Ein fremdes Land
Delacroix blieb mit dem Leichnam seiner Frau in dem Dorf zurück. Man würde eine Totenkutsche aus Luxembourg kommen lassen und Sabine in ein paar Tagen dort begraben. Mélanie war bis zur Weiterfahrt bei der Toten geblieben, hatte in ihr Reisetagebuch ein Porträt von ihr gezeichnet und darunter Ma petite sœur geschrieben.
Nun, wieder am Fenster der Kutsche sitzend, starrte sie auf die Weinberge entlang der Mosel. Es war eine fröhliche Landschaft. Das Laub fing bereits an, sich in allen Rot- und Gelbtönen zu verfärben. Noch am Vormittag hatte es geregnet, doch jetzt tanzten die Strahlen der Sonne zwischen den Blättern und ließen die Tropfen glitzern und wie Edelsteine erscheinen. Zur Ernte, schon in ein paar Wochen, würden alle mithelfen. Die Nachbarn, die Verwandten, die Kinder und Greise. Junge Frauen würden mit nackten Füßen die Trauben einstampfen und dazu derbe Lieder vom Wein und von der Liebe singen. Wie schade nur, daß Sabine das alles nicht mehr sehen konnte …
»Monsieur!«
Mélanie schrak aus ihren Gedanken und sah Henry Michelon an. Er war groß, hager und dunkelhaarig. Sein Anzug war neu und von teurer Qualität, aber seine Fingernägel waren schmutzig, und sein Blick und sein Grinsen wirkten abstoßend und feist.
Er saß ihr schräg gegenüber, dort, wo am Morgen noch Delacroix gesessen hatte, und hielt ihr eine Schnupftabakdose hin. »Lust auf eine Prise?«
Mélanie schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Monsieur.«
Seit er in Longuyon zugestiegen war, war er für sich geblieben und hatte kaum ein Wort mit jemandem gewechselt. Aber nun, wo nur sie beide in der Kutsche saßen, starrte er sie unentwegt an, und sie begann sich unwohl zu fühlen.
»Und wohin reisen Sie?« fragte er.
»Nach Köthen, in der Nähe von Leipzig.«
Er nickte. »Ich kenne Leipzig. Geschäfte führen mich hierhin und dahin, manchmal auch in diese Gegend. Und wozu reisen Sie nach Köthen? Haben Sie Freunde oder Familie dort?«
»Nein.« Sie zögerte. Ihre Krankheit ging ihn nichts an. Deshalb behauptete sie: »Ebenfalls Geschäfte.«
Sie sah wieder aus dem Fenster, in der Hoffnung, das Gespräch auf diese Weise beenden zu können.
Henry Michelon nahm eine zweite Prise Schnupftabak, schob dann die Dose in seine Tasche zurück. »Seit neuestem ist ja das Rauchen von Stumpen in Mode gekommen. In Enningloh gibt es jetzt sogar eine Zigarrenfabrik. Aber Sie rauchen wohl nicht, Monsieur?«
»Nein«, sagte Mélanie.
»Nicht rauchen, nicht schnupfen – da haben Sie wohl gar keine Laster!« Plötzlich setzte er sich neben sie und legte seine schmutzige Hand auf ihren Schenkel. »Aber das macht sich für eine feine Dame auch nicht so gut – nicht wahr, Monsieur?« Das Wort ›Monsieur‹ betonte er sarkastisch.
Mélanie sah ihn an. Es war klar, worauf diese Unterhaltung hinauslaufen sollte. Er hatte sie als Frau erkannt und wollte sich Freiheiten herausnehmen. Einen kurzen Moment wog sie ab, ob sie nach dem Kutscher rufen sollte, aber da drückte ihr Michelon auch schon seine ekelhaften Lippen auf den Mund und fuhr ihr mit der Hand zwischen die Beine.
Blitzschnell reagierte sie, griff nach dem Messer, das sie unter ihrem Frack verborgen hatte, und hielt es dem Kerl an die Kehle.
Er hatte nicht damit gerechnet. Verdutzt zog er sich zurück und starrte sie mit haßerfülltem Blick an. Doch plötzlich lachte er wieder. »Nun, Monsieur, ich sehe, auch diesem Laster sind Sie nicht zugetan – wenigstens nicht im Moment. Aber wir haben ja noch eine lange Reise vor uns.«
Mélanie antwortete nicht. Sie prüfte mit einem Griff den Sitz ihrer Perücke und setzte sich wieder gerade hin. Das Messer behielt sie vorsorglich in der Hand. Bis Trier sprachen sie beide kein Wort mehr.
Es war höchst unwahrscheinlich, daß in Trier niemand zusteigen würde und Mélanie in die Verlegenheit käme, weiterhin alleine mit diesem Michelon unterwegs zu sein. Trotzdem beschloß sie, ihre Reise in dieser Stadt für ein oder zwei Tage zu unterbrechen und eine andere Postkutsche zu nehmen oder, falls es keinen freien Platz gäbe, bis Frankfurt eine Extrapost zu mieten. Nur so konnte sie sicher sein, nicht noch einmal von diesem Kerl angefallen zu werden.
Die Posthalterei lag nicht weit von der Stadtmauer im Südosten der Stadt. Nach Ankunft ging Mélanie sofort in das Büro des Posthalters, um sich zu erkundigen, zu welchem anderen Zeitpunkt sie Weiterreisen konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Monsieur, für eine Extrapost fehlen mir die Pferde, und für morgen sind bereits alle Plätze belegt. Aber übermorgen geht eine Postkutsche bis Frankfurt, da ist noch ein Platz zu haben, den kann ich für Sie frei halten.«
Mélanie ließ das Billet ausstellen und erkundigte sich, wo sie sich für diese zwei Tage anmelden mußte und wo sie einen Geldwechsler finden konnte.
»Geben Sie mir Ihren Paß, Monsieur. Ich lasse ihn zum Rathaus bringen«, bot der Posthalter an.
Mélanie bedankte sich höflich. »Das ist sehr freundlich von ihnen, doch ich bin froh, wenn ich mich nach der langen Fahrt ein wenig bewegen kann, und gehe lieber selbst hin.« In Wahrheit wollte sie nicht, daß er oder seine Dienstboten etwas über ihre wahre Identität erfuhren.
Der Mann rief nach einem Jungen. »Bring den Monsieur ins Rathaus, und zeig ihm die Judengasse«, herrschte er ihn an. Dann wieder zu Mélanie: »In der Judengasse finden Sie Geldwechsler. Selbstverständlich können Sie das Abendessen bei mir am Tisch einnehmen.«
Sie hatte schon sehr viel Schlechtes über das Essen in deutschen Poststationen gehört und wußte, daß es ratsam war, so eine Einladung anzunehmen, denn am Tisch des Wirtes gab es meist etwas Besseres. Doch weil sie sich endlich ihrer Perücke und der Brustbinde entledigen wollte, schob sie Müdigkeit vor und bestellte eine Kleinigkeit auf ihr Zimmer. Hätte sie allerdings gewußt, was sie erwartete, hätte sie sich gewiß anders entschieden.
Als sie vom Geldwechsler zurückkehrte, brachte man sie in eine winzige, dunkle Kammer ohne Kamin. Die Wände waren feucht und mit Blut verschmiert – ein Zeichen, daß es Wanzen und anderes Ungeziefer im Zimmer gab, das die Leute für gewöhnlich mit ihren Schuhen an den Wänden erschlugen. Zudem stank es nach Schimmel, Erbrochenem und Urin.
Sie ging zum Fenster und riß es auf, doch der Knecht, der im selben Moment mit ihrem Gepäck hereinkam, warnte sie. »Das sollten Sie nicht tun, mein Herr. Der Wind steht ungünstig, da weht vom Weberbach ein recht übler Gestank herüber.«
Er hatte recht. Angeekelt schloß sie das Fenster wieder, und als der Mann gegangen war, sank sie wie erschlagen auf das kratzige, unbequeme Bett. Ein Schmerz fuhr ihr so plötzlich in den Unterleib, daß sie aufseufzte und sich in die schmutzigen Kissen fallen ließ. So lag sie eine Weile da und sah sich mit Tränen in den Augen um. Es wäre besser, sie würde sich ein Zimmer in einem anderen Gasthaus suchen, aber ihr fehlte dazu einfach die Kraft.
Der Gestank erinnerte sie an die beiden Alten in der Kutsche, und als sie an die Kutsche dachte, fiel ihr auch Sabine wieder ein. Sie sah sie vor sich – aufgebahrt in einer kleinen Scheune hinter dem Wirtshaus an einem Flüßchen namens Sauer. Sabines Tod, die Zudringlichkeiten Michelons in der Kutsche, ihre Schmerzen und dieses abscheuliche Zimmer … vielleicht hatten Doyen und all die anderen mit ihren Unkenrufen ja doch recht gehabt, vielleicht hatte sie sich mit dieser Reise zu viel zugemutet. Trauer, Wut und Zweifel schnürten ihr das Herz zu, und plötzlich brach sie in haltloses Schluchzen aus.
Mélanie hatte äußerst unruhig geschlafen. Am frühen Morgen erwachte sie durch die derben Flüche eines Mannes unten im Kutschhof. Sie ging zum Fenster und sah hinunter. Ein Postillion spannte zwei Braune ein, die bei jeder seiner heftigen Bewegungen erschrocken den Kopf aufwarfen und zurückwichen. Es waren junge, unerfahrene Pferde und sicher nicht geeignet für so grobe Hände.
Zwei Männer halfen dem Kutscher beim Beladen. Den braunen Reisekoffer, den der eine von ihnen geschultert hatte, erkannte sie als den von Michelon.
Kurz darauf erschien Henry Michelon selbst. Er begutachtete die Körbe, Taschen und Koffer, es schien, als würde er etwas suchen. Nach einem Wortwechsel mit dem Kutscher sah er sich plötzlich um und suchend an der Fassade des Hauses hinauf. Mélanie wich sofort zurück, war aber nicht schnell genug. Er hatte sie entdeckt und schien verblüfft – offensichtlich hatte er nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß sie nicht Weiterreisen würde.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis die Kutsche abfuhr. So lange hielt sich Mélanie am Fenster auf. Sie wollte ganz sicher sein, daß Henry Michelon die Stadt verließ. Erst als sie ihn einsteigen und abfahren sah, atmete sie auf.
Nachdem sie sich frisch gemacht und etwas zu sich genommen hatte, sah sie sich Trier an. Kaum zu glauben, daß diese kleine Stadt im römischen Reich einmal von so großer Bedeutung gewesen sein sollte.
Am Hauptmarkt herrschte reges Treiben. Da waren große Fuhrwerke mit Fässern beladen, in denen Wein oder Bier, gepökeltes Fleisch, Fisch aus den umliegenden Flüssen oder eingelegtes Kraut transportiert wurden. Da waren Holzfuhrwerke, bepackt mit Schindeln oder anderen Baumaterialien oder Karren voller Hausrat, der auf dem Markt verkauft werden sollte. Und in der Mitte des Platzes stand ein Fuhrwerk, beinahe haushoch beladen mit Heu für die Pferde und Ochsen, die all diese Kutschen und Karren zogen und gefüttert werden mußten.
An der Westseite des Marktes befanden sich die Steipe und das Rote Haus. Mélanie betrachtete die beiden Gebäude und sah dann hinauf zum riesigen schmucklosen Turm der Gangolfskirche, von dem die Feuerwächter weit über die Stadt blicken konnten, um im Fall eines Brandes Alarm zu schlagen. Doch jetzt war es ruhig dort oben, nur einige Tauben hockten auf dem Sims und gurrten sich an.
Ein paar Schritte die Straße hinauf kam sie am Dreikönigen-Haus vorbei, einer Art Turmhaus: ein festlich-wehrhafter Bau, weiß getüncht, die Einfassungen der Bogenfenster in Ochsenblutrot und in Ockergelb bemalt. Es war ein seltsames und schönes Haus, das Mélanie als Ganzes und in Details in ihr Tagebuch zeichnete.
Noch ein paar Schritte weiter im Norden stand das bekannte Stadttor, dunkel und mächtig, fast angsterregend klobig. Ein Relikt aus der Zeit der Römer, wie sie nachgelesen hatte. Später hatte man es zu einer Klosterkirche umgebaut – nein, eigentlich waren es zwei übereinanderliegende Kirchen gewesen. Davon sah man allerdings nun nichts mehr, denn auf Befehl Kaiser Napoleons war das Tor vor einigen Jahren von allen nichtrömischen Verunstaltungen befreit worden.
Mélanie spazierte am Dom vorbei zur römischen Basilika, in deren Ostwand ein großes Loch klaffte, und kehrte dann in einem Gasthaus ein, wo sie ein warmes Mittagessen zu sich nahm. In der Poststation würde sie jedenfalls nicht mehr essen und dieses schreckliche Zimmer so lange meiden wie nur irgend möglich.
Später mietete sie sich ein Pferd und ritt über die Brücke auf die andere Seite der Mosel und dort den Hang hinauf. Von hier oben hatte sie eine wunderbare Aussicht über die Stadt und das Hinterland. Sie nahm ihr Reisetagebuch, fertigte einige Skizzen an und schrieb ihre Eindrücke hinein. Dann legte sie sich zurück und genoß die letzten Stunden des warmen Herbstnachmittages.