Das Karussell
Der Winter ging, das Frühjahr kam. Zu all ihrer Arbeit mußte Mélanie nun auch noch das Geburtstagsfest vorbereiten. Sie schrieb Briefe an Menschen, die Samuel besonders wichtig waren, stellte mit Bette, der Köchin, einen Speiseplan zusammen und zusätzliches Personal ein. Sie ließ sich sogar ein neues Kleid schneidern und den Garten mit Blühpflanzen und Lampions bestücken.
Auch das Karussell wurde wie geplant aufgestellt. Zwar war es im April am Abend noch kühl, aber mit ein wenig Glück konnte man sich für ein oder zwei Karussellfahrten auch draußen aufhalten.
Daß Samuel oft über Müdigkeit klagte und abends früher zu Bett ging, irritierte Mélanie nicht. Sie hielt es für seine Art, sich dem ganzen Trubel zu entziehen. Er liebte Feste, aber die Vorbereitungen störten seine täglichen Rituale.
Zwei Tage vor dem Fest kam Sébastien. Mélanie stand gerade an der Tür und verabschiedete den Boten, der ihr die neuen Schuhe gebracht hatte. Sie waren passend zum Kleid angefertigt worden.
Sébastian küßte ihre Hand und folgte ihr nach drinnen. Dort sah er zu, wie sie den Karton auf die Konsole stellte, den Deckel abhob, das Seidenpapier zurückschlug und ein paar dottergelbe Atlasschuhe herausnahm.
»Schau nur, wie schön sie geworden sind!« Ihr Zeigefinger zeichnete den kleinen, sichelförmigen Absatz nach, strich dann über die Paspelverzierung der Vorderkappe und die Bänder, die man um die Knöchel band.
»Ja, sie sind wirklich sehr schön. Und es tut mir leid, daß ich das Kleid dazu nicht sehen werde.«
Mélanie sah ihn an. Erstaunen lag in ihrem Blick. »Ja, wirst du denn nicht zum Fest kommen?«
»Ich bedauere es sehr, aber ich muß nach England. Ein Schiff der Stella-Compagnie ist verlorengegangen. Außer der Besatzung waren zwölf Passagiere an Bord und eine wertvolle Ladung. Stoffe, Edelsteine, Gewürze … ich muß heute noch abreisen.«
Mélanie stellte die Schuhe zurück in den Karton, kam zu ihm und nahm seine Hände. »Das ist schade. Wir werden dich vermissen.«
»Ich hätte auch viel lieber mit euch gefeiert.«
»Und wie lange wirst du in England bleiben?«
»Es kommt darauf an, was die Ermittlungen ergeben. Vielleicht drei Wochen, vielleicht drei Monate.«
Mélanie nickte. »Dann wünsche ich dir eine gute Reise. Und komm gesund zurück!« Sie küßte ihn rechts und links auf die Wangen.
»Bitte richte deinem Mann zu seinem Geburtstag die allerbesten Wünsche von mir aus. Er wirkt müde in letzter Zeit – ich hoffe, es geht ihm nicht schlecht?«
»Aber nein. Der ganze Trubel ist manchmal ein bißchen zuviel für ihn, aber sonst ist alles in Ordnung.«
Sébastien nickte. Er selbst hatte das Gefühl, daß Samuel in den letzten Wochen abgebaut hatte. Er war stiller, in sich gekehrter, wirkte ein wenig eingefallen, doch Mélanie mußte es schließlich wissen.
»Also dann – mach es gut!« Er küßte ihre Hand, sah ihr in die Augen, dann ging er zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt im leichten Trab über den Hof davon.
Es wurde ein rauschendes Fest. Die Gäste hatten sich im großen Salon des ersten Stockes versammelt, der prächtig geschmückt war. Mélanie hatte Samuels Marmorbüste mit einem goldenen Lorbeerkranz verziert und zusätzlich zur Gasbeleuchtung überall Kerzen aufstellen lassen. Vor den Fenstern saß ein kleines Orchester und spielte zur Unterhaltung. Eine Sängerin, ein Zauberer und eine kleine Theatergruppe waren engagiert.
Als Mélanie und Samuel Hand in Hand den Raum betraten, unterbrach das Orchester den Kontertanz, und Applaus setzte ein, der einige Minuten lang anhielt. Gerührt sah sich Samuel um. Fast alle seine liebsten Freunde waren da. Angefangen von Mélanies Vater und ihrem Bruder über Charles bis hin zu David d'Angers und Eugène Sue. Auch Musiker wie der Pianist Friedrich Kalkbrenner, dessen Vater vor vielen Jahren aus Deutschland an den Hof Napoleons geholt worden war, und Samuels guter Freund, der Dirigent Musard, waren gekommen. Außerdem unzählige Freunde und gute Bekannte aus Deutschland, dem Süden Frankreichs, England und Schottland.
Sichtlich gerührt bedankte sich Samuel und nahm in seinem Lehnstuhl Platz. »Ein Greis wie ich darf sitzen!« sagte er. »Sie müssen zur Strafe für Ihre Jugend derweilen stehen.«
Ein Diener brachte Samuel ein Glas, damit er mit seinen Gästen anstoßen konnte. »Vielen Dank, daß Sie alle mit mir feiern.«
Reden wurden gehalten und Gedichte vorgetragen. Eine junge Dilettantin sang und rührte mit ihrer wunderbaren Stimme so manchen zu Tränen. Robert, der Zauberer, ließ Charles verschwinden und holte statt dessen drei Tauben aus der Kiste, die aufgeregt umherflatterten und die Damen in Schrecken versetzten.
Schließlich bat Mélanie alle Gäste an die Fenster. Auf ihr Zeichen hin zündeten einige Bedienstete draußen im Garten Lampions an. Immer mehr wurden es, und so tauchte aus der Dunkelheit wie aus dem Nichts das Karussell auf.
Die Gäste applaudierten, ein Leierkastenmann, der im Garten stand, drehte seine Orgel, und Mélanie forderte alle auf, nach Lust und Laune hinauszugehen und sich auf dem Karussell zu vergnügen.
»Zuerst der Herr Hofrat Hahnemann!« rief jemand aus den hinteren Reihen.
»Jawohl! Er muß mitkommen und uns anführen auf unserem wilden Ritt durch seinen Garten!«
Eine der Damen kam auf ihn zu, nahm ihn an der Hand und sah ihn bittend an.
»Sie glauben, ich kann das nicht mehr?« Samuel stand lächelnd auf. »Na gut, ich werde es beweisen! Ein Roß aus Holz kann ich noch allemal besteigen!«
Allen voran ging er hinunter. An der Tür ließ er sich seinen Stock mit dem Goldknauf geben, setzte seinen Zylinder auf und legte den weißen Schal um, trat dann vors Haus und ging über den Hof in den Garten. Nun, wo alles hell erleuchtet war, sah man, daß Tulpen und Hyazinthen, Osterglocken und auch die Forsythiensträucher Blüten und Knospen trugen. Bei Tag und bei Sonnenschein mußte dieser Garten eine wahre Pracht sein!
Samuel half Mélanie auf das Karussell. Im Seitsitz nahm sie auf einem der Pferde Platz und drapierte den Rock ihres dottergelben Satinkleides um dessen hölzernen Leib. Um Schultern und Dekolleté hatte sie eine Mantille aus Wollstoff gelegt, die sie nun fester zusammenzog, denn ein kalter Windhauch wehte vom Hof herüber. Lachend sah sie zu, wie Samuel auf dem Pferd vor ihr Platz nahm. Dann kamen noch Charles, Dr. Jenner und Madame Sandrine und besetzten die übrigen Pferde.
Die Fahrt ging los. Dazu drehte ein Mann mit einer Kurbel das Karussell, ein anderer den Leierkasten. Ein Galopp ertönte, und wer um das Karussell herumstand, klatschte im Rhythmus dazu.
Samuels Schal und die Federn in Mélanies Haar wehten im Fahrtwind. Sie sah hinauf zum Himmel, wo die Sterne an ihr vorbeisausten, und sie dachte an damals, als sie an Samuels Arm vom Bunten Fasan zu seinem Haus gegangen war und ebenfalls in den Himmel gesehen hatte. Damals hatten die Sterne so hell geleuchtet wie heute, und sie hatte plötzlich gewußt, daß dieser Mann ihr Schicksal war.
Als Mélanie wieder nach vorne sah, bemerkte sie, wie Samuel fast vom Pferd rutschte. Sie gab dem Mann, der das Karussell ankurbelte, ein Zeichen, zu stoppen. Als es hielt, richtete Samuel sich wieder auf. Er lächelte, aber sie kannte ihn zu gut, um sich täuschen zu lassen. Etwas war nicht in Ordnung. Sie ging zu ihm und nahm seine Hände, und als sie den Drehteller verlassen hatten, wünschten die beiden ihren Gästen viel Spaß mit dem Karussell und gingen, von Charles und Georg Jahr begleitet, hinein.
»Geht es dir nicht gut, Liebster?« Im Licht sah Mélanie ihren Mann besorgt an.
»Wie kommst du darauf? Ich fühle mich prächtig!« Er gab Henry, dem Diener, seinen Zylinder, den Schal und den Stock und ging hinauf in den Salon.
Als er in seinem Sessel saß, hustete er.
»Möchtest du Tee?« Mélanie wartete seine Antwort gar nicht erst ab. Sie rief eines der Mädchen zu sich. »Bringen Sie Tee mit Honig und etwas Bisquitkuchen.«
Die Kapelle spielte, und Mélanie hielt Samuels Hand. Beunruhigt sah sie ihn an, doch es war offensichtlich nur ein kurzer Schwächeanfall gewesen, er lachte schon wieder.
Nach Mitternacht wurde ein Souper serviert. Man unterhielt sich in kleinen Grüppchen, und es wurden die neuesten Gerüchte ausgeplaudert. Dann verabschiedeten sich die Gäste nach und nach, und als die letzen gingen, war es bereits zwei Uhr morgens.
Samuel sah blaß aus. Seine Hände waren klamm und zitterten, und Mélanie mußte ihm beim Auskleiden helfen. Als er im Bett lag, ließ sie eine kupferne Wärmflasche für ihn bringen und legte sie an seine Füße.
Er fing wieder an zu husten, und sie legte sich zu ihm. »Ich mache mir Vorwürfe. Ich hätte das Karussell nicht mieten sollen.«
»Das ist doch Unsinn, du kannst nichts dafür. Es ist einfach nur die Bronchitis, die ich jedes Frühjahr bekomme. Der Schmerz in den Augäpfeln, im Kopf, die Unruhe, Husten und Rasseln auf der Brust … Ich nehme Bryonia, damit habe ich es noch jedesmal in den Griff bekommen.«
»Ja«, sagte Mélanie, und es schwang Hoffnung mit. »Du hast recht – ich gehe hinunter in die Apotheke und hole es!«
Schon war sie aufgestanden, war in ihre Hausschuhe geschlüpft und hatte sich ein Umschlagtuch übergeworfen.
Als sie das Zimmer verlassen und leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, überfiel Samuel ein lähmendes Gefühl von Angst. Sein Herz begann zu rasen. »Liebste, laß mich nicht allein!« flüsterte er, und seine Hand krampfte sich hilfesuchend in das Kissen.
Gegen fünf Uhr morgens bekam er Schüttelfrost. Mélanie war zu panisch, um die Zeit zu registrieren. Sie gab ihm wieder Bryonia. Eine leichte Besserung stellte sich ein.
Als sie am Morgen aufstand, ging sie zum Fenster und blickte hinaus. Weit hinten im Garten sah sie das Karussell. Eine Bank, die man aufgestellt hatte, war umgefallen, der Himmel war verhangen, und es nieselte. Der Tag war so trist, und ihr Herz war so schwer. Eine Ahnung von Krankheit und Tod machte sich in ihr breit.
»Bitte nicht!« flüsterte sie und lehnte ihre heiße Stirn gegen das kühle Fensterglas. »Bitte, wenn es einen Gott gibt und du Mitleid mit mir hast, dann nimm ihn mir nicht!«
Eine kurze Zeit schien es Samuel etwas besser zu gehen. Er verlangte sogar nach seiner Pfeife, aber zwei Züge genügten, und ihm war so übel, als hätte er verdorbenes Fleisch gegessen. »Es ist auch besser, wenn du nicht rauchst«, sagte Mélanie und nahm ihn zärtlich in den Arm.
Sie führte die Praxis allein weiter. Georg Jahr war gleich am Morgen nach dem Fest nach Lüttich abgereist. Der junge Dr. Nicolas Deleau ging ihr statt seiner zur Hand, aber er konnte nur einfache Fälle übernehmen, ansonsten schrieb er, wie sie es früher getan hatte, die Berichte ins Krankenjournal.
Nach jedem Patienten eilte sie in Samuels Zimmer, um zu sehen, wie es ihm ging. Er war reizbar und depressiv. Saß er im Sessel neben seinem Bett, eine Decke auf den Knien, wirkte er stumpf und niedergeschlagen. Ließ man ihn im Bett liegen, wurde er unruhig und wollte unbedingt aufstehen. Kam sie, war er ärgerlich; ging sie, steigerte sich seine Ruhelosigkeit zur Angst.
Am 30. April schickte Samuel einen Brief an Luise und Charlotte.
Es geht mir nicht gut. Die übliche Frühjahrsbronchitis ist schlimmer als gewöhnlich und erweist sich als äußerst hartnäckig. Aber macht Euch keine Sorgen, es wird schon wieder werden. Das Schreiben ermüdet mich, darum richtet bitte auch Eurem Bruder und Euren Schwestern von mir die allerbesten Grüße aus, und sagt ihnen, ich bin stolz auf sie und habe sie ins Herz geschlossen. Niemand auf der Welt war mir je so wichtig wie Eure Mutter, Ihr und meine zweite Frau, Mélanie.
Für immer Euer liebender Vater
Als Mélanie den Brief las, beschlich sie wieder dieses Gefühl von Panik. Es war ein Brief, der nach Abschied klang!
Auch Amalie, Samuels Viertgeborene, schien das so zu empfinden, denn kaum hatte sie die Nachricht von der Krankheit ihres Vaters erhalten, machte sie sich zusammen mit ihrem Sohn Leopold auf die Reise nach Paris, um ihn zu sehen.
Mélanie schloß die Praxis bald ganz und betreute nur noch Notfälle. Die übrige Zeit pflegte sie Samuel, der zusehends verfiel.
Bryonia half nicht. »Bitte, laß uns einen homöopathischen Arzt zuziehen«, flehte sie Samuel an, aber er wies sie ärgerlich zurecht. »Wenn du es nicht kannst, wenn wir beide es zusammen nicht können, wer sollte mir dann noch helfen?«
»Hast du deinen Schülern nicht immer wieder gesagt, sie sollen sich niemals selbst behandeln? Weil man bei sich selbst die wesentlichen Unterschiede nicht erkennen kann? Weil man mit Blindheit geschlagen ist, wenn es um die Gemütssymptome geht?«
»Aber du bist doch …«
»Was verlangst du von mir!« nahm sie ihm das Wort aus dem Mund und sprang auf. Einen Moment war sie zornig, aber dann sank sie mit Tränen in den Augen vor ihm auf die Knie, nahm seine Hand und drückte sie gegen ihre Brust. »Ich sterbe vor Angst um dich! Ich schlafe keine Nacht mehr richtig. Mein Kopf ist bleischwer und unfähig zu denken! Wie kann ich dich da behandeln? Wie kann ich einen klaren Gedanken fassen und erkennen, welche Arznei du wirklich brauchst? Wir müssen Hilfe holen!«
»Gut.« Er war endlich einverstanden. »Dann laß Dr. Chatron kommen. Ihm vertraue ich.«
Erleichtert stand Mélanie auf und klingelte nach Rose.
»Bitte schick Eugène zu Dr. Chatron. Er soll ihn herbringen – wenn möglich sofort!«
Als Dr. Chatron endlich kam, war es bereits später Nachmittag. Er besah sich seinen Freund und Kollegen und befragte ihn lange und ausführlich.
»Und Sie haben mit Bryonia behandelt?«
Mélanie nickte. »Ich dachte auch einmal an Arsenicum, aber …«
»Das hätten Sie nehmen sollen!«
»Aber seine Furcht vor dem Tod und der Zukunft, seine Unruhe … Immer öfter hat er nachts im Traum davon gesprochen, daß ich …«
Sie brach ab. Tränen liefen über ihre vom Kummer abgemagerten Wangen. Sie begriff plötzlich, daß sie die Symptome falsch gedeutet hatte. Daß sie aus Angst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die Augen verschlossen hatte. Sie begriff plötzlich, daß es zu Ende ging mit Samuel.
Charles holte Arsenicum aus der Apotheke. Mélanie gab es Samuel. Eine kurze Besserung trat ein, aber Samuels Lebensgeister waren bereits zu sehr geschwächt.
Dr. Chatron kam am nächsten Morgen wieder. Der Zustand seines Patienten hatte sich nicht wesentlich verändert. Mélanie saß an Samuels Bett und weinte.
Am Nachmittag stand plötzlich Rose neben ihr. »Besuch aus Deutschland ist da, Madame Hahnemann«, flüsterte sie und reichte ihr eine Karte.
Mélanie starrte auf den Namen. Frau Dr. Amalie Süß – Samuels Tochter. »Nein!« Sie sprang auf und verließ mit Rose das Zimmer. »Sag ihr, ihr Vater könne unmöglich Besuch empfangen!«
»Aber sollten Sie denn nicht selbst …«
»Nein, ich will und kann jetzt nicht mit ihr reden. Erklär ihr, daß wir sie holen werden, sobald Monsieur sich gut genug fühlt, jemanden zu sehen.«
Mélanie blieb an der Treppe stehen und hörte, wie Samuels Tochter unten in der Halle in gebrochenem Französisch auf die Haushälterin einredete. Plötzlich schob Amalie Rose zur Seite und ging mit wütenden Schritten an ihr vorbei auf die Treppe zu.
Da trat Mélanie an die Brüstung. »Ich bitte Sie, Madame, Sie sind in meinem Haus. Es geziemt sich nicht …«
»Es geziemt sich nicht, die Tochter eines Sterbenden zurückzuweisen, wenn sie ihren Vater sehen und ihm in seiner letzten Stunde beistehen will!« unterbrach Amalie sie scharf. »Zumal ich tagelang unterwegs sein mußte, um herzukommen!«
Mélanie war ihr entgegengegangen. Nun packte sie Amalie an den Schultern und hielt sie fest.
»Ich bitte Sie, sprechen Sie leise!« Sie sah Samuels Tochter zornig an. »Und reden Sie nicht vom Tod!«
Amalie wollte sie zurückstoßen, doch Mélanie hatte mehr Kraft als vermutet.
»Machen Sie den Weg frei!«
»Nein!« blieb Mélanie fest. Sie sah Amalie verständnislos an. »Was haben Sie vor, um Himmels willen? Wollen Sie hineingehen, sich an seine Brust werfen und ihm sagen, daß er sterben wird? Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, wir werden um sein Leben kämpfen! Und nun gehen Sie! Und lassen Sie Ihre Adresse da! Wir werden Sie rufen, sobald es Ihrem Vater gut genug geht und er Sie sehen will.«
Eine Weile starrten sich die beiden Frauen feindselig an. Dann schüttelte Amalie Mélanies Hände ab und verließ, von ihrem Sohn gefolgt, das Haus ihres Vaters.
Rose schüttelte seufzend den Kopf. »Madame, Sie hätten nicht so hart sein dürfen und Madame Süß wenigstens für einen Moment zu ihrem Vater lassen müssen.«
»Sie war in all den Jahren nicht hier! Niemand hat den Weg nach Paris auf sich genommen, um ihn zu sehen. Jetzt, wo man glaubt, er stirbt und es könnte vielleicht noch etwas zu holen geben, kommen die Ratten aus ihren Löchern!«
Mélanie griff in ihre Röcke und ging wieder nach oben.
»Möglicherweise tun Sie ihr aber auch Unrecht, Madame«, murmelte Rose, doch da hatte Mélanie bereits die Tür hinter sich zugezogen.