Das Fest

10. August 1836

Arnaud Citron , Journalist bei Le Temps , war klein und dick und trug eine Brille, die ein wenig schief auf seiner Nase saß. Charles hatte ihn eingeladen, sie kannten sich von einer Reise nach Chartres. Die beiden jungen Männer standen an einem der Fenster und beobachteten das Geschehen.

»Und Dr. Hahnemann feiert den Jahrestag seiner Promotion seit 1779? Und immer mit einem so großen Fest?« fragte Citron erstaunt.

»Früher wohl eher mit einem Stück Fleisch oder einem Glas Weizenbier. Das war schon mehr, als er sich leisten konnte, denn er war arm wie eine Kirchenmaus. In den letzten Jahren allerdings begeht er diesen Tag so festlich wie seinen Geburtstag! Mit einem Bankett oder einer Soiree. Eigentlich sei die Promotion ihm noch wichtiger als der Geburtstag, sagt er. Denn damit wurde doch erst der Grundstein für sein weiteres Leben gelegt.«

Ein kleines Orchester spielte eine Polka. Am Eingang zum Salon erschien eine junge Frau mit einem Kind an der Hand. Ein Mädchen mit blonden Stocklocken und einer großen blauen Schleife im Haar.

»Eine Enkelin von Dr. Hahnemann?« fragte Citron.

»Nein. Das ist Sophie, die Tochter Anton Bohrers.«

»Anton Bohrer – etwa einer der Musikerbrüder Anton und Max Bohrer aus Deutschland, die in ganz Europa gefeiert werden? Sind sie denn auch hier?«

Charles lachte. »Du bist ja ganz blaß vor Ehrfurcht! Ja, sie sind auch hier. Dort drüben, die beiden Herrn, die sich so angeregt mit Madame Hahnemanns Vater, dem Compte Joseph d'Hervilly, unterhalten.«

»Und die gutaussehende Frau? Zu welchem der Brüder gehört sie?«

»Zu keinem. Das ist meine Schwester Éa.«

»Du hast eine Schwester?«

Wieder lachte Charles. »Warum nicht? Traust du mir eine Schwester etwa nicht zu?«

»Doch, aber du hast nie über sie gesprochen.«

»Sie lebt nicht in Paris, wir sehen uns nur selten.«

»Und wer sind die Herren dort drüben?«

»Das sind Kollegen von Dr. Hahnemann. Der mit dem Backenbart ist Dr. Chatron, daneben Georg Heinrich Jahr. Er ist Deutscher und nach Paris gezogen, um Hahnemann in der Praxis zu helfen. Außerdem gibt er eine homöopathische Zeitschrift heraus und erweitert sein Repertorium.«

»Was ist ein Repertorium?«

»Eigentlich hatte ich dich als Freund eingeladen. Jetzt bricht der Journalist in dir durch, und du löcherst mich mit Fragen!«

Arnaud Citron grinste. »Tut mir leid, ich kann nicht anders. Außerdem würde ich natürlich gerne über dieses Fest schreiben. Meinst du, Dr. Hahnemann hätte etwas dagegen?«

»Kommt drauf an, was du schreibst. Lügen und Gemeinheiten wurden genug verbreitet. Wenn du dich unter die Schmierfinken einzureihen gedenkst, sind wir geschiedene Leute.«

»Unsinn, das würde ich nie tun. Also, was ist ein Repertorium?«

»Ein Verzeichnis der Arzneien, die bereits geprüft sind. Ausführliche Mittelbildbeschreibungen, an denen sich die Homöopathen orientieren können. Jahr hat vor langer Zeit ein solches Verzeichnis geschrieben. Inzwischen gibt es aber sehr viel mehr geprüfte Mittel, und ohne Erweiterung wäre es nutzlos.«

»Ah, ja.« Citron nickte. Ein anderer Mann erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. »Und der dort?«

»Das ist Sébastien Colbert, ein Anwalt und Freund der Familie. Die Herren, auf die er jetzt zugeht, kennst du aber bestimmt?«

»Natürlich. Rechts, das ist der Porträtmaler Henry Cheffer und links Pierre-Jean David, der Bildhauer, der sich David d'Angers nennt und Büsten oder Bronzemedaillons von so bekannten Persönlichkeiten wie Napoleon, Goethe oder Balzac geschaffen hat.«

Plötzlich riß sich die kleine Sophie von der Hand ihrer Mutter los und lief zu Samuel. Er hob sie auf seine Knie, wo sie nun lachend herumsprang und tanzte. Ab und zu tat er, als ließe er sie herunterfallen, um sie scheinbar im allerletzten Moment doch noch aufzufangen, was das Kind veranlaßte, zu quietschen wie ein Ferkel, das man von der Mutter wegtrieb.

Samuel hatte seine wahre Freude an der kleinen Sophie und dem fröhlichen Spiel. Er liebte Kinder über alles, und in solchen Momenten betrauerte er, daß er zu seinen eigenen Kindern und Enkeln so wenig Kontakt hatte.

Sein Sohn Ernst war bereits im Alter von drei Monaten bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen. Friederikes Zwilling war tot geboren worden, Karoline bereits als junge Frau gestorben. Und die anderen waren in alle Winde zerstreut oder nahmen ihm übel, daß er nach dem Tod ihrer Mutter bei einer anderen Frau ein neues Glück gefunden hatte.

Anton Bohrer ging zu Hahnemann und nahm die kleine Sophie auf den Arm. »Du darfst gleich etwas tun, was sonst nur Königinnen tun!«

Sophie sah ihn mit großen Augen an. »Eine richtige Krone tragen?«

»Nein. Noch viel besser – du darfst ein Denkmal enthüllen!«

Er übergab die Kleine an David, der sie an der Hand nahm und mit ihr zu einem Sockel ging, auf dem eine Büste stand, die mit einem roten Seidentuch abgedeckt war.

David schlug mit einer Gabel gegen ein Glas und wartete, bis es still war, damit er seine Rede halten konnte.

»Liebe Gäste, verehrter Dr. Hahnemann!« David sah Samuel an, der lächelnd nach der Hand seiner Frau griff und sie zu sich zog. In einem weinroten Kleid aus Organza, die Keulenärmel wie der Saum mit Silberperlen bestickt, die Haare aufgesteckt und seitlich mit dunkelroten Blüten verziert, stand sie neben ihm und strahlte ihn an.

»Wir kennen uns nun einige Monate und haben viel Zeit miteinander verbracht. Teils in meinem Atelier, teils in Ihrer Praxis, denn ich bin Ihr Patient, und Sie haben für mich Modell gesessen. So haben wir uns gegenseitig Einblick in unser Wesen gewährt und uns ein Stück weit ergründet. Sie mich auf dem Papier über eine Anamnese, ich Sie mit dem Meißel auf Stein. Aber ob so oder so, ob im Gespräch oder im Hall meiner Hammerschläge – wir lernten uns dabei kennen, und so glaube ich inzwischen eine ganze Menge über Sie zu wissen.«

David sah Samuel einige Sekunden nachdenklich an, bevor er seine Erkenntnisse in Worte faßte: »Es gibt gewisse Situationen, in denen Sie sehr ungeduldig werden können – und doch sind Sie der geduldigste Mensch, wenn es darum geht, einem Kranken Achtung, Aufmerksamkeit, ja sogar Liebe entgegenzubringen. Ich habe Sie als Ankläger erfahren, als Mann, der gnadenlos und rechthaberisch erscheint, wenn man ihm mit Ignoranz und Dummheit begegnet – und doch sind Sie der gütigste und liebevollste Mensch, wenn Sie an Ihrem Gegenüber Herzensbildung und Zivilcourage erkennen. Sie sind, verzeihen Sie, uralt und gleichzeitig so jung und dem Leben zugewandt wie kaum ein Zwanzigjähriger. Sie sind ein Freidenker, und doch haben Sie eine Heilmethode entwickelt, die sich strengsten Grundsätzen unterordnen muß, will sie funktionieren. Kurz – Sie scheinen auf den ersten Blick so widersprüchlich zu sein wie Gott und der Teufel. Aber auch Gott und der Teufel sind ja zwei Seiten derselben Medaille, und wir wissen, daß der eine ohne den anderen nicht existieren könnte.«

Samuel nickte. »Wie wahr! Aber mich mit dem Teufel zu vergleichen ist natürlich schon ein großes Wagnis – für den Teufel!«

Die Gäste lachten, Mélanie und Samuel tauschten verliebte Blicke.

»Teufel hin, Hahnemann her – auf jeden Fall haben Sie es geschafft, all die scheinbaren Widersprüche in sich zu vereinen und zu einer Art von Vollkommenheit werden zu lassen, die man nicht oft bei einem Menschen findet. Ich sage das nicht, um Ihnen zu schmeicheln, lieber Freund. Ich sage es, weil es das ist, was mir dieser Stein …«, er legte seine Hand auf das roten Seidentuch, unter dem die Büste verborgen war, »von Ihnen erzählt hat. Ich habe ihn über eine lange, lange Zeit hin bearbeitet, um ein Bildnis von Ihnen zu schaffen. Ein Bildnis, das Ihnen hoffentlich gerecht werden kann und dem aufmerksamen Betrachter, also dem, der nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen sieht, etwas von Ihrem vielschichtigen, tiefgründigen Wesen offenbart.«

Er beugte sich zu Sophie und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf die Kleine nickte und an dem Seidentuch zog. Es rutschte von dem glatten Stein, Samuels Büste kam zum Vorschein, und alle klatschten Beifall.

Samuel war gerührt. Er hatte Tränen in den Augen, die er mit dem Handrücken abwischte, bevor er aufstand und zu David d'Angers kam, um ihn zu umarmen.

»Danke, lieber Freund! Bei all den Anfeindungen, denen ich ausgesetzt bin, tut es mir gut, solche Worte über mich zu hören.«

Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete die Büste. »Nun, die Nase ist ein wenig spitz geraten!« sagte er schließlich. »Aber das ist wohl nicht Ihr Fehler, sondern der meines Vaters, der sie mir in einer glückseligen Nacht mitsamt allem anderen, was an meinem Äußeren nicht so gut gelungen ist, mit auf den Weg gegeben hat.«

Die Gäste lachten, und Samuel wandte sich um. »Na, nun kommt schon her, das müßt ihr euch aus der Nähe ansehen!«

Während man sich um die Büste drängte, erklang Musik, und die Diener brachten Getränke. Es wurde angestoßen, gelacht, und man forderte Samuel auf, mit seiner Frau zu tanzen.

Er drehte sie im Walzertakt, die anderen klatschten dazu. Dann übergab er sie an Charles und setzte sich wieder in seinen Sessel, von wo aus er dem ausgelassenen Treiben seiner Gäste zusah.

Nach einer Weile kam Dr. Chatron zu ihm. Mit einem Nicken deutete er auf Sébastien. »Wie ich sehe, zählt Monsieur Colbert nun zu Ihren Freunden? Hat sich diese unglückselige Geschichte, damals, als Ihre Frau zu einem Kind gerufen wurde, das es dann gar nicht gab, denn aufgeklärt?«

»Ja, es hat sich aufgeklärt. Am Tag, als der Arc de Triomphe eingeweiht wurde, hat er mir das Leben gerettet und seines dafür riskiert. Da mußte ich ihm zuhören und einsehen, daß wir ihm Unrecht getan hatten. Sébastien Colbert war selbst hereingelegt worden. Wie sich herausstellte, war es ein Komplott zwischen seinem Onkel und seinem Hausmädchen. Und was meine Frau betrifft … Sie wissen selbst, wie treu sie zu mir steht. Es gibt also keinen Grund, warum ich diesem Mann meine Freundschaft verwehren sollte.«

Dr. Chatron nickte. »So gesehen, haben Sie recht, aber die Damen und Herren der Pariser Gesellschaft vergessen nichts! Man zerreißt sich bereits die Mäuler. Gerüchte gehen um, daß Sie von Ihrer Frau und Sébastien Colbert schamlos betrogen und hintergangen werden. Ich wollte es Ihnen nur sagen, damit Sie gewappnet sind.«

»Ich weiß, Chatron, Sie meinen es gut, doch Sébastien gehört inzwischen fast schon zur Familie.« Er sah Dr. Chatron nachdenklich an, dann sagte er: »Was die Lästermäuler betrifft – ein Berg ist für die Wolken dasselbe wie ein Baum für die Hunde. Hauptsache ist, wir wissen, ob wir ein Berg oder ein Baum, ein Hund oder die Wolken sind. Und darum: Was die Leute sagen, interessiert mich nicht.«

Vier Wochen später zog das Ehepaar Hahnemann in das neue Haus in der Rue de Milan, am Rande der Stadt. Alles wäre wunderbar gewesen, hätte es nicht wieder neue Anschuldigungen gegeben. Es wurde behauptet, Hahnemann hätte den Tod eines jungen Kaufmanns verursacht. Es war aber Mélanie, die Monsieur Barbéris behandelt hatte – einen Neffen des Kutschers ihres Vaters, der sich tief verschuldet hatte, um aus dem Nichts einen Reithosenhandel aufzubauen.

Zufällig war sie bei ihrem Vater gewesen, als Monsieur Barbéris mit letzter Kraft die Türglocke zog. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn, das Gesicht vor Schmerzen zu einer Grimasse verzogen, stand er da und bat darum, seinen Onkel sprechen zu dürfen. Doch das Mädchen, das ihm geöffnet hatte, holte nicht nur den alten Henry, sondern auch Mélanie, die gerade dazukam, als der Sterbende seinen Onkel anflehte, sich um seine Frau und das Neugeborene zu kümmern.

»Ich habe höllische Schmerzen im Bauch! Onkel, ich weiß, daß ich sterben werde. Ich bitte dich, sorge nach meinem Tod für Louise und unser Kind! Du mußt Louise heiraten! Ohne dich landen sie beide auf der Straße! Ich kann diese Welt nicht verlassen, wenn du mir nicht versprichst, für sie zu sorgen!«

Mélanie hatte dem Sterbenden dann einige Globuli Arsenicum gegeben, weil es den Bauchschmerzen entsprach und weil es einem Sterbenden Erleichterung verschaffte. Später hatte sie mit Samuel darüber gesprochen, und er hatte bestätigt, daß er genauso gehandelt hätte. Woher man aber wußte, daß Monsieur Barbéris in seiner letzten Stunde überhaupt von einem der Hahnemanns behandelt wurde, blieb unklar. Weder der Kutscher noch Mélanies Vater hatten etwas darüber verlauten lassen. Vermutlich hatte das Dienstmädchen über den Vorfall geredet, und man hatte den Namen Hahnemann in Zusammenhang mit Homöopathie unweigerlich mit Samuel in Verbindung gebracht.

Da die Gerüchte nun einmal in Umlauf waren, sprach sich Samuel dafür aus, den Irrtum nicht aufzuklären. »Am besten äußern wir uns überhaupt nicht dazu und lassen die Leute glauben, was sie wollen.«

Mélanie trug die Vorkommnisse zur Sicherheit ins Patientenbuch ein. Sie notierte alles genauestens: Datum und Uhrzeit, den Hergang, die Symptome, die ihr von dem Sterbenden berichtet worden waren und die auf einen Magendurchbruch hinwiesen, die genaue Mittelgabe und auch den Namen des Arztes, der Monsieur Barbéris vor seinem Tod behandelt hatte. Sie schrieb sogar darunter: Kein Honorar verlangt. Nur ob von ihr oder von Samuel behandelt worden war, ließ sie offen.

Die unglückselige Geschichte verfolgte die Hahnemanns jedoch. Es war wie ein Echo in den Bergen, das von allen Seiten widerhallte. Weil sie es gewesen war, die den armen Mann behandelt hatte, um ihm das Sterben ein wenig zu erleichtern, fühlte sie sich Samuel gegenüber schuldig. Er hatte ohnehin genug Ärger am Hals!