Ein neuer Patient
Dr. Pierre Doyen hatte gehofft, Hahnemann würde sich mit seinen Versuchen, das Kind Ernst Legouvés zu retten, derart lächerlich machen, daß er sich damit von ganz alleine das Grab schaufelte. Doch nun war ihm die Rettung gelungen, und das Gegenteil war der Fall. Gleichgültig, mit welchen Schachzügen Doyen und seine Mitstreiter den alten Arzt aus Deutschland auch als Scharlatan zu entlarven versuchten, die Leute ließen sich nicht beirren und rannten den Hahnemanns die Türen ein. Selbst die Veröffentlichung eines Artikels, den Doyen von Christian Labourier, seinem Journalistenfreund, schreiben ließ, ging wie ein Schuß nach hinten los, denn so berühmte Leute wie Balzac, Lady Belfast, Anton Bohrer, Philippe Musard und allen voran Ernst Legouvé sprangen für die Homöopathie in die Bresche. Immer öfter war nun der Spruch zu hören: »Geh zu Hahnemann, dort stirbt man nicht!«
An einem Freitagnachmittag kam auch der Schriftsteller Eugène Sue in die Praxis. Er sah schlecht aus. Mélanie hatte sein feines Gesicht mit schön geschwungenen, bogenförmigen Brauen, dazu volles, dunkles Haar und einen ebenso dunklen Backenbart vor Augen. Doch nun war das Haar in kleinen Schübeln ausgefallen, und sie sah einen Mann mit fahler Haut, kleinfleckigem blaßrosa Ausschlag und eingefallenen Wangen vor sich.
Er beugte sich mit einem angedeuteten Kuß über ihre Hand. »Erinnern Sie sich an mich, Madame Hahnemann? Wir trafen uns einmal beim Eisessen.«
»Selbstverständlich. Monsieur Balzac hat uns bekannt gemacht.« Sie sah ihn forschend an. »Es scheint Ihnen nicht gutzugehen.«
»Um nicht zu sagen sehr schlecht!« Sue verbeugte sich vor Samuel, dann nahm er auf dem Stuhl Platz, den man ihm angeboten hatte.
»Ich weiß jetzt, ich hätte früher kommen sollen, aber immer wieder zu hören, daß Sie mit nichts als Wasser und Zucker behandeln, das verunsichert einen doch sehr. Zumal in meiner Lage – mit Geschlechtskrankheiten ist nicht zu spaßen. Ich habe einige Männer aus meinem Bekanntenkreis daran sterben sehen.«
Samuel nickte, sagte jedoch nichts.
»Aber später ist man immer klüger! Ich hoffe, Sie können mir noch helfen.«
»Wir werden es versuchen. Es ist bei anderen gelungen, warum nicht auch bei Ihnen, Monsieur.«
Die Befragung dauerte etwa eine Stunde. Mélanie notierte wie immer alles genau. Am Schluß berieten sich die Hahnemanns.
»Ich denke, es ist die Syphilis und nicht die Gonorrhö«, sagte Mélanie.
Samuel nickte.
»Aber sind die Syphilis und die Gonorrhö denn nicht ein und dasselbe?« Sue sah Dr. Hahnemann erstaunt an.
»Man sagt, es sei dasselbe, Monsieur, ich bin hingegen ganz sicher, daß es sich um zwei verschiedene Krankheiten handelt. Doch abgesehen davon interessiert uns Homöopathen die Diagnose nicht sonderlich. Wenn wir die Krankheit benennen, legen wir uns fest, und das lenkt uns von dem ab, was wesentlich ist – nämlich die Symptome, die die Krankheit hervorbringt und die uns den Weg zur einzigen, richtigen Arznei weisen. Wenn meine Frau hier eine Diagnose stellt, dann nur, um sich zu vergewissern, ob ihre Beobachtungen mit meinen übereinstimmen.«
Samuel wandte sich wieder an Mélanie.
»Ich würde in diesem Falle Mercurius geben«, schlug sie vor.
Wieder nickte er. »Wir nehmen die Q-Potenz.«
»Einen halben Teelöffel, dreimal täglich.«
»Richtig.«
Sie schickten nach Charles, der aus der hauseigenen Apotheke ein kleines braunes Fläschchen mit der gewünschten Arznei brachte. Mélanie bedankte sich, reichte das Fläschchen an Monsieur Sue weiter und erklärte ihm genau, wie er das Medikament einzunehmen hatte. Dann stand sie auf und gab ihm die Hand. »Bitte kommen Sie am Montag wieder, um uns Bericht zu erstatten. Sollte es allerdings Komplikationen geben, zögern Sie nicht, uns aufzusuchen.«
»Ich danke Ihnen. Madame – Monsieur.« Er verneigte sich auch in Samuels Richtung, dann folgte er Charles, der ihn zur Tür brachte.
Mélanie ging zu ihrem Mann, stellte sich hinter ihn und massierte sanft seine Schultern.
»Es ist ein Schrecken mit diesen Geschlechtskrankheiten!« sagte er. »Und immer wieder dasselbe – man kommt zu spät. Dabei könnte man bei frühzeitiger Behandlung das Ärgste verhindern. War das der letzte Patient für heute?«
»Ja, der letzte – du wirkst müde und abgespannt.«
»Es war viel zu tun in letzter Zeit, aber mach dir keine Sorgen, es geht mir gut.«
Sie beugte sich zu ihm und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?«
Samuel spitze die Lippen. »Heute? Laß mich überlegen! Wir haben den 8. Oktober. Also, ich weiß nicht … Nein, tut mir leid. Was ist denn für ein Tag?« Seine Augen blitzten, als er sie ansah, in seinen Mundwinkeln zuckte ein Lächeln.
»Natürlich weißt du es! Du bist ja wirklich ein Schwindler, ein Scharlatan, Friedrich Christian Samuel Hahnemann!«
Er nahm ihren Arm, zog sie zu sich auf seinen Schoß und küßte zärtlich ihren Hals. »Natürlich weiß ich, daß wir uns heute vor vier Jahren zum ersten Mal begegnet sind. Und es waren die vier schönsten Jahre meines Lebens!«
Lächelnd strich sie ihm eine weiße Locke aus der Stirn. »Und das sagst du nicht nur so?«
»Ich würde es niemals wagen, Sie zu belügen, Madame!«
Sie lachte. »Ach, das behauptet jeder Mann – und dann tut er es doch!«
Er küßte sie hinterm Ohr, dort, wo sie es besonders liebte, und dabei bahnte sich seine Hand unter ihren Röcken einen Weg zu ihrem Venusdelta.
Ein Schauder durchzuckte sie, denn seine Zärtlichkeiten erinnerten sie an die gestrige Nacht. An seinen heißen Atem auf ihrer Haut. An das Pulsieren in ihrem Körper, als er sie so lange gestreichelt und liebkost hatte. Immer wenn er sie auf diese Art liebte, dann schien sie für Sekunden nicht mehr wirklich zu existieren. Dann schien sie in winzige Scherben zersprungen zu sein und mußte sich zusammensammeln, bevor sie atemlos zurückkehren konnte auf diese Welt, in der sie einen Körper hatte und Mélanie hieß.
Sie genoß seine Zärtlichkeiten auch diesmal wieder, doch plötzlich hielt er inne und sagte: »Ich habe einen Entschluß gefaßt.« Er sah sie ernst an. »Sobald ich die Überarbeitung der Chronischen Krankheiten abgeschlossen habe, werde ich an einer neuen Auflage des Organon arbeiten und meine neuesten Erkenntnisse veröffentlichen!«
»Du willst über unsere Arbeit mit den Q-Potenzen schreiben?«
»Ja. Ich glaube, es ist an der Zeit.« Er gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, daß er im tiefsten Inneren keineswegs davon überzeugt war, daß die Zeit reif dafür war, die Öffentlichkeit an seinen neuen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Man hatte ja noch nicht einmal die höheren C-Potenzen akzeptiert! Aber er war nun fast 84 Jahre alt und wußte, daß auch er nicht ewig leben würde. Wenn er nicht anfing, seine Erfahrungen aufzuzeichnen, dann würde er sie vielleicht eines Tages mit ins Grab nehmen. Doch das war ein Thema, über das er mit Mélanie nicht offen reden konnte. Jeden Gedanken an seinen möglichen Tod blockte sie sofort ab.
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Ich dachte, wo ich doch ohnehin gerade mit Jahr über den Krankenberichten sitze und alles ordne, sei die Gelegenheit günstig. Ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – meinst du nicht?«
»Doch, natürlich.« Sie küßte ihn auf die Nase. »Wenn du dich nur nicht überanstrengst und noch ein wenig Zeit für mich übrig hast.«
Er lachte. »Wir teilen es auf. Die erste halbe Nacht für die Homöopathie, die zweite halbe Nacht für dich.«
Mélanie seufzte und versuchte sich an einem Lächeln. »Und wann willst du dann schlafen?«
»Na, nun sei nicht so ängstlich!« Er zwickte sie liebevoll in die Wange. »Du kannst nicht immer alles von mir fernhalten und mich behandeln wie ein rohes Ei. Du wirst sehen, alles wird gut!«