Erfolge
Samuel sah auf die Uhr. Er hatte zwei Stunden an diesem Brief an Clemens von Bönninghausen geschrieben. Das Kaminfeuer war erloschen, und seine Augen brannten. Trotzdem las er ihn noch einmal durch.
Paris, den 31. August 1838
Mein lieber, verehrter Freund!
Dies wird vermutlich vorerst mein letzter Brief an Sie sein, denn wie wir hoffen, werden wir Sie schon bald als Gast in unserem Haus begrüßen können. Meine Frau freut sich darauf ebenso wie ich selbst, denn es liegt ihr sehr am Herzen, meine besten Freunde zu kennen.
Sie haben sich in Ihrem letzten Brief erkundigt, wie Georg Heinrich Jahr und ich mit einer schriftlichen Zusammenfassung der interessantesten und wichtigsten Krankenberichte aus unseren Praxen vorankommen. Nun, wir mußten das Projekt ausstellen, denn ich habe mit der Überarbeitung meiner ›Chronischen Krankheiten‹ begonnen, und er ist mit seiner homöopathischen Zeitschrift mehr als genug beschäftigt. Schon das Sortieren des vorliegenden Materials wäre ja sehr zeitaufwendig, und wir kämen zu nichts anderem mehr.
Nun zu meiner Frau: Wie Sie ja wissen, behandelt sie neben den Patienten, die wir gemeinsam empfangen, längst auch ihre eigenen Fälle und tut dies ganz ohne meine Hilfe. Es sind zumeist Fälle, die sich schnell handhaben lassen: Dienstboten, Arbeiter oder Kinder, also Patienten, die aufgrund ihres jungen Alters oder beschränkter finanzieller Verhältnisse vorher nicht bei Ärzten waren, wodurch sie auch nicht medikamentös entstellt und allzu kompliziert sind. Außerdem hat sie nachmittags eine Konsultationsstunde für Arme eingerichtet, mittellose Leute, von denen sie kein Geld nimmt. Diese Leute verehren sie fast wie eine Heilige. Wenn sie durch die Straßen von Paris geht, kommt es immer wieder vor, daß man sie umringt, einfache Leute ihr etwas schenken, Kinder ihre Hand an sich drücken oder ehrfurchtsvoll küssen.
Aber egal, ob arm oder reich, berühmt oder ein ordinäres Fischweib, wir behandeln all unsere Patienten mit der gleichen Sorgfalt. Nur was das Honorar betrifft, machen wir Unterschiede. Mal verlangen wir gar nichts, mal 50 oder 100 Francs, von Reichen nehmen wir auch schon mal 200. Es kommt eben darauf an, wieviel einer zur Verfügung hat, danach richten wir uns. Trotzdem erzürnt unser bescheidener Wohlstand so manchen Neider, und man sagt uns nach, wir würden unverschämte Honorare einstreichen und das Geld dann mit beiden Händen zum Fenster herauswerfen.
Aber wenden wir uns Erfreulicherem zu: Wir hatten in letzter Zeit einige sehr interessante und schwierige Fälle, die wir zur vollsten Zufriedenheit behandeln konnten. Darunter war eine Nonne, die wegen eines Hautleidens an gewissen intimen Stellen zu uns kam und sehr froh war, daß sie sich zur Untersuchung nicht ausziehen mußte. Nennenswert ist auch ›der Fall La Brune‹ – es handelt sich um das Kutschpferd von Mélanies Vater. Der Gaul ist dem Kutscher ans Herz gewachsen wie ein eigenes Kind und war an Husten erkrankt – bei Pferden, wie man weiß, eine fatale Sache, die leicht zum Tode führt. Auch La Brune wurde wieder ganz gesund.
Ebenso Erfreuliches gibt es aus dem privaten Bereich zu berichten. Wie jedes Jahr haben wir am 10. April groß meinen Geburtstag gefeiert. Es war ein rauschendes Fest, an dem sogar der berühmte Kaffeehausmusiker Musard aufspielte, der ›Erfinder‹ der sogenannten Promenadenkonzerte, die sich hier in Frankreich immer größerer Beliebtheit erfreuen und inzwischen sogar in England Mode geworden sind. Auch Musard ist unser Patient und uns außerdem freundschaftlich verbunden.
Auf diesem Fest hätten Sie meine liebe Frau sehen sollen! Wie rot ihre Wangen glühten, als sie mit Charles, ihrem Ziehsohn, einen ausgelassenen Galopp tanzte oder mit Sébastien, einem lieben und treuen Freund, Wienerwalzer! Alle Männer lagen ihr zu Füßen! Mit Stolz kann ich sagen, sie ist nicht nur der beste Homöopath, sondern auch die schönste Frau, die ich kenne.
Auch Charles macht uns sehr viel Freude. Er ist inzwischen Apotheker und bereitet unsere Medikamente zu, wodurch wir sicher sein können, daß wir sie tatsächlich in der von uns gewünschten Aufbereitung erhalten. Nebenbei wird er Medizin studieren und sich danach von mir zum Homöopathen ausbilden lassen. Er hat ein warmes, treues Wesen und interessiert sich sehr für unsere Sache. Wir sind sehr stolz auf ihn.
Wie sie ja wissen, habe ich bereits in den letzen Monaten vor meiner Abreise aus Köthen mit einer neuen Methode zur Verabreichung homöopathische Arzneien experimentiert. Ich bin der Meinung, daß es besser ist, die Mittel nicht trocken zu geben, da sie flüssig mehr Nervenenden im Körper erreichen können. Ich löse deshalb die potenzierten Arzneien in einer Mischung von Wasser und Alkohol auf, wovon der Patient dann täglich einen Teelöffel voll einnimmt. Vorher muß die Flasche aber kräftig geschüttelt werden, denn auf diese Art erhöht sich die Potenzierung jedesmal leicht, was zur Folge hat, daß niemals exakt die gleiche Potenz eingenommen wird. Ich habe die Arzneien, seit ich in Paris bin, nur noch auf diese Weise verabreicht und damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Trotzdem experimentiere ich weiter. Wir setzen inzwischen viel höhere Potenzen ein als früher. Charles ist gerade dabei, eine Reihe von Arzneien bis zur 200 {*} zu potenzieren.
Über diese Dinge mehr, wenn Sie hier sind. Gerne können Sie dann auch in unsere Krankenjournale Einblick nehmen.
Zum Schluß noch eine traurige Nachricht. Der berühmte Bildhauer David schuf zwei Büsten von mir. Eine steht in unserem Salon – meine Gattin liebt sie beinahe so sehr wie mich und streichelt sie immer, wenn sie daran vorbeikommt. Die zweite habe ich Henry Detwiller und Constantin Hering zur Ausstattung der Allentown Academy in Pennsylvania versprochen – dabei handelt es sich um die erste homöopathische Ausbildungsstätte der Welt, die diese beiden Herren in Amerika vor etwa zwei Jahren gründeten. Als die Büste nun fertig war, schiffte ich sie wie versprochen ein, jedoch ging das Schiff unter und die Büste verloren. Nun liegt also mein Abbild irgendwo auf dem Grund des Meeres und dient den Fischen zur Erheiterung oder als Unterschlupf, wenn sie sich vor Feinden verstecken müssen. Man stelle sich vor, in einigen hundert Jahren hätte irgendein Verrückter eine Technik entwickelt, die ihm ermöglichte, in die Tiefen der Meere hinabzutauchen, und dort fände er ausgerechnet mich … nun ja, ein Abbild von mir. Vielleicht hielte er mich gar noch für einen Kaiser oder sonst ein hohes Tier!.
Nun bleibt mir nur noch, Ihnen eine gute Reise zu wünschen, und kommen Sie wohlbehalten bei uns an. Auch meine Gattin läßt Sie herzlich grüßen, und so verbleibe ich als Ihr ergebener
Samuel Hahnemann
Er faltete den Brief zusammen, versah ihn mit von Bönninghausens Adresse, versiegelte ihn und legte ihn dann zur übrigen Post, die der Kutscher morgen früh zur Poststation bringen würde.
Inzwischen war es 22 Uhr. Bestimmt war Mélanie bereits zu Bett gegangen und wartete auf ihn. Er stand auf, wollte gerade sein Arbeitszimmer verlassen, als laut gegen die Haustür gepocht wurde. Kurz danach waren auf der Treppe Schritte zu hören, dann die Stimme Jeans, des Hausdieners.
»Qu'est ce qui est là? Wer ist da?«
»Amaury Duval – ich muß Dr. Hahnemann sprechen! Es ist sehr dringend!«
Samuel wunderte sich. Amaury Duval war ein guter Freund der Familie. Warum kam er unangemeldet und mitten in der Nacht? Etwas mußte passiert sein!
Er trat auf den Flur. »Öffne, Jean«, sagte er und zu Mélanie, die im selben Moment aus dem Schlafzimmer kam: »Es ist Amaury Duval.«
Als Jean die Verrieglung zurückgeschoben und die schwere Tür aufgezogen hatte, stürmte ein kleiner, dunkelhaariger Mann herein. Er war um die Dreißig, hatte einen sehr auffälligen Schnauzbart und eine etwas schiefe, knorpelige Nase. Als er Samuel auf der Treppe sah, ging er mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie die späte Störung, Dr. Hahnemann, aber es geht um Leben und Tod!«
»Kommen Sie, Duval, wir gehen in den kleinen Salon.« Samuel sah nach oben und stellte fest, daß Mélanie sich wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, bestimmt wollte sie sich nur rasch umkleiden und würde dann zu ihnen kommen. Er schob den Freund vor sich her, schloß dann die Tür hinter ihm und bot ihm einen Platz an.
»Nun, was gibt es?«
»Man hat mich am frühen Abend zu Ernst Legouvé gerufen …«
»Sie meinen Ernst Legouvé, den Schriftsteller?«
»Ja, er hat eine ganz reizende vierjährige Tochter mit blondem, langem Engelshaar und wunderschönen blauen Augen. Doch vor etwa einem Monat ist das Mädchen schwer erkrankt. Alles fing mit Halsschmerzen an, und man dachte, sie sei erkältet. Dann jedoch kamen Übelkeit mit Erbrechen hinzu, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Fieber … Verschiedene Ärzte wurden zu Rate gezogen, Dr. Doyen, Dr. Jacobus und einige andere von bestem Ruf, aber alles wurde immer noch schlimmer. Heute hatte man die Kleine schließlich aufgegeben. Die verzweifelten Eltern schickten nach mir, damit ich zu ihrer Erinnerung ein Porträt von der Kleinen zeichnen sollte. Natürlich fuhr ich sofort hin und fand folgende Situation vor: Der Raum war heiß und stickig. Es stank nach Schweiß, Angst und Krankheit. Rotglühend lag das Mädchen in ihrem Bettchen, und es schien mir, als würde sie regelrecht verbrennen. Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich und fing an zu zeichnen. Dabei hörte ich das Weinen der Mutter, das Beten der Bediensteten, den schweren Atem des Vaters. Es war grausig. Ich zeichnete und fühlte den Tod neben mir, wie einen kalten Hauch, der voller Ungeduld nach diesem jungen Leben gierte. Als ich mit meiner Arbeit schließlich fertig war, hatte mich das Mitleid ganz aufgezehrt. Ich fragte die Eltern, ob sie schon daran gedacht hätten, Dr. Hahnemann zu konsultieren.«
Duval seufzte. Er hob hilflos die Schultern, bevor er fortfuhr: »Das hatten sie gar nicht in Betracht gezogen. Sie hatten alles Schlechte über Sie gehört. Sie wissen ja selbst am besten, wie man über Sie so redet. Daß Sie ein Scharlatan seien und mit Medikamenten behandelten, die nur aus Zucker bestünden, der in Wasser aufgelöst ist. Ich erzählte, daß ich selbst Patient bei Ihnen sei und nur die allerbesten Erfahrungen gemacht habe, und gab zu bedenken, daß sie, die Legouvés, doch nichts mehr zu verlieren hätten, falls sie es mit Ihnen versuchten!«
An dieser Stelle wurde die Tür geöffnet, und Mélanie trat ein. Sie hatte sich wieder angezogen und reichte Duval die Hand.
»Es geht um ein vierjähriges Kind, das im Sterben liegt, die Tochter von Ernst Legouvé«, erklärte Amaury.
Mélanie nickte. »Ich dachte schon, daß es sich um einen Notfall handelt, und habe den Kutscher bereits anspannen lassen. Bitte erzählen Sie einfach weiter.«
»Nun, es war auch noch ein Freund der Legouvés anwesend, ein junger Mann, der hier ganz in der Nähe wohnt, und er riet den armen Eltern ebenfalls dazu, Sie zu konsultieren. Schließlich schlug ich vor, mit dem Mann hierher zu fahren und Sie dann zu den Duvals zu bringen – vorausgesetzt natürlich, Sie sind bereit, das Kind zu behandeln.«
Mélanie und Samuel tauschten Blicke. Schließlich stand Mélanie auf und ging zur Tür. »Ich hole die Tasche und sage Rose Bescheid, damit sie unsere Mäntel bringt.«
Es war bereits elf Uhr, als sie vor dem Haus der Legouvés ankamen. Sofort wurde geöffnet, und ein Mädchen führte die Hahnemanns über eine breite Treppe und einen langen Korridor in das Krankenzimmer. Die Eltern saßen am Bett. Die Mutter blaß, vom Kummer ausgezehrt, der Vater, den Kopfschmerzen quälten, rieb sich erschöpft die Stirn. Als er aufblickte und den Arzt wahrnahm, der plötzlich in der Tür stand, kam er auf ihn zu.
»Wir danken Ihnen, daß Sie so spät noch gekommen sind!«
Ohne ein Wort ging Samuel zum Krankenbett. Nachdem er die Kleine aufmerksam betrachtet hatte, fing er an, Fragen zur Krankheit zu stellen, ohne dabei einen Blick von dem Mädchen zu lassen.
Während der Vater antwortete, brachte die Mutter einen Korb mit Arzneien, die man dem Kind verabreicht hatte. Samuel starrte die Gläser und Flaschen an. Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht, die Wangenknochen spielten, die Adern an den Schläfen schwollen an, und mit unüberhörbarem Ärger in der Stimme befahl er: »Werfen Sie das ganze Zeug fort, nichts davon darf dem Kind noch gegeben werden! Dann bringen Sie das Bett aus diesem Zimmer, nehmen Sie frische Kissen, wechseln Sie die Bett- und Leibwäsche, und geben Sie dem Kind so viel Wasser, wie es nur trinken kann! Man hat aus ihm einen brennenden Ofen gemacht – bevor irgend etwas hilft, müssen wir das Feuer in ihr löschen.«
»Aber glauben Sie denn nicht, daß wir ihr schaden, wenn wir jetzt die Wäsche wechseln … und sie in ein kühleres Zimmer bringen … Das ist doch gefährlich!« Die Mutter brach mit einem Schluchzen ab, Tränen liefen aus ihren vor Müdigkeit und Trauer rotverquollenen Augen.
»Gefährlich«, entgegnete Samuel, »sind diese Medikamente, die abgestandene Luft hier und die Hitze. Bringen Sie das Kind in den Salon – und vor allem flößen Sie ihm Wasser ein, so viel irgend möglich! Ich komme in einigen Stunden wieder, und wir werden sehen, was wir tun können.«
Ein paar Sekunden war es still im Raum. Niemand bewegte sich. Die Eltern des todkranken Kindes sahen den alten Arzt nur an. Dann nickte Ernst Legouvé plötzlich. »Alles wird gemacht, wie von Ihnen gewünscht. Auch wenn wir es nicht tun, wird unsere Kleine sterben. Die Hoffnung, daß Sie noch helfen könnten, ist alles, was wir haben.«
Als Samuel wieder kam, ging es dem Kind etwas besser. Es war nicht mehr ganz so erhitzt und ausgetrocknet. Die Kleine röchelte, der Puls war kaum zu fühlen, und als Samuel ihr den Mund öffnete, entdeckte er einen grauweißen Belag auf der Mundschleimhaut und im Rachen. Auch die Lymphknoten in den Kieferwinkeln waren geschwollen und die Milz etwas vergrößert. Er war sicher, das Mädchen litt an Diphtherie.
Große Sorgen bereiteten ihm die Herzrhythmusstörungen und der kaum noch fühlbare Puls.
Er besprach sich kurz mit Mélanie, die die ganze Zeit hinter ihm gestanden hatte, machte Bemerkungen zu den Symptomen, die ihm aufgefallen waren, begründete die Wahl der Arznei, um die er sie dann bat, und flößte dem Kind einen Teelöffel davon ein.
»Diese Arznei geben Sie ihrer Tochter stündlich. Mehr können wir jetzt nicht tun – wir müssen abwarten.« Damit stand Samuel auf, sah den vom Kummer schier verzweifelnden Eltern lange in die Augen, nickte dann und verließ mit Mélanie das Haus.
Am Abend kam er wieder, dann am nächsten Morgen. Jedesmal nickte er und sagte: »Gut, wir haben wieder einen Tag gewonnen.«
Auch den Vater, der an starken Kopfschmerzen litt, behandelte er, und der Mutter verschrieb er vor allem gutes Essen und regelmäßigen Schlaf.
Am zehnten Tag erlebte das Kind nochmals eine Krise. Die Hahnemanns kamen um acht Uhr abends und wurden wie immer vom Hausmädchen in das Zimmer der Kranken gebracht. Samuel blieb lange am Bett seiner kleinen Patientin sitzen, beobachtete jede Regung und untersuchte den Körper von Kopf bis Fuß. Besorgt stellte er fest, daß die Beine gelähmt waren, und den Puls konnte er kaum noch fühlen. Schließlich gab er dem Kind Lycopodium und sagte zum Vater: »Achten Sie sorgfältig darauf, ob der Puls bis ein Uhr kräftiger wird. Ich komme gleich morgen früh und sehe nach ihr.«
Er stand auf, ging zu Madame Legouvé, nahm sie mit väterlicher Fürsorge in den Arm und sah ihr fest in die Augen. »Verlieren Sie nicht den Mut. Die Kleine war längst aufgegeben, trotzdem haben wir bereits zehn Tage gewonnen.«
»Aber jetzt sind auch noch die Beine steif – ist das schon die Todeskälte, die unser Liebstes erstarren läßt?« Tränen quollen aus den Augen der verzweifelten Frau.
»Nein. Lähmungserscheinungen kommen bei Diphtherie vor. Glauben Sie an den Überlebenswillen Ihrer Tochter! Sie braucht jetzt alle Kraft, die Sie ihr geben können. Wenn sie diese Krise überstanden hat, ist sie endgültig über den Berg.«
Ein langgezogener Jammerlaut, ein gequältes Schluchzen war ihre Antwort. Seufzend nahm Samuel seine Tasche, dann ging er hinter Mélanie her zur Kutsche, und die beiden fuhren schweigend nach Hause.
Als sie am nächsten Morgen wiederkamen, lief ihnen nicht wie sonst das Hausmädchen, sondern die Hausfrau selbst entgegen. Sie breitete die Arme aus und fiel Samuel weinend um den Hals. »Monsieur le Docteur, sie hat es geschafft! Sie hat es tatsächlich geschafft!«
»Ja, aber warum weinen Sie denn dann?« Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Weil ich so glücklich bin! Ich hätte mein eigenes Leben gegeben für das Leben meines Kindes … und jetzt …«
»Jetzt ist es auch ohne diesen Tausch gegangen.« Samuel klopfte ihr auf die Schulter.
Madame Legouvé umarmte auch Mélanie. »Auch Ihnen müssen wir danken! Mein Gott, ich weiß gar nicht, wie!«
Während sie nach oben gingen, erzählte Madame Legouvé, was sie am Vorabend erlebt hatten. »Als Sie fort waren, setzte sich mein Mann ans Bett, hielt den Arm unserer Tochter und ließ ihn keine Sekunde mehr los. Um elf Uhr kam es ihm vor, als hätte er eine leichte Veränderung des Pulses wahrgenommen. Er rief sofort nach mir, denn ich hatte mich ein wenig hingelegt. Zusammen schauten wir nun auf die Uhr und zählten die Pulsschläge. Tatsächlich, der Puls war stärker! Noch wagten wir allerdings nicht, unserer Wahrnehmung wirklich zu glauben. Wir zählten wieder und wieder, und dabei gerieten unsere eigenen Herzen immer mehr außer Rand und Band. Schließlich waren wir sicher, und wir fielen uns weinend vor Glück in die Arme.«
Die drei waren oben angekommen. Madame Legouvé öffnete vorsichtig die Tür. Im Zimmer war niemand außer dem Kind, das schlief.
»Ich habe darauf bestanden, daß mein Mann sich hinlegt. Er ist ja nur noch ein Schatten seiner selbst.« Madame Legouvé schob einen Stuhl für Samuel ans Bett und fuhr ihrer Tochter mit einer zärtlichen Handbewegung über die Stirn.
Zufrieden stellte Samuel fest, daß der Puls deutlich kräftiger war und die Haut der Kleinen etwas rosiger aussah. Auch die Knie waren nicht mehr steif und das Fieber gesunken.
Er nahm die Hand des schlafenden Kindes und drückte sie sanft. »Du hast uns große Sogen bereitet, aber ich bin sicher, bald schon wirst du wieder lachend durchs Haus springen.«
Er stand auf, gab Madame Legouvé Anordnungen für die nächsten Stunden und versprach, am Abend noch einmal nach dem Kind zu sehen.
Eine Woche später saß die Kleine wieder aufrecht im Bett, aß mit Heißhunger Hühnerbrühe und Crêpe mit Kompott, sang mit ihrer Mutter lustige Lieder und ließ sich von ihrem Vater Geschichten erzählen.
Daß sie in Paris zu einer Sensation geworden war, ahnte sie nicht. Natürlich hatte das schwere Schicksal der kleinen Tochter des berühmten Dramaturgen und Schriftstellers die Runde gemacht. Die Pariser Gesellschaft hatte bereits mit einem pompösen Begräbnis gerechnet, einige Ärzte, allen voran Dr. Doyen, hatten sich über die Versuche eines Dr. Hahnemann lustig gemacht, ›mit nichts‹ das Leben des todgeweihten Kindes retten zu wollen.
Und nun war es also doch gelungen! Der Skandal war perfekt. Die einen sprachen von Wunder und Auferstehung, andere, vor allem die Medizinische Fakultät, zeigten tiefen Unmut.
Nicht dieser Quacksalber hat sie geheilt, sondern die Natur, war dem Leserbrief eines Arztes zu entnehmen, den eine Tageszeitung abgedruckt hatte. Und ein anderer schrieb: Ihm ist ganz einfach die allopathische Behandlung seiner Vorgänger zu Hilfe gekommen.
Die Legouvés nahmen diese Äußerungen kopfschüttelnd zur Kenntnis. Sie hatten nicht geahnt, mit wieviel Neid und Haß man diesem Arzt begegnete, der mit soviel Aufopferung und fachlicher Kenntnis das Leben ihrer kleinen Tochter gerettet hatte, und sie wußten auch nicht, wie sie ihm zur Seite springen konnten. Doch vollkommen fassungslos waren sie, als ein Arzt sich nicht einmal schämte zu sagen: »Ich bedauere sehr, daß das Kind nicht gestorben ist.«