Paganini

Eines Mittags erschien Niccolò Paganini bei Samuel Hahnemann. Zum Glück war Charles im Haus und öffnete die Tür. Als ihm der berühmte Geigenvirtuose seine Visitenkarte reichte und ihm bewußt wurde, wen er da vor sich hatte, führte er ihn umgehend in den kleinen Salon, am Ende des Flures, um ihn nicht der Neugierde anderer Wartender auszusetzen. Dann sagte er Mélanie Bescheid.

Mélanie war eine große Bewunderin Paganinis. Als sie hörte, daß er in die Praxis gekommen war, um sich von Samuel behandeln zu lassen, reagierte sie vollkommen konfus. Sie konnte sich nicht mehr auf die laufende Anamnese konzentrieren, und als der Patient gegangen war, ließ sie Tee in den kleinen Salon bringen und ging hin, um den Virtuosen zu begrüßen.

Paganini war ein begnadeter Musiker. Er spielte so schnell, daß andere Geiger in derselben Zeit nicht einmal die Noten lesen konnten. Außerdem kleidete er sich grundsätzlich schwarz und fuhr auch immer in einer schwarzen Kutsche mit schwarzen Pferden. So wurde unter den Abergläubischen der Verdacht geschürt, er habe mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, und man gab ihm den Beinamen ›der Teufelsgeiger‹.

Als Mélanie den kleinen Salon betrat, stand Paganini auf und sah sie mit unverhohlener Bewunderung an. »Obwohl man mich bereits vorwarnte, habe ich nicht mit so viel Schönheit gerechnet«, sagte er, wobei er ihr viel zu tief in die Augen sah. Dann beugte er sich mit einem Kuß über ihre Hand.

Mélanie hatte dem Blick standgehalten. Die eigenartige Aura, die diesen Mann umgab, fesselte sie. Er hatte langes schwarzes Haar, einen schwarzen Backenbart, und sein schmales Gesicht wurde von einer langen, dünnen Hakennase beherrscht. Dazu die schwarze Kleidung und der glühende Blick – ja, in der Tat hatte er etwas Diabolisches an sich!

Sie setzten sich, und Mélanie goß ihm Tee ein. »Ich habe Sie vor vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne erlebt«, erzählte sie ihm, »und vor einem Jahr zum zweiten Mal. Ich war überwältigt, aber solche Komplimente werden Sie sicher nur langweilen.«

»Nicht, wenn sie aus so schönem Mund kommen.« Er neigte sich vor.

»Außerdem habe ich in Robert Schumanns Neuer Zeitschrift für Musik einen interessanten Artikel über Sie gelesen. Er schrieb, daß Sie als Komponist leider ungeeignet seien, da niemand die Virtuosität entwickeln kann, die nötig wäre, um Ihre Kompositionen zu spielen.«

Paganini nickte. »Schumann und sein David-Club gegen musikalisches Spießbürgertum – ein interessanter junger Mann, der es bestimmt noch sehr weit bringen wird!«

»In Le Temps wiederum konnte ich lesen, daß Sie planen, ein Spielkasino in Paris zu eröffnen!«

Paganini seufzte. »Sie sind gut informiert. Geplant habe ich das in der Tat, aber leider wurde mir die Erlaubnis dazu nicht erteilt.«

»Es wäre ja auch zu schade, wenn Sie Ihr Talent an einen Spielklub vergeudeten.«

»Ah, dann sind Sie also doch nicht so gut unterrichtet! Denn sonst wüßten Sie, daß ich in den Kasinos ein zweites Zuhause gefunden habe und mein Geld beim Glücksspiel genau so schnell verliere, wie ich es zuvor beim Spielen auf meiner Violine verdient habe.«

Nun war Mélanie es, die nickte. Gewiß wußte sie davon, die Spatzen pfiffen es ja von den Dächern. Daß Paganini der Spielsucht verfallen war, verwunderte sie nicht einmal, denn ein Mann wie er war von Leidenschaft getrieben. Alles, was er tat, tat er bis zum Exzeß. Die Musik, das Spiel, die Frauen … Und diese Neigung zum Exzessiven würde ihn eines Tages alles kosten. Das Glücksspiel brachte ihn um sein Vermögen, die Frauen um den Verstand, die Musik ruinierte seine Gesundheit. Schon jetzt war er körperlich vollkommen aufgezehrt und ein gebrechlicher Mann, und das, obwohl er nur achtzehn Jahre älter war als sie.

Mélanie stand plötzlich auf. »Gewiß sind Sie nicht zum Plaudern gekommen. Wir sollten ins Ordinationszimmer gehen. Mein Mann erwartet Sie bereits.«

Sie wollte vorausgehen, aber er griff schnell nach ihrer Hand und zog sie an sich. »Wenn ich Ihnen ein Billet schickte, würden Sie zu meinem nächsten Konzert kommen? Nur Sie? Um mir Glück zu bringen?« Er sah ihr tief in die Augen.

»Ich bin verheiratet, Monsieur.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Nein, Monsieur.«

Im selben Moment ging die Tür auf, und Samuel kam herein. Als er seine Frau und Paganini so nah beieinander stehen sah, daß man annehmen konnte, sie hätten sich soeben geküßt, verfinsterte sich sein Blick. Zwar blieb er ruhig, sagte lediglich, daß noch fünf Patienten warteten und er darum gerne weiterarbeiten würde, doch Mélanie kannte ihn gut genug, um zu spüren, daß er ärgerlich und eifersüchtig war.

Beim Anamnesegespräch beklagte sich Paganini über nervöse Erschöpfung und mangelnde Inspiration. »Ich erhielt deshalb über einen langen Zeitraum hinweg Quecksilberpräparate. Leider fielen mir darauf hin alle Zähne aus, und ich mußte mir ein Gebiß anfertigen lassen. Außerdem leide ich unter eitrigen Geschwüren im Mund und Abszessen an den Kieferknochen.« Er streckte Samuel seine Hände entgegen. »Und sehen Sie nur – immer öfter zittern meine Hände wie die eines alten Mannes!«

»Nun, Monsieur, auch das Händezittern dürfte eine Folge der Quecksilberpräparate sein.«

Mélanie sah erschrocken auf. Samuels Stimme klang ungewöhnlich scharf.

»Es sollte Ihnen außerdem klar sein, daß nervöse Erschöpfung und mangelnde Inspiration bei einem Mann, wie Sie es sind, weniger mit Krankheit als vielmehr mit einer unverantwortlichen Lebensweise zu tun haben. Wenn Sie ein Faß bis zum Boden leer schöpfen, wieso wundern Sie sich dann, daß am Ende nichts mehr drin ist?«

Paganini antwortete ähnlich aggressiv. »Muß ich das so verstehen, daß Sie mir nicht helfen wollen oder können?«

»Selbstverständlich kann ich Sie behandeln. Daß Sie sich vollkommen erschöpfen und in Exzessen ergehen, zeigt mir, welche Arznei Sie brauchen. Aber im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein Wunderknabe! Zaubern kann ich nicht. Das Faß, von dem ich vorher sprach, müssen Sie schon selbst wieder füllen. Dazu brauchten Sie Ruhe, vernünftiges Essen, viel Bewegung bei Sonne und frischer Luft. Ein Medikament kann nur helfen, daß das Wasser in Ihrem Faß nicht fault – wenn Sie etwas mit diesem Vergleich anfangen können.«

»Ich mag maßlos sein, Monsieur le Docteur, aber ich bin kein Idiot!«

An dieser Stelle mischte sich Mélanie ein. »Meine Herren, das führt zu weit. Zwei erwachsene Männer von so viel Intelligenz sollten sich auch wie zivilisierte Menschen begegnen.«

»Dazu gehört aber, daß der eine die Besitzverhältnisse des anderen respektiert!« Samuel sah Paganini tief in die Augen. Es war wie ein stiller Zweikampf, der vom Schrillen einer Glocke unterbrochen wurde. Mélanie hatte nach Charles geläutet.

»Bitte kümmere du dich weiter um unseren Patienten.« Sie sah von Charles zu Samuel. »Dr. Hahnemann wird dir erklären, welche Arznei du Monsieur Paganini verabreichen mußt!« Es klang zynisch, wie sie das sagte. Dann verließ sie mit einem kurzen »Au revoir, Messieurs!« den Raum.

Es war ihr erster wirklicher Streit mit Samuel.

»Falls du mit Besitzverhältnissen mich gemeint hast«, fuhr sie ihn später an, »so muß ich dir sagen, ich bin niemandes Besitz! Auch deiner nicht!« Sie schüttelte die Hand ab, die Samuel versöhnlich auf ihren Arm gelegt hatte. Zorn brannte in ihren Augen.

»Und ich muß dir sagen, daß ich es nicht akzeptiere, daß ein Mann meiner Frau in derart unverblümter Weise nachstellt.« Er sah sie ruhig, aber bestimmt an. »Ich habe wirklich nicht vor, mich wie ein eifersüchtiger Gockel zu benehmen. Es gibt allerdings Grenzen. Dir zu sagen, daß du eine schöne, intelligente und anziehende Frau bist, ist eine Sache; dir mit eindeutigen Absichten den Hof zu machen eine andere.«

»Wie kommst du darauf, daß er mir den Hof gemacht hätte? Nur weil wir nahe beieinander standen?«

»Ich bin ein Mann. Ich kenne mich in den Schlupflöchern männlicher Seelen aus! Was würdest du sagen, wenn ich zum Beispiel so nahe an unser Linchen käme?«

Linchen war die Küchenmagd, gerade erst achtzehn und sehr hübsch. Mélanie dachte ernsthaft nach. Dann lachte sie plötzlich und sagte: »Ich würde ihr das Messer zeigen, mit dem sie unser Brot schneidet, und würde sagen: ›Das findest du zwischen deinen Rippen wieder, falls du es wagen solltest, meinem Mann schöne Augen zu machen!‹«

Nun war Samuel es, der lachte. »Das würdest du wirklich tun?« Er kam zu ihr, faßte sie um die Taille und zog sie zärtlich an sich.

»Ganz sicher, darauf kannst du das ganze Quecksilber nehmen, das man dem armen Paganini verabreicht hat!«

Als Paganini zwei Tage später wieder erschien, um über die Wirkung des Medikamentes zu berichten, stießen die beiden Männer neuerlich zusammen. Paganini behandelte Samuel wie Luft, richtete sich mit seinen Fragen und Aussagen ausschließlich an Mélanie. Als er sich dann beim Abschied auch noch erdreistete, Mélanies Hand wirklich zu küssen, statt den Kuß in aller Höflichkeit nur anzudeuten, konnte sich Samuel kaum noch beherrschen.

Zum endgültigen Bruch kam es aber erst, als ein Bote am nächsten Tag ein Billet von Paganini brachte, in dem er Mélanie – und zwar sie allein – zu seinem nächsten Konzert einlud.

Samuel schrieb ein Billet zurück. Der Inhalt war kurz und bündig.

Geehrter Paganini!

Da Sie sich meines Vertrauens nicht würdig erweisen, sehe ich mich gezwungen, die Behandlung abzubrechen. Ich bitte Sie, nicht mehr in meinem Hause zu erscheinen.

Dr. Samuel Hahnemann