Mord und Totschlag

Kaum hatte Mélanie den Brief gefaltet und versiegelt, als es klopfte. Es waren Monsieur Hugo und seine Tochter Monique, ein Mädchen von acht Jahren, deren Augen noch vor zwei Wochen vollkommen verklebt und deren Hände und Füße von Warzen übersät gewesen waren.

Als Mélanie sie nun untersuchte, war sie zufrieden mit dem Ergebnis der Behandlung. Sie hatte ihr Thuja gegeben, woraufhin sich die Warzen sich zu einem erheblichen Teil zurückgebildet hatten. Monique konnte ihre Augenlider wieder öffnen, und auch ihr schlechter Appetit hatte sich gebessert.

Mélanie nickte und fuhr ihrer Patientin aufmunternd durch das Haar. »Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Nur weiter so, dann bist du schon bald ganz gesund!«

Plötzlich war draußen Geschrei zu hören. Mélanie ging zum Fenster und sah hinaus. Es war schon fast dunkel. Eine Gruppe von Leuten strömte mit Laternen, Stangen und Knüppeln in Händen auf ihr Haus zu. Die Lichter schaukelten hin und her. Ab und an, wenn einer aus der Gruppe sich nach vorne beugte oder seine Laterne vor das Gesicht eines anderen hob, zeigten sich häßliche, von blinder Rachsucht und Haß verzerrte Fratzen. Die Szene hatte etwas Gespenstisches, und, da machte sich Mélanie keine Illusionen, der aufgebrachte Mob war gefährlich wie ein in die Enge gedrängtes Tier.

Sie ging zurück zum Tisch und setzte sich.

»Was ist los dort draußen?« fragte Monique neugierig und ängstlich zugleich.

»Aufgebrachte Männer – sie sind wütend auf mich, weil ich die Witwe eines Deutschen bin und eine deutsche Tochter habe. Am besten kümmerst du dich gar nicht darum.« Mélanie versuchte zu lächeln.

Monique legte ihre Hand auf den Arm ihres Vaters und sah ihn erstaunt an. »Ist das denn etwas Schlechtes, wenn man die Witwe eines Deutschen ist und ein deutsches Kind hat?«

Er seufzte. »Manche Menschen glauben, ja. Es gefällt ihnen nicht, was Kaiser, Könige und Minister tun, aber weil sie die nicht für ihre Fehler verantwortlich machen können, rächen sie sich an den kleinen Leuten.«

»Und du – was glaubst du?« fragte Monique weiter.

»Ich glaube, daß die Menschen sehr ungerecht sein können und die guten Dinge viel schneller vergessen als die schlechten.«

Nun war er es, der aufstand und hinaussah. Ganz vorne, unter den Anführern, erkannte er Marcel, seinen Nachbarn. Marcels Frau war nach der Geburt ihres ersten Kindes schwermütig geworden und hatte wochenlang apathisch im Bett gelegen. Mélanie hatte sie geheilt und nichts dafür verlangt. Grund genug, dankbar zu sein! Doch nun richtete er seinen Knüppel gegen sie.

»Ja, die Leute haben ein verdammt schlechtes Gedächtnis«, murmelte er.

Plötzlich klirrten Scheiben, ein Stein flog herein und schlug nur zwei Armbreit neben dem Kind auf dem Boden auf.

Entsetzt tauschten Mélanie und Monsieur Hugo Blicke. Monique lief zu ihrem Vater und klammerte sich weinend an ihn.

»Calme-toi, ma chère – ganz ruhig, mein Liebes!« Er schlang seine Arme um ihre Schultern und redete beruhigend auf sie ein.

Dann sah er Mélanie an. »Sie sollten nicht hier bleiben. Es ist zu gefährlich. Und Ihre Tochter, Ihr Schwiegersohn … gehen Sie zusammen mit ihnen nach Deutschland.«

»Meine Kinder nach Deutschland zurückzuschicken, ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich bin Französin, genau wie Sie und diese Leute dort draußen! Meine Familie hat einmal viel für dieses Land getan, und für diesen unglückseligen Krieg kann ich nichts.«

Monsieur Hugo schüttelte traurig den Kopf. »Vielleicht kommt eine Zeit, in der es wieder von Bedeutung sein wird, was Ihre Familie einst für Frankreich tat. Aber jetzt, wo Napoleon kapituliert hat … die Gemüter sind zu erhitzt, Madame, um mit Vernunft rechnen zu können.«

»Napoleon hat kapituliert?« Mélanie sah den Mann fassungslos an.

»Das wissen Sie noch gar nicht?« René Hugo nickte heftig. »Ja, gestern hat er kapituliert, und heute ist er in preußische Gefangenschaft gegangen!«

Wieder zerbarst eine Scheibe, und ein Stein flog herein. Diesmal landete er mit einem dumpfen Schlag auf einer Ottomane, die vor der Wand stand.

»Ich werde versuchen, die Leute zu beruhigen!« Entschlossen schob René Hugo seine Tochter zu Mélanie, öffnete das Fenster und starrte Marcel, seinen Nachbarn, wütend an. »Schluß damit! Verdammt, ihr Bestien, hört auf!«

Einen kurzen Moment war es still, doch dann schrie einer zurück: »Die Deutschen sind die Bestien!« Und die Menge brüllte wieder los: »Bestien! Und wir werden vor ihnen nicht zu Kreuze kriechen!«

»Ach – und was habt ihr jetzt vor? Wollt ihr etwa die Frau erschlagen, die so manchem von euch das Leben gerettet hat?«

Das Gemurre wurde leiser, und René Hugo winkte seine Tochter zu sich. Er nahm sie auf den Arm und zeigte sie den Leuten. »Du, Marcel, und ihr, Anton, Pierre und Henry, habt doch gesehen, wie meine Kleine noch vor einer Woche aussah – ihre Augen waren so verklebt, daß sie sie nicht mehr öffnen konnte. Und jetzt? Schaut sie euch an!« Er küßte Monique und zwickte ihr zärtlich in die Wange. »Wie zwei wunderbare Sterne würden sie leuchten, wenn mein Mädchen nicht solche Angst vor euch Hornochsen hätte! Und da werft ihr Steine durch Madame Hahnemanns Fenster! Und redet über die Deutschen, daß sie Bestien sind! Kein bißchen besser seid ihr!«

»Die Preußen sollen abhauen! Wir akzeptieren die Kapitulation nicht, und wir dulden keine Besatzer! Wir werden den Krieg fortführen!«

»Vive la France!« brüllten sie.

»Dann wendet euch gefälligst an die Kaiser, Könige und ihre Feldherren!« Er setzte Monique auf dem Boden ab und schob sie zu Mélanie zurück. »So, und jetzt geht nach Hause, und laßt Madame Hahnemann in Ruhe!« Damit schlug er das Fenster zu.

Tatsächlich zog die Meute ab. René Hugo sah ihnen eine Weile nach, dann drehte er sich zu Mélanie um. »Für heute sind sie beruhigt. Am besten gehen Sie zu Bett und löschen alle Lichter. Aber morgen, in aller Frühe, sollten Sie nach Paris zurückfahren … und, wenn möglich, für eine Weile das Land verlassen.«

Er nahm Monique wieder auf den Arm.

»Danke, Monsieur Hugo. Ich werde Ihnen das nicht vergessen.«

»Wir stehen in Ihrer Schuld.« Er legte kurz eine Hand auf Mélanies Hand, dann ging er zur Tür. Auf einer Konsole stand eine Schale. Dort legte er wortlos das ganze Geld hinein, das er bei sich hatte, dann trat er hinaus und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

Als Mélanie aus der Droschke stieg, wurde die Tür ihres Hauses aufgerissen, und Sophie stürmte auf sie zu. Sie war nicht besonders groß, hatte eine schlanke Taille und war auch ansonsten wohlproportioniert. Ihr Haar war brünett, ihr Gesicht hübsch, wenn auch nicht von ebenmäßiger Schönheit – die ganze Erscheinung von vornehmer Eleganz. Mélanie war stolz auf sie und liebte sie über alles.

»Ach, Mama, daß Sie endlich da sind!« Sophie fiel Mélanie um den Hals. »Wir hätten Sie nicht alleine nach Versailles fahren lassen dürfen! Ich hatte solche Angst um Sie! Am liebsten hätte ich Karl zu Ihnen geschickt, um Sie zu holen, doch dann wäre ich vor Angst um euch beide gestorben!«

»Es ist ja gut – mir ist nichts geschehen.« Mélanie küßte Sophie und lächelte. Obwohl sie bereits 32 Jahre alt war, erschien Sophie ihr manchmal noch wie das kleine, ungestüme Mädchen, das auf Samuels Knien geritten war und ihn geküßt und geherzt hatte. Doch nun lag ein Schatten von Sorge und Trauer auf dem Gesicht der jungen Frau, und ihre Augen waren rot vom Weinen.

Mélanie sah sie forschend an. »Was ist passiert, ma chère?«

»Wir haben gehofft, der Krieg sei nun endlich überstanden, aber schon ist Paris wieder ein Hexenkessel. Es heißt, Gambetta wird Frankreich zur Republik erklären, und er will den Kampf gegen Deutschland fortsetzen. Und dann – Karl hat etwas Entsetzliches erlebt! Aber er soll es Ihnen selbst erzählen.«

Drinnen nahm Anne-Marie, das Hausmädchen, Mélanie den Mantel ab und hängte ihn zum Trocknen neben den Ofen in der Küche. Dann bereitete sie Minztee und servierte ihn im Salon.

Karl war bleich. Sein blondes Haar hing ihm wirr in die hohe, breite Stirn, seine Augenlider zuckten vor Nervosität. Er sah Mélanie an. »Michael und Sonia Landsknecht, unsere deutschen Freunde – bestimmt erinnern Sie sich an die beiden?«

Mélanie nickte. Das junge Paar wohnte ein paar Straßen weiter in der Rue Cardinet und hatte vor einem halben Jahr ein Kind bekommen. Einen kleinen Jungen, soweit sie sich erinnerte. Sophie und Karl spielten manchmal Lotto mit ihnen, oder sie gingen sonntags zusammen in den Bois de Boulogne. »Was ist mit ihnen?«

Karls Lippen zitterten, er rang sichtlich nach Fassung. »Ich war gestern am Nachmittag zu ihrem Haus unterwegs, denn der kleine Michael hatte Fieber, und ich habe ihn behandelt. Es ging ihm bereits wieder besser, aber ich wollte doch noch einmal nach ihm sehen.«

Karl stockte. Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen.

»Vom Arc de Triomphe zog eine aufgebrachte Menge nach Norden, Richtung Clichy. Sie brüllten Parolen gegen uns Deutsche und sangen die Marseillaise. Plötzlich kamen preußische Soldaten dazu. Schüsse fielen, ein Handgemenge entstand. Um nicht gesehen zu werden, drückte ich mich in einen Hauseingang und wartete ab. Die Soldaten nahmen einige Franzosen gefangen, andere liefen weg oder versteckten sich. Einer der Soldaten hetzte zu Pferde einem Mädchen nach. Er stieß mit dem Gewehrkolben nach ihr und schimpfte sie Hure. Ein Mann kam der Kleinen zu Hilfe, es fielen wieder Schüsse. Am Ende lagen das Mädchen, der Mann und drei andere tot da. Als die Soldaten abgezogen waren, kamen die aufgebrachten Menschen aus allen Löchern. Sie zerrten die Leichen weg und schworen den Deutschen Rache. Eine Horde junger Männer bog in die Rue Cardinet ein. Ich folgte ihnen in einigem Abstand und sah, daß sie in das Haus stürmten, in dem unsere Freunde wohnen. Ich hatte Angst um sie, doch …«

Karl brach ab. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und rang nach Fassung.

»… doch ich wußte nicht, wie ich ihnen beistehen könnte. Wäre ich hineingegangen, hätte ich ihnen vielleicht helfen können. Aber andererseits … was kann ich schon ausrichten gegen sechs oder sieben aufgebrachte junge Kerle, die nichts als Rache und Vergeltung im Sinn haben?«

Karl schluchzte auf, und Sophie nahm ihn in die Arme. »Es ist doch nicht deine Schuld, mein Liebster!«

Er atmete tief durch, dann sprach er so leise weiter, daß Mélanie ihn kaum verstehen konnte: »Als sie abgezogen waren und ich das Haus betrat, fand ich Michael und Sonia … fand sie erhängt am Balken auf dem Dachboden. Den kleinen Michael haben die Männer in seinem Bettchen mit einem Kissen erstickt.«

»O Gott!« Mélanie schlug die Hände vors Gesicht. »So viel Grausamkeit!« Sie umarmte Sophie und Karl und drückte sie beide an sich. »Warum nur tun Menschen sich so etwas an?«

»Wir müssen fliehen, Mama!« Sophie sah Mélanie beschwörend an. »Hier ist kein Platz mehr für uns. Und Sie müssen mitkommen – bitte! Ich könnte keine Minute mehr ruhig sein, wenn Sie alleine in Paris blieben!«

»Aber ich …« Mélanie brach ab und schüttelte mehrmals den Kopf. »Wie könnte ich diese Stadt verlassen, in der mein Mann begraben liegt?«

»Es geht nicht um die Toten – es geht um die Lebenden, Mama! Und es geht auch um die Manuskripte. Sie müssen die Aufzeichnungen fortschaffen. Hier ist nichts und niemand mehr sicher, solange deutsche Soldaten französische Bürger ermorden und französische Männer sich an unschuldigen Deutschen rächen!«

Mélanie dachte lange nach. Dann nickte sie. »Ja, da hast du recht, mein Kind. Die Manuskripte …« Sie legte die Handflächen aneinander und die Fingerspitzen an den Mund. »Ich muß sie in Sicherheit bringen, aber ich kann nicht einfach so überstürzt abreisen. Ich brauche eine Weile, um meine Angelegenheiten zu ordnen. Die Manuskripte und Journale müssen verpackt werden, der Haushalt aufgelöst. Ich möchte Sébastien noch einmal wiedersehen, und – ich muß mich von meinem Mann verabschieden.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Versteht ihr, ich brauche ein Weilchen, eine Zeit für mich. Aber ihr beide, ihr müßt noch heute losfahren.«

Sophie umarmte Mélanie. »Ich reise nur, wenn Sie mir ganz fest versprechen, daß Sie uns folgen werden.«

»Ich verspreche es. Spätestens in drei Tagen!« Sie sah Sophie fest an. »Ganz bestimmt, aber jetzt packt das Nötigste, und macht euch auf den Weg.«

Eine Stunde später stiegen die jungen Leute in eine Kutsche, die sie aus der Stadt bringen sollte. An eine Bahnreise war nicht zu denken, denn Züge fuhren in diesen Tagen nicht.

Mélanie sah ihnen mit Tränen in den Augen nach. »Bis bald, ihr Lieben«, flüsterte sie.

Nun waren Mélanie nur noch Anne-Marie, das Mädchen, und Joachim, der Hausdiener, geblieben. Joachim war seit dreißig Jahren bei ihr in Diensten und ein alter Mann. Er kannte Samuel und Rose noch, er hatte ein paar der guten Jahre miterlebt und sehr viele schlechte, in denen er zu ihr gehalten hatte, auch wenn sie kaum genug Geld hatten, um Essen und Kohle für den Winter zu kaufen. Nun würde sie ihn entlassen müssen, und das zerriß ihr das Herz. Um Anne-Marie allerdings machte sie sich keine Sorgen, sie war jung, kräftig und intelligent und würde bald eine neue Stellung finden.