Anfeindungen

»Das mußt du hören!« Ohne anzuklopfen, stand Mélanie plötzlich in Samuels Arbeitszimmer, ihr Gesicht war weiß vor Zorn. »Hier ist ein Artikel über dich, geschrieben von einem gewissen Christian Labourier . Ich weiß, daß dieser Schmierfink ein guter Bekannter von Doyen ist, ich habe ihn des öfteren in seiner Begleitung gesehen. Es ist also klar, wem du diese Verleumdungen zu verdanken hast.« Laut las sie vor: »…  möchte sich Dr. Samuel Hahnemann, der zuletzt in Deutschland, in der Hauptstadt des Herzogtums Anhalt-Köthen praktizierte, hier bei uns in Paris niederlassen, um sich als großer Arzt und ruhmreicher Begründer seiner neuen Heilmethode hervorzutun. Es mag Leute geben, die sich blenden lassen und der Homöopathie, wie er seine Methode nennt, Vertrauen schenken. Doch nicht ohne Grund hat dieser Mann in Deutschland die gesamte Ärzte- und Apothekerschaft gegen sich aufgebracht und sich schließlich nach Frankreich abgesetzt.

Die Liste seiner ärztlichen Verfehlungen mag lang sein. Hier seien jedoch nur zwei Fälle erwähnt, die uns zu denken gaben.

Zuerst starb dem ›Grande homme ‹, wie ihn seine Frau, die Marquise d'Hervilly, so gerne zu nennen pflegt, ein Kind unter den Händen weg. Ein Junge, der von einem tollen Hund gebissen war. Ein erfahrener Wundarzt wollte dem Kind die Bißwunde ausschneiden, aber Hahnemann gedachte sich als Wunderheiler hervorzutun und verabreichte dem armen Opfer seiner ›Heilkunst‹ eines seiner Zuckerkügelchen, die, wie man weiß, mit nichts als Wasser getränkt sind. Natürlich starb der junge. Aber anstatt die schwere Schuld auf sich zu nehmen, behauptete der selbsternannte Wunderheiler, man hätte das Kind einfach nur zu spät zu ihm gebracht.

Aus unerfindlichen Gründen brachte niemand die Sache zur Anzeige. Als Hahnemann jedoch einen zweiten Todesfall verursachte, wurde er mit Schimpf und Schande aus Leipzig vertrieben, der Stadt, in der er damals noch praktizierte. Es geht in dieser Sache um den Fürsten Karl von Schwarzenberg, der an einer beginnenden Verkalkung der Venen litt. Der Mann war nach Leipzig gekommen, um sich in Hahnemanns ärztliche Obhut zu begeben. Bei richtiger Behandlung hätte er noch gut und gerne ein paar Jahre leben können, doch mit Hahnemanns Hilfe verstarb er bereits nach sechs Monaten, hingerafft durch einen Schlaganfall. Aber wen wundert das schon, wenn er, wie bei Hahnemann üblich, mit ›nichts‹ behandelt wurde?«

An dieser Stelle schnaubte Mélanie vor Wut. Die linke, freie Hand drückte sie, zur Faust geballt, gegen die Brust.

»Zurück bleibt zweierlei«, fuhr sie fort. »Zuerst die Frage, warum es doch immer wieder Menschen gibt, die auf eine Methode hereinfallen, die ganz offensichtlich einer schillernden Seifenblase gleicht – einer Seifenblase, der es zwar gelingt, eine Weile dahinzuschweben, die aber, wie jeder weiß, schon bei der leichtesten Berührung zerplatzen wird. Als zweites bleibt die Hoffnung, daß unser Bildungsminister uns vor solchen Ärzten zu schützen weiß, indem er ihnen nicht erlaubt, in unserer Stadt zu praktizieren und ihr zweifelhaftes Werk an ihren Bürgern zu vollenden.«

Mélanie schleuderte die Zeitung auf Samuels Schreibtisch und tippte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Artikel. »Wir sollten ihn anzeigen, diesen … diesen Schreiberling!«

»Ach Mélanie …« Samuel schüttelte seufzend den Kopf. »Solche Artikel gehören zu meinem Leben wie der alljährliche Schnupfen im Winter zu unserem Kutscher. Eine Anzeige würde überhaupt nichts bringen – im Gegenteil. Doyen hätte erreicht, was er will: Sein Freund könnte darüber berichten, und die öffentliche Aufmerksamkeit wäre weiterhin auf uns gerichtet. Glaube mir, es ist besser, diese Dinge einfach zu ignorieren.«

»Ignorieren!« Sie warf die Arme hoch. »Das Kind war bereits todgeweiht, du hast es mir selbst erzählt.«

»Richtig. Ihm auch noch ein großes Loch ins Fleisch zu schneiden wäre grausam gewesen. Zumal längst erwiesen ist, daß eine derartige Operation nicht hilft. Und was Karl von Schwarzenberg betrifft, der war, als er zu mir kam, von den Ärzten längst aufgegeben. Er litt an fortgeschrittener Arteriosklerose, und das eigentliche Wunder war doch, daß er dank meiner Hilfe noch ein halbes Jahr am Leben blieb. Aber diejenigen, die solch einem Artikel Glauben schenken, kann man so oder so nicht überzeugen. Am allerbesten läßt man Gras über die Sache wachsen – ein kalter Wind verweht genauso wie ein warmer.« Er lächelte und winkte Mélanie zu sich. »Komm her, liebes Kind!« Er zog sie auf seinen Schoß. »Hör auf, dir Gerechtigkeit für mich zu wünschen. Du wirst nur enttäuscht werden.«

»Aber begreifst du denn nicht, warum Doyen diesen Artikel schreiben ließ – er will verhindern, daß du eine Genehmigung bekommst und anfängst zu praktizieren!«

»Ja, natürlich begreife ich das.« Wieder seufzte Samuel. »Was das betrifft, müssen wir eben einen Weg für uns finden. Es gibt doch einige Homöopathen in Paris, die erfolgreich behandeln. Da wird man schließlich dem Begründer der Homöopathie nicht alle Türen verschließen, nur weil ihm ein paar Neider nicht gut gesonnen sind.«