Der Unfall
Charles reichte Mélanie die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. In ihrem eleganten Sommerkleid aus taubenblauem Musselin, der mit winzigen weißen Streublumen bedruckt war, sah sie wie immer zauberhaft aus.
»Danke, Charles.« Sie küßte ihn lachend auf die Wangen, dann hängte sie sich bei Samuel ein. Sie war glücklich, es ging ihr gut, sie wollte diesen Festtag in Begleitung ›ihrer beiden Männer‹ sorglos genießen.
Charles setzte den Zylinder auf und gab dem Kutscher Anweisungen, in genau drei Stunden an derselben Stelle auf sie zu warten. Dann spazierte er hinter Mélanie und Samuel her.
Die Champs-Elysées war voller Menschen. Lachende, plaudernde, schreiende Menschen, die sich auf den neu angelegten Spazierwegen drängten. Männer, die Zylinder schwenkten, Frauen mit roten, weißen oder blauen Schärpen und Schuten, die in den französischen Nationalfarben aufgeputzt waren. Kinder, die auf den Schultern ihrer Väter saßen, und andere, die herumtollten und »Vive la France!« riefen. Dazwischen Gesinde und Arme in zerlumpten Säcken, die von den feinen Leuten mißtrauisch beäugt wurden. Börsen mit Geld verstaute man zur Sicherheit am Körper unter der Weste, und Taschenuhren und Schmuck hielt man fest – noch besser hätte man diese Dinge zu Hause gelassen.
Man schrieb den 29. Juli im Jahre 1836. Ganz Paris war auf den Beinen, um dabeizusein, wenn der König den Arc de Triomphe einweihte, der noch von Kaiser Napoleon geplant und in Auftrag gegeben, aber erst jetzt fertiggestellt worden war.
Auch Sébastien Colbert befand sich unter den Leuten. Er hatte sich mit einigen Freunden verabredet, schien sie aber verfehlt zu haben, oder sie waren bei dem Gedränge nicht rechtzeitig durchgekommen.
Um einen besseren Überblick zu bekommen, stieg er auf den Sockel einer der Laternen, die es seit neuestem hier gab, und suchte die Menschenmenge mit Blicken ab. Zuerst sah er in Richtung Arc de Triomphe, dann in entgegengesetzter Richtung.
Seine Freunde konnte er nirgends ausmachen, doch statt dessen entdeckte er Mélanie und Samuel Hahnemann, in Begleitung von Charles Lethière. Nur ein paar Schritte von ihm entfernt, versuchten sie sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
Sébastien beobachtete, wie Mélanie hinter Charles und Samuel herging. Sie hielten sich an den Händen, um sich im Getümmel nicht zu verlieren. Lachend drängten sie sich bis zu einer Gruppe von Bäumen durch, unter der ein kleiner Trinkbrunnen aufgestellt war. Hier beugte sich Charles mit dem Gesicht unter den Wasserhahn, um sich zu erfrischen, Mélanie spannte ihren weißen Sonnenschirm auf, Dr. Hahnemann zog ein Taschentuch aus der Weste und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
Das Lachen und Reden der Menge, das Kreischen der Kinder und Bellen der Hunde vermischte sich in Sébastiens Kopf zu einem einzigen lauten Summen.
Er stieg von der Laterne, nahm den Zylinder ab und fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. Irgend etwas, eine Ahnung, beunruhigte ihn und trieb ihn dazu, sich den Hahnemanns zu nähern. Es gab keinen ersichtlichen Grund. Er wußte, sie würden nicht mit ihm reden, vielleicht würden sie nicht einmal mehr bei diesem Brunnen sein, wenn er dort ankam, aber sein sechster Sinn sagte ihm: Geh dort hin, da wirst du gebraucht.
Eine Truppe Uniformierter in blauen Röcken und roten Stulpenstiefeln zog auf, um die Leute von den Wegen zurückzudrängen. »Déplacez-vous!« riefen sie. »Macht Platz für die Soldaten und den König!«
Weit in der Ferne hörte man Pfeifen, Trompeten und Trommeln. Ein Kind schrie: »Ich sehe sie schon, die Kutsche des Königs – dort kommt sie!«
Die Leute lachten, denn es war nur eine einfache schwarze Karosse, in die sich kein König der Welt pferchen ließe, auch kein Bürgerkönig wie Louis-Philippe.
Sébastien sah Mélanies Sonnenschirm über den Köpfen der Menge tanzen. Sie drehte ihn mal rechts herum, mal links, dann stand er wieder still. Er hielt darauf zu; nur noch ein paar Schritte, dann würde er bei ihr sein. Und was sollte er dann sagen? Er wußte es nicht.
Er trat noch einen Schritt nach vorne, sah, daß von rechts ein junges, unruhiges Pferd daherkam, mit einem Reiter, der betrunken wirkte. Er schwankte und griff in die blaue Schabracke, die den Sattel abdeckte. Sein Kopf fiel zurück.
Im selben Moment zerriß ein lauter Knall die Stille. Es klang wie ein Schuß. Die Menschen erschraken und schrien auf. Das Pferd erschrak ebenfalls, sprang nach vorne weg und war nicht mehr zu halten. Es ging durch – direkt auf die Hahnemanns zu!
Sébastien dachte nicht lange nach. Ein Mann stand zwischen ihm und Mélanie. Grob stieß er ihn zur Seite, dann packte er die beiden Hahnemanns an den Armen und riß sie zurück. Dabei geriet er ins Taumeln, stolperte, fiel rückwärts der Länge nach hin und schlug mit dem Kopf auf einen Stein. Bewußtlos blieb er liegen.
Auch Samuel stürzte, aber ein Junge konnte ihn auffangen und half ihm ins Gleichgewicht zurück. Verdutzt sah er sich um und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Nicht weit entfernt stob eine gellende Menschenmenge auseinander, um einem galoppierenden Pferd Platz zu machen. Nun setzte es über ein Blumenbeet und jagte davon.
»Das Pferd hätte Sie überrannt – dieser junge Mann hat Ihnen das Leben gerettet!« sagte eine Frau und beugte sich über den Verletzten.
Mélanie trat einen Schritt auf den Retter zu, und da erkannte sie ihn plötzlich. »Mon Dieu, Monsieur Colbert!« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.
Samuel ging nun vor Sébastien in die Knie, um ihn zu untersuchen. Er hob ihm die Lider an, fühlte seinen Puls und sah dann zu Mélanie auf.
»Er lebt. Das Blut kommt aus der Nase, aber gebrochen ist sie nicht.«
Plötzlich schlug Sébastien die Augen auf. »Was ist geschehen … ist Ihnen … ist Madame Hahnemann etwas passiert?«
»Na, Sie sind gut! Ob uns etwas passiert ist?«
Samuel griff nach Sébastiens Kopf, doch der Verletzte hob abwehrend die Hand. »Nicht!« Er stöhnte auf.
»Was tut Ihnen weh?« fragte Hahnemann.
»Kopf, Schulter, der Ellenbogen … aber der Kopf vor allem. Mir ist übel …«
Charles war inzwischen dem Reiter nachgelaufen, um seiner habhaft zu werden, aber der Mann war entkommen. Jetzt stand er keuchend neben Mélanie.
Samuel sah die beiden an. »Wir brauchen Arnika. Charles, du solltest loslaufen, um Eugène zu suchen. Wenn du ihn gefunden hast, schicke ihn mit der Kutsche dorthin, wo wir ausgestiegen sind. Wir müssen Monsieur Colbert zu uns nach Hause bringen, um ihn ordentlich versorgen zu können.«
Mélanie griff in ihren Beutel, zog ein kleines Fläschchen heraus. Arnika hatte sie immer bei sich – für Unfälle wie diesen. Sie öffnete Sébastiens Mund und ließ drei Globuli aus dem Fläschchen auf seine Zunge rollen.
Eine Frau brachte eine Decke. Man legte Sébastien hinein. Zuerst wehrte er sich, wollte aufstehen und zu Fuß gehen, aber Schwindel und Übelkeit zwangen ihn, sich wieder hinzulegen. Dann nahmen vier Männer die Decke an je einem Zipfel und trugen Sébastien durch die Menge davon.
Charles hatte Glück gehabt und Eugène schnell gefunden. Als Mélanie, Samuel und die Männer mit dem Verletzten zum vereinbarten Treffpunkt kamen, wartete die Kutsche bereits. Vorsichtig setzte man Sébastien in die Karosse. Charles und Samuel nahmen neben ihm Platz, um ihn zu stützen.
»Fahren Sie vorsichtig«, sagte Mélanie zum Kutscher und schloß die Tür hinter sich.
Zu Hause angekommen, ließ sie von Rose das Gästezimmer herrichten. Man bettete Sébastien in die Kissen. Vorsichtig zog Rose ihn aus, während Samuel eine zweite Untersuchung vornahm. »Sie haben ganz sicher keine inneren Verletzungen«, sagte er schließlich. »Eine Gehirnerschütterung, einige schmerzhafte Prellungen – in zwei, drei Wochen werden Sie jedoch wieder auf den Beinen sein.«
Samuel wollte aufstehen, aber Sébastien hielt ihn am Arm zurück. »Dr. Hahnemann – bitte glauben Sie mir, ich hatte nichts mit dem Komplott gegen Ihre Frau zu tun.«
Die Männer sahen sich lange und tief in die Augen. Schließlich nickte Samuel. »Wir werden über alles sprechen, sobald es Ihnen besser geht. Zuerst einmal sollten Sie schlafen. Charles wird Ihnen noch eine Arznei geben, und Rose bringt Ihnen später eine Tasse Hühnerbrühe. Ich verordne Ihnen strikte Bettruhe und erwarte, daß Sie meine Anordnungen genauestens befolgen!«
Er lächelte, Sébastien lächelte zurück. »Wenn ich damit den schlechten Eindruck wettmachen könnte, den ich bei Ihnen hinterlassen habe, würde ich sogar Milch trinken. Und Sie können mir glauben, das wäre die reinste Folter für mich!«
Fünf Tage später ging es ihm so gut, daß Samuel ihn nach Hause entlassen konnte. »Vorausgesetzt, Sie hüten dort weiter das Bett. Das müssen Sie mir versprechen! Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«
»Er hat ein hübsches, rothaariges, katzenäugiges Mädchen, das ihm zur Hand geht.« Die Ironie in Mélanies Stimme war nicht zu überhören.
Sébastien schüttelte den Kopf. »Dodo habe ich nach dem Vorfall sofort entlassen. Eine Nachbarin sorgt jetzt für mich.«
Mélanie schmunzelte.
»Ist sie genauso hübsch wie Dodo?«
»Marianne ist bereits sechzig, Mutter von acht Kindern, und, mit Verlaub, sie ist potthäßlich. Dafür hat sie aber ein Herz für zwei.«
Mélanie nickte. »Um es mit einem Sprichwort zu sagen: Wenn man nicht hat, was man liebt, muß man lieben, was man hat.«
»Ich hoffe, Sie meinen das nur im übertragenen Sinn, Madame, denn Dodo war immer nur ein Dienstmädchen für mich.« Er sah ihr fest in die Augen. »Und geliebt habe ich sie schon gleich gar nicht. Wenn ich einmal eine Frau lieben würde, dann müßte sie sein wie …«
»Still!« fiel Mélanie ihm ins Wort, denn sie ahnte, was er sagen wollte. »Sie wissen, die Pariser haben, was Skandale betrifft, ein wahres Elefantengehirn. Wenn Sie und ich uns in Zukunft freundschaftlich begegnen, werden neue Gerüchte um uns schneller aufflammen, als ein Hase Haken schlagen kann. Sagen Sie deshalb niemals ein Wort, das den Schandmäulern als Futter dienen könnte. Lassen Sie uns Freunde sein, Sébastien – und wenn ich dieses Wort benütze, dann meine ich etwas Wertvolles, etwas, das ein Leben lang halten kann. Sie haben meinem Mann das Leben gerettet, das werde ich Ihnen niemals vergessen. Ich würde, wenn nötig, mit meinem eigenen dafür bezahlen – aber erwarten Sie nichts von mir, das ich Ihnen als Frau geben könnte.«
Während sie gesprochen hatte, war Mélanie auf ihn zugekommen. Nun stand sie so nah vor ihm, daß er ihren Atem spürte. Sie sahen sich tief in die Augen. Plötzlich nahm er ihre Hand, beugte sich mit einem Kuß darüber, und als er sich wieder aufrichtete, sagte er: »Sie können sich auf mich verlassen, Mélanie.«
Er ging zu Samuel und verneigte sich vor ihm. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Dr. Hahnemann.«
Samuel nahm die Pfeife aus dem Mund, wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben, dann lachte er. »Jeder Tag ist ein schöner Tag, lieber Freund, es kommt nur darauf an, was wir aus ihm machen. Im übrigen danke ich Ihnen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Und ich erwarte, daß Sie am 10. August zu unserer Soiree erscheinen. Da feiere ich den Jahrestag meiner Promotion. Das ist für mich ein Festtag, seit 1779.«
»Ich werde sehr gerne und ganz bestimmt kommen«, versprach Sébastien.