Abschied von Paris

Joachim holte die Kisten und Koffer aus dem Keller, und Mélanie begann mit Anne-Maries Hilfe, die Krankenjournale einzupacken. Das Mädchen nahm sie der Reihe nach aus dem Regal, staubte sie ab und gab sie an ihre Herrin weiter.

Die Journale waren nach Jahren geordnet – 54 große Lederbände, die Ecken zum Teil durchgestoßen, bei manchen zeigten sich Schrammen im Einband, oder die vergilbten Blätter waren eingerissen.

Der erste Band stammte aus dem Jahre 1801. Mélanie schlug ihn lächelnd auf. Als Samuel sich über diese Blätter gebeugt hatte, um zu notieren, was seine Patienten quälte, war sie noch nicht einmal ganz ein Jahr alt gewesen, und doch war schon das Schicksalsband für sie gewoben. Ein feiner, silberner Faden, leuchtend wie das von Tau benetzte Gewebe einer Spinne im Mondlicht, das von hier nach da gespannt wurde, um ihre Herzen zu verbinden.

Sie stellte den Band in die Kiste und nahm aus Anne-Maries Hand den nächsten entgegen. So arbeiteten die Frauen still vor sich hin. Manchmal schlug Mélanie eines der Journale auf, um ein wenig darin zu lesen. Dann bewegte sie murmelnd die Lippen, und ihr Finger fuhr zärtlich über die Zeilen, als könnte sie so Kontakt zu Samuel aufnehmen. Ihn berühren und liebkosen, indem sie über die Buchstaben strich, die seine Hand geschrieben hatte.

Je weiter die Aufzeichnungen in den Jahren fortschritten, desto öfter entdeckte sie Berichte über Patienten, die sie selbst kannte. Patienten, die Samuel bereits in Köthen aufgesucht hatten und später auch nach Paris kamen. Schließlich hielt sie den ersten der Bände im Schoß, an denen sie selbst mitgewirkt hatte. Ihre steile, akkurate Schrift, ihre erste Annäherung an die Homöopathie.

Mélanie legte eine Hand auf das Buch und schloß die Augen. Ein Gefühl von Wärme stieg in ihr auf, ein Gefühl des Glücks und der Trauer. Ihre schönsten Jahre waren die wenigen an Samuels Seite gewesen. In diesem Band und in den siebzehn folgenden aus ihrer gemeinsamen Pariser Zeit waren sie festgehalten. In all den Minuten, Stunden und Tagen, an denen sie dies geschrieben hatte, gab es auch Blicke zwischen ihnen, Berührungen, Gedanken, die sie verbanden. Gemeinsame Erlebnisse, von denen sie beseelt wurden. Nächte, die sie am Morgen noch zwischen ihren Schenkeln spürte. Vorbereitungen zu Festen. Paganini oder Sébastien – hier waren nicht nur die Krankheiten ihrer Patienten festgehalten, sondern, wie hinter einem Schleier verborgen, auch ihr eigenes Leben.

»Aber Madame, Sie weinen ja …« Anne-Marie legte eine Hand auf Mélanies Arm. »Wenn es zu anstrengend für Sie ist, könnten wir auch morgen weitermachen.«

Mélanie sah das Mädchen an. »Nein, die Zeit drängt! Eine Tasse Kaffee würde mir allerdings jetzt guttun. Haben wir noch Kaffee im Haus?«

»Für ein oder zwei Tassen reicht es gerade noch.«

»Dann mach drei Tassen draus und schenk dir und Joachim auch eine ein. Und frag Joachim, ob er Monsieur Colbert erreichen konnte.«

»Ja, Madame – danke, Madame!«

Als Mélanie allein war, ging sie zu dem großen Spiegel, der über dem Kamin hing, und starrte hinein. Sie war alt geworden. Siebzig Lebensjahre, nicht wenige voller Entbehrungen und Kummer, hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihr Haar war grau, ihre Haut dünn geworden, und doch galt sie immer noch als elegante Erscheinung. Es war ihre aufrechte Haltung, ihr hoch erhobenes Kinn – niemand hat es geschafft, daß sie sich unter der Last, die man ihr aufbürdete, klein machte und duckte.

Sie hob ihre Hand und strich versonnen über die Uhr, die auf dem Kaminsims stand, die einzige, die ihr aus Samuels Sammlung geblieben war. Alle anderen hatte sie in Notzeiten verkaufen müssen. Sie würde sie einpacken lassen und mitnehmen, um auf ihr die letzten Jahre, Tage, Stunden zu zählen, die sie noch von Samuel trennten.

Im Tod wieder vereint sein mit ihm! Es gibt so viele Tode im Leben, da ist der letzte nicht der schlechteste!

Sie ging zum Bücherschrank, zog den Band mit Samuels Manuskripten zur sechsten Auflage des Organon heraus, setzte sich damit ans Fenster und blätterte darin. Tränen verschleierten ihren Blick. Weil sie dieses Manuskript gegen alle Widrigkeiten bewahrt hatte, für eine Zeit, in der Samuels Saat auf fruchtbaren Boden fallen konnte, hatte man sie angefeindet und beschimpft. Man hatte sie stur, selbstsüchtig, verantwortungslos genannt. Man hatte sie ausgeschlossen und sogar verspottet, hatte den ganzen Haß auf ihren Schultern abgeladen, mit dem man zu Samuels Lebzeiten auf ihn losgegangen war. Vor allem hatte man sie vollkommen allein gelassen mit all den Ungeheuerlichkeiten, die Samuel noch nach seinem Tod angetan worden waren. Dr. Lutze und Samuels Enkel Leopold hatten eigene Überarbeitungen als sechste Auflage des Organon herausgebracht. Lutze hatte dabei gar die Behauptung aufgestellt, Samuel hätte vorgehabt, die Gabe von zwei Arzneien zur gleichen Zeit anzuraten. Er hatte sich erdreistet, Samuels Namen für sich und sein Werk zu benutzen und Geld daraus zu schlagen. Schließlich hatte man sie sogar der Lüge bezichtigt! Sie hätte ja gar kein Manuskript, es gäbe gar keine neue Überarbeitung.

»Ach Samuel!« Mélanie seufzte auf und wischte sich die Tränen ab. »Soviel Leid hat mir der Auftrag gebracht, den du mir am Sterbebett gabst – hättest du es geahnt, vielleicht hattest du diese Schrift hier in die Seine geworfen, um mich vor ihr zu beschützen. Und doch bin ich froh, daß du es nicht getan hast. Ich habe das Manuskript so lange auf meinen schmalen Schultern mit durch mein Leben geschleppt, und jetzt werde ich es auch noch vor dem lodernden Feuer eines neuen Krieges retten. Die Menschen tun einander unendliches Leid an. Immer war es so, und es wird wohl nie anders werden. Früher habe ich mich danach gesehnt, daß du wieder mit mir leben könntest. Jetzt sehne ich mich mehr und mehr danach, mit dir in der Stille des Todes vereint zu sein. Ich bin alt geworden. Und doch bin ich noch nicht einmal so alt, wie du warst, als ich dich kennen- und liebenlernte.«

Mélanie zuckte zusammen, denn plötzlich stand Anne-Marie vor ihr. »Madame, der Kaffee.«

»Danke, stell ihn auf den Tisch.«

»Monsieur Colbert läßt ausrichten, er kommt noch heute Abend.«

»Ja.« Mélanie nickte. »Das ist gut – très bien.«

Anne-Marie hatte Sébastien Überzieher, Zylinder und Stock abgenommen und ihn in den Salon gebracht. Als er den Raum betrat, stand Mélanie auf und kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen.

»Da bist du ja!« Sie küßte ihn auf die Wange, dann sah sie ihn forschend an. Noch immer war er ein gutaussehender Mann. Groß und schlank, mit sprechenden blauen Augen, die den Blick der Frauen fesseln konnten. Doch sein dunkles Haar war grau geworden, und seine Hände zitterten manchmal ein wenig, wenn er die Schreibfeder hielt oder rauchen wollte und sich Feuer gab.

»Ich wäre ohnehin gekommen, auch wenn du nicht nach mir geschickt hättest«, begann er ohne Einleitung, setzte sich auf das Sofa, das vor dem Kamin stand, und zog sie neben sich. »Ich erfuhr von den beiden Deutschen, die sich erhängt haben, nachdem sie ihr Kind ermordeten – es sind doch Freunde von Sophie?«

»Aber es war kein Selbstmord – es war ein feiger, verabscheuungswürdiger Meuchelmord!« Mélanie erzählte ihm, was Karl erlebt hatte und daß sie nun nach Westfalen unterwegs waren, um dort für eine Weile auf dem Gut von Karls Familie zu leben.

»Das ist ja entsetzlich!« Sébastien starrte Mélanie an. Dann seufzte er. »Es gab auch in unserer Straße Übergriffe. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, um dich nicht zu ängstigen: Man hat eine Frau aus dem Fester geworfen, aus dem dritten Stock. Eine Nachbarin hat es beobachtet. Die Frau war Französin, jedoch mit einem Deutschen verheiratet. Der Krieg wird weitergehen, der Haß gegen die Deutschen ist abgrundtief. Ich mache mir Sorgen um dich! Du mit deinem deutschen Namen! Warum bist du nicht mit Sophie und Karl nach Deutschland gefahren?« Er nahm sie an den Schultern, drehte sie zu sich und sah ihr eindringlich in die Augen. »Du solltest das Land verlassen. Wenigstens für eine Zeit, bis sich die Wogen geglättet haben!«

»Ja, du hast recht. Ich werde den Kindern folgen, aber es geht nicht allein um mich. Ich muß die Krankenjournale und Manuskripte mitnehmen. Hier wären sie nicht sicher.«

»Mitnehmen? Die Krankenjournale?« Sébastien schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich – sie füllen mehrere große Kisten! Du müßtest sie als Frachtgut aufgeben, aber …«

»Niemals würde ich sie unbeaufsichtigt auf den Weg schicken!«

»Andernfalls brauchtest du eine Kutsche. Wie willst du das alleine bewerkstelligen? Es wäre viel zu gefährlich.« Er brach ab. Es war Wahnsinn! Eine Frau alleine! Mit einem deutschen Namen! Und schweres Gepäck im Wagen! Spätestens an der Grenze würde man sie aus der Kutsche zerren und ihrer Reise oder gar ihrem Leben ein Ende setzen.

Andererseits war ihm klar, daß Mélanie Samuels Vermächtnis wichtiger war als ihr eigenes Leben. Um die Journale außer Landes zu schaffen, würde sie alles riskieren.

Er seufzte. »Ich weiß, man kann dich nicht umstimmen, deshalb werde ich mit dir reisen.« Er dachte kurz nach, dann beschloß er: »Wir nehmen meine Kutsche und fahren noch heute nacht!«

»Nein.« Mélanie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht heute. Ich kann Paris nicht verlassen, ohne noch einmal bei Samuel gewesen zu sein. Ich möchte auch nicht, daß du dich meinetwegen in Gefahr bringst. Du bleibst hier, und ich werde eine Kutsche mieten.«

Sébastien nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie zärtlich an. »Du weißt, ich habe dich immer geliebt, und ich habe immer getan, was du von mir verlangt hast, aber dieses eine Mal tust du, was ich von dir verlange. Wir nehmen meine Kutsche, und ich begleite dich. Wenn es nicht anders geht, dann eben morgen früh, und ich bringe dich vorher noch zum Friedhof. Ich komme mit dir nach Deutschland und reise erst zurück, wenn ich dich in Sicherheit weiß!«

Lange und schweigend sahen sie sich in die Augen. Dann nickte Mélanie. »Gut. Ich bin einverstanden.«

Er ließ sie los, und ihr Kopf sank auf seine Brust. »Ich liebe dich auch, Sébastien, aber mein Herz war nie frei. Ich gehöre zu Samuel, und es wäre nicht richtig gewesen, wenn ich deine Frau geworden wäre.«

Er legte seine Hand auf ihren Rücken. Sie war groß und warm, und Mélanie schloß die Augen und lächelte. Für einen kleinen Moment war sie ganz und gar glücklich.

Als Sébastien gegangen war, schickte sie Anne-Marie, damit sie Joachim holte.

Es klopfte leise, und die beiden betraten den Salon.

Mélanie deutete auf das Polster neben sich. »Kommt, setzt euch zu mir an den Kamin.«

Joachim wollte lieber stehen bleiben, doch Mélanie beharrte darauf.

»Daß ich Frankreich für eine Weile verlassen werde, wißt ihr. Ich habe darüber nachgedacht, was mit meinen Sachen geschehen soll – und mit euch.« Sie sah Anne-Marie an. »Ich war sehr zufrieden mit dir und entlasse dich nur ungern aus meinen Diensten, aber ich weiß nicht, wann ich wiederkommen werde, und muß deshalb meinen Hausstand auflösen. Ich schreibe dir eine Referenz, so daß du eine gute Stellung finden wirst.«

Dann sah sie Joachim an. »Dich wollte ich bitten, all das, was ich hier lassen muß, in mein Haus nach Versailles zu bringen und dort zu wohnen und für alles zu sorgen, bis ich zurückkommen kann. Wenn du lieber eine andere Arbeit annehmen möchtest, bin ich dir natürlich nicht böse, doch es wäre mir recht, du würdest das Haus bewohnen und hegen, als ob es dein eigenes wäre.«

Joachim sah sie erschrocken an. »Aber, Madame, ich kann doch nicht in Ihrem Haus leben wie ein Herr.«

»Ach, was ist schon ein Herr!« Mélanie lächelte müde. »Ich habe in meinem Leben viele Herren gesehen, denen es gut angestanden hätte, einmal für ein Weilchen zu dienen. Warum also solltest du, der ein ganzes Leben lang treu gedient hat, nicht für ein paar Monate in meinem Haus leben wie ein Herr.«

Joachims Augen füllten sich mit Tränen. Seine runzligen Hände mit den von der Gicht gekrümmten Fingern zitterten, als er nach seinem Taschentuch griff und sich damit über das Gesicht fuhr.

Mélanie wandte sich wieder an Anne-Marie. »Ich werde ein paar Kleider und persönliche Gegenstände herauslegen, die du mir bitte einpackst. Auch die Uhr auf dem Kaminsims will ich mitnehmen. Von den Kleidern, die hierbleiben, sollst du dir nehmen, was du brauchen kannst. Wenn morgen sehr früh die Kutsche von Monsieur Colbert kommt, schafft das Gepäck und die Kisten mit den Journalen hinaus, und sorgt dafür, daß alles sicher verladen wird. Diese Kiste –« Mélanie deutete auf eine kleinere Kiste, in der sich Samuels Briefe und das überarbeitete Manuskript zur sechsten Auflage des Organon befanden – »möchte ich im Wageninneren bei mir haben.«

»Ja, Madame.« Anne-Marie knickste. »Ich werde dafür sorgen.«

Das Mädchen hatte Tränen in den Augen. Mélanie legte ihr die Hand auf den Arm. »Na, nun weine doch nicht. Bald scheint die Sonne wieder über Paris, und du wirst deinen Weg schon finden.«

»Weiß nicht, vielleicht. Aber der Krieg … und ich wäre viel lieber bei Ihnen geblieben.«

»Ja, der Krieg.« Mélanie seufzte. Sie nahm das Mädchen und den alten Mann in den Arm.