandlung Hahnemanns wesentlich verschlimmerte.«

»Das stimmt«, bestätigte Sébastien. »Ich habe Lord Elgin selbst kennengelernt. Er hat zugegeben, daß sich sein Zustand für kurze Zeit verschlimmerte. Danach ging es ihm aber wesentlich besser. Es scheint öfter einmal vorzukommen, daß sich Reaktionen einstellen, die man als Verschlimmerung deuten könnte. In Wahrheit ist es ein Zeichen, daß die Krankheit von innen nach außen geht, als würde sie …« Er suchte nach Worten. »Als würde sie verglühen.«

Doyen stand auf. Seine Backenmuskeln spielten, aufgebracht ging er hin und her. »Dann bist du nun also auch ein Anhänger der Homöopathie?«

Sébastien schlug die Augen nieder. Er verfluchte den Tag, an dem sein Onkel ihn mit diesem Auftrag losgeschickt hatte. Nun saß er zwischen zwei Stühlen. Dem Onkel war er verpflichtet. Erstens, weil er ein Bruder seiner Mutter war, und zweitens, weil er ihm einmal aus einer äußerst prekären Lage geholfen und dabei selbst einiges riskiert hatte. Aber auch den Hahnemanns fühlte er sich verbunden. Sie hatten ihn geheilt und keine üble Nachrede verdient. Und er schätzte sie – beide.

»Ein Anhänger der Homöopathie – so weit will ich nicht gehen, und doch ist es so, Onkel, wenn wir nicht wirklich etwas vorzubringen haben, dann haben wir das Spiel von vornherein verloren. Anschuldigungen, die sich nicht halten lassen, wenden sich am Schluß gegen einen selbst.«

Doyen schien nachzudenken. Plötzlich sah er Sébastien an. »Und was hast du bei Madame erreicht?«

Er zuckte die Schultern. »Sie ist ihrem Mann ganz und gar ergeben und liebt ihn ehrlich, ich habe es nicht nur einmal versucht, doch da ist nichts zu machen.« Er hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Es tut mir leid, Onkel.«

Dodo kam herein. Sie servierte den Wein, dabei neigte sie sich Dr. Doyen so entgegen, daß er ihr tief ins Dekolleté sehen konnte, und als sie die Karaffe aufs Tablett zurückstellte sah sie ihn mit keckem Augenaufschlag an.

Sie war hübsch und offensichtlich bereit, ihm zu Diensten zu sein. Das brachte ihn auf eine Idee.

Er lächelte ihr zu, sie lächelte zurück. Später, wenn er das Haus verließ und sie ihm Zylinder, Handschuhe und Stock reichte, würde er die Gelegenheit nutzen, um in aller Ruhe ein paar Worte mit ihr zu wechseln.

»Noch eines«, sagte er und wandte sich wieder an seinen Neffen. »Mir kam zu Ohren, daß Madame Hahnemann Leute aus der Unterschicht behandelt. Und das, obwohl sie eine Frau ist und Frauen das Praktizieren verboten ist. Dabei handelt es sich meist um arme Leute, Gesinde und Gesocks.«

»So etwas habe ich auch beobachtet. Allerdings tut sie es unentgeltlich, darum kann man ihr daraus keinen Strick drehen.«

»Aber wie ich deinem Bericht entnehmen konnte, führte Madame Hahnemann auch in deinem Fall die Befragungen durch?«

»Es ist so, daß sie die Anamnesen zwar durchführt, Dr. Hahnemann, der neben ihr sitzt, die ganze Sache jedoch überwacht und leitet. Später schlägt sie vor, welches Medikament gegeben werden muß, und er bestätigt oder verwirft ihren Vorschlag. Sie scheint seine Schülerin zu sein – und dagegen ist rein gesetzlich nichts einzuwenden. Sie darf eben nur nicht für Geld praktizieren.«

»Und wie ist dein Verhältnis zu Madame? Ist sie dir freundlich gesonnen, oder begegnet sie dir eher mit Ablehnung?«

»Ich denke, ich bin ihr sympathisch. Jedenfalls begegnet sie mir aufgeschlossen. Allerdings wahrt sie auch immer die gebührende Distanz.«

Doyen wußte genug. Er würde die Sache nun selbst in die Hand nehmen und mit Dodos Hilfe schon bald seinen Sieg erringen. Er nahm eines der Gläser, prostete seinem Neffen zu und trank. Danach schürzte er die Lippen und starrte versonnen ins Glas. »Ein ausgezeichnetes Tröpfchen«, sagte er, lachte schließlich und fügte an: »Gerade gut genug, um auf die Frauen und die Liebe anzustoßen.«