Zeit der Sehnsucht
Seit drei Wochen lebte Mélanie nun im Hause Dr. Lehmanns, der Samuels Assistent war und einen Teil seiner Patienten betreute. Samuel hatte sie dort einquartiert, weil es ihm nicht behagte, daß sie weiterhin in einem Gasthaus wohnte.
Mit Dr. Lehmann, seiner Frau Annelie und den Kindern verstand sie sich gut. Zum Glück, denn sie verbrachte mehr Zeit im Hause der Lehmanns, als ihr recht war, und viel zu selten konnte sie bei Samuel sein; zweimal die Woche abends zwei Stunden, in denen er sie unterrichtete, und hin und wieder am Vormittag eine halbe Stunde unter dem Vorwand, er würde sie behandeln.
Aber sie hatte es selbst so gewollt. Es schien ihr vernünftiger, seinen Töchtern zu verheimlichen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Luise und Charlotte ihr nicht wohlgesonnen waren. In letzter Zeit verhielten sich die beiden auch immer merkwürdiger. Sie waren kratzbürstig, ja geradezu unhöflich und verfolgten sie und Samuel mit ihrem Mißtrauen.
Seit zwei Tagen war außer ihr auch der Homöopath Geheimrat Freiherr von Gersdorff im Hause Lehmann zu Gast. Unterwegs von Wittenberg nach Leipzig, hatte er den kleinen Umweg auf sich genommen, um seinen alten Freund Hahnemann wiederzusehen. Er war ein sympathischer älterer Herr, den Mélanie sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Da sie aber offiziell nichts weiter als eine Patientin und Schülerin seines Freundes war, mußte sie sich seit seiner Ankunft noch mehr zurückhalten. Nun sah sie Samuel überhaupt nicht mehr. Ihr blieb nichts, als die lange Zeit ohne ihn für ihr Studium zu nutzen.
Nun saß sie wieder in Gottfried Lehmanns Arbeitszimmer und las in den Arzneiprüfungsberichten, die Samuel ihr gegeben hatte. Plötzlich hörte sie, wie unten die Haustür geöffnet wurde, und dann Schritte auf der Treppe. Sie sah auf. Es mußten Dr. Lehmann und von Gersdorff sein, die von einer Unterredung bei Samuel zurückgekehrt waren. Mélanie rechnete damit, daß sie ins Arbeitszimmer kommen würden, und sie hoffte auf einen Brief von Samuel. Weil sie sich so wenig sahen, schrieben sie sich und gaben die Briefe Dr. Lehmann mit, oder sie schickten das Mädchen.
Dr. Lehmann rechnete wohl nicht damit, daß sie sich zu so später Stunde im Arbeitszimmer aufhielt, denn er zog sich mit seinem Gast gleich ins Herrenzimmer zurück, das nur durch eine dünne Verbindungstür vom Arbeitszimmer getrennt war, wo sich die beiden Männer nun so laut unterhielten, daß Mélanie jedes Wort verstehen konnte.
»… sollten Sie sich nicht wundern. Immer schon waren Luise und Charlotte launisch und rechthaberisch und hielten ihren bedauernswerten Vater, der sie so hingebungsvoll liebt, für meinen Geschmack viel zu sehr unter dem Pantoffel.« Es war Dr. Lehmann, der das sagte. »Seit aber die Marquise im Hause ist, sind sie außer Rand und Band. Sie scheinen eifersüchtig zu sein und ihr jedes Quentchen Aufmerksamkeit, das er ihr zukommen läßt, zu mißgönnen. Ich habe selbst erlebt, wie sie, plötzlich und ohne anzuklopfen, das Ordinationszimmer stürmten wie ein Feldwebel das feindliche Lager, nur um zu sehen, was im Innern vor sich ging. Ich finde, er sollte die beiden zurechtweisen, aber so stark er sein kann, wenn es darum geht, sich gegen die Anfechtungen zu wehren, die man der Homöopathie entgegenbringt, so schwach, ja fast feige ist er im Umgang mit seinen Töchtern.«
Von Gersdorff pflichtete ihm bei. »Ich weiß. Luise war einmal lange Zeit krank und hatte so das ganze Haus beherrscht. Schon damals verhätschelte er sie viel zu sehr und ließ sich von ihr um den Finger wickeln. Für mein Dafürhalten war ihre Krankheit reine Hysterie und ein Druckmittel, die Aufmerksamkeit ihres Vaters ganz alleine für sich zu haben. Sie ist die Jüngste und, wie es scheint, in den Kinderschuhen steckengeblieben. Selbst ihren älteren Geschwistern, vornehmlich ihrem Bruder, dessen Pate ich bin, ist sie immer nur mit Eifersucht und Mißgunst begegnet.«
»Luise und Charlotte ziehen Hahnemann das Fell über die Ohren, und er merkt es nicht einmal! Auch die Herren seines homöopathischen Gesprächskreises ereifern sich darüber und bedauern es, Dr. Hahnemann so unterdrückt zu sehen. Wenn er doch auch gegenüber seinen Kritikern so viel Nachsicht walten ließe und ein wenig taktischer vorginge. Aber da explodiert er gleich wie ein Pulverfaß, das man angezündet hat. Und macht sich Feinde mit seinem Eigensinn und seiner Unversöhnlichkeit!«
Mélanie hatte genug gehört. Es war ihr unangenehm, lauschen zu müssen. Deshalb stand sie auf, öffnete die Zimmertür und schloß sie so laut wieder, daß man es nebenan hören mußte. Das Gespräch verstummte auch sofort und wurde dann viel leiser und mit unverfänglichem Inhalt fortgesetzt.
Mélanie nahm wieder am Schreibtisch Platz und versuchte sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Doch das Gesagte ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Auch sie konnte nicht begreifen, wieso sich ein Mann wie Samuel, der so Großartiges zustande gebracht hatte und in ganz Europa verehrt wurde, derart der Willkür seiner Töchter auslieferte. Doch es war nun einmal so, und sie mußte dem Rechnung tragen.
Geheimrat Freiherr von Gersdorff war früh am Morgen abgereist. Obwohl Mélanie ihn mochte, war sie darüber froh, denn je mehr Leute um Samuel waren, desto schwieriger erwies es sich für sie, ihn zu sehen und ein paar Minuten mit ihm allein zu sein.
Doch nun endlich, nach vier Tagen, in denen sie sich nach ihm verzehrt hatte, hielt er sie wieder fest um die Taille, und sie lachten und schäkerten miteinander.
»Wenn ich es recht bedenke … hatten Sie nicht gesagt, Madame, Sie wollten niemals heiraten?«
»Ja, das habe ich. Aber da wußte ich ja auch noch nicht, daß es Sie gibt, Monsieur.«
Samuels Augen blitzen vor Vergnügen. »Liebes Kind«, sagte er, und dann drückte er sie an sich und küßte sie.
Als plötzlich die Tür aufflog, fuhren sie auseinander.
Luise stand vor ihnen und sah sie aus zusammengekniffenen Augen mißtrauisch an. Schon seit Tagen hatten sie und Charlotte das Gefühl, daß ihr Vater und die Marquise vertraulicher miteinander umgingen, als es schicklich und angebracht war. Und auch jetzt schien ihnen das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben zu stehen.
»Das Essen ist angerichtet«, verkündete Luise mit schneidender Stimme.
»Gut, wir kommen gleich. Ich erkläre Madame nur noch, wie sie eine Störung des Herzrhythmus erkennen kann.« Samuel griff Mélanies Hand und legte seine Finger auf ihren Puls. Er tat harmlos, aber Luise ließ sich nicht täuschen. Wut lag in ihrem Blick, die Tür flog ins Schloß.
»Wir müssen vorsichtiger sein, mein Liebster. Wir müssen ein Buch vor uns auf den Tisch legen, um immer den Eindruck zu erwecken, wir studierten – auch dann, wenn wir es einmal für einen Moment nicht tun.« Lächelnd hauchte Mélanie einen Kuß auf Samuels Wange.
»Ich finde, wir sollten es ihnen sagen!« Er seufzte. »Wir müssen es doch ohnehin einmal tun.«
»O nein, mon Dieu! Noch nicht! Ich beschwöre dich, wir müssen unser kleines Geheimnis für uns behalten. Deine Töchter würden uns nicht bloß Steine in den Weg legen, sie würden alles tun, um unsere Hochzeit zu verhindern!«
»Meine Töchter lieben mich. Sie wollen mein Glück.«
Fast hätte Mélanie gelacht über soviel Naivität. Sie dachte an das Gespräch zwischen Geheimrat Freiherr von Gersdorff und Dr. Lehmann, das sie gezwungenermaßen belauscht hatte, und all die vapeurs et caprices , die sich Luise und Charlotte in letzter Zeit ihr gegenüber geleistet hatten.
»Nein«, beharrte sie deshalb. »Niemand soll etwas wissen! Wir werden heimlich heiraten. Nur bei meinem Vater solltest du ganz offiziell um meine Hand anhalten, Liebster.«
»Erwartet er das?«
»Meine Entscheidung wird er auf jeden Fall respektieren. Wir verstoßen ohnehin schon gegen alle Regeln. Ich bin siebzehn Jahre jünger als Henriette, deine erstgeborene Tochter. Ich bin deine Patientin und deine Schülerin. Man wird sich die Mäuler über uns zerreißen. Dabei geht es mir nicht um mich, sondern um dich – dein guter Ruf steht auf dem Spiel!«
Samuel nahm Mélanies Hand und küßte sie. »Du hast recht, liebes Kind. Ich werde deinem Vater schreiben.«
Sie gingen zur Tür. Bevor er sie öffnete sagte er: »Wenn wir unsere Hochzeit geheimhalten wollen, werden Sie die Vorbereitungen allerdings ganz allein treffen müssen, Madame.«
»Ich weiß, aber es muß sein!«
Abgesehen von ein paar spitzen Bemerkungen, die sich gegen Mélanie richteten, und Samuels Versuchen, zu vermitteln und einzulenken, verlief das Essen schweigend. Doch die Feindseligkeit hing in der Luft wie Samuels Tabakrauch, wenn er seine geliebte Pfeife anzündete. Selbst als Mélanie beim Abräumen des Tisches helfen wollte, wurde sie brüsk zurückgewiesen.
»Geben Sie sich keine Mühe. Charlotte und ich haben das bisher alleine getan und brauchen auch in Zukunft keine Hilfe!«
Luise rauschte mit einer Schüssel in Händen hinaus in die Küche, wo man sie ärgerlich mit Tellern klappern und mit der Schöpfkelle gegen den gußeisernen Topf schlagen hörte, der auf dem Feuer unter dem Rauchabzug stand, damit jederzeit heißes Wasser zur Verfügung war.
Mélanie seufzte. Diese Stimmung war nicht auszuhalten. Bilder ihrer Kindheit tauchten aus ihrer Erinnerung auf. Die Eifersucht der Mutter, die sie aus dem Hause getrieben hatte – und jetzt war es also die Eifersucht zweier mißgünstiger Töchter! »Aber nein«, flüsterte sie, und es klang wie ein Schwur, »diesmal werde ich mich nicht vertreiben lassen!«
In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Unaufhörlich kreisten ihre Gedanken um ihre Liebe und diesen unhaltbaren Zustand, in dem sie sich befanden. Um sich die Zeit zu vertreiben, in der sie und Samuel sich nicht sehen konnten, ritt sie aus, übte sich im Pistolenschießen, malte oder studierte. Aber die Tage ohne ihn waren endlos, und die Sehnsucht fraß sie auf. Und dann: Dieses Köthen war ein Nest! Hier wurde jeder ihrer Schritte beobachtet!
Gegen vier Uhr morgens stand sie auf und schrieb Samuel beim schwachen Schein einer Kerze voller Sehnsucht einen Brief.
Mon amour – Liebster!
Sie leben nur ein paar Häuser die Straße hinunter, und doch sind Sie so weit von mir entfernt, daß mir der Mond und die Sterne näher scheinen! Ich leide, ich bin so einsam ohne Ihre Wärme und Ihre Kraft.
Sie haben mir gesagt: »Niemals habe ich jemanden so sehr geliebt wie Sie; wir werden uns bis in alle Ewigkeit lieben!« Auch ich empfinde so, und ich schwöre, in meinen Gedanken werden Sie für immer mein Gemahl sein; kein anderer Mann wird je seine profane Hand nach mir ausstrecken, kein anderer Mund je meinen Mund küssen. Ich schenke Ihnen mein Vertrauen und schwöre Ihnen ewige Liebe und Treue!
Ach, diese Nacht scheint kein Ende nehmen zu wollen. Wenn Sie doch nur bei mir wären und ich mich vertrauensvoll an Ihre Schulter lehnen könnte! Schon wäre alles viel einfacher, und die Geister, die durch meinen Kopf spuken, hätten keine Macht mehr über mich.
Ich sehne mich nach Ihnen und bin in Gedanken mit jedem Atemzug bei Ihnen!
Dies schreibt Ihnen Ihre für ewig in Liebe verbundene
Mélanie d'Hervilly Gohier.
Auch an den nächsten beiden Tagen konnten sie sich nur flüchtig sehen und ausschließlich im Beisein anderer Leute. Am Abend brachte Dr. Lehmann dann ein Brief für sie mit, in dem Samuel ihr schrieb, daß er in seiner Verzweiflung und Sehnsucht Magdalena gebeten hatte, gegen fünf Uhr morgens an seine Tür zu pochen und ihn um einen Konsult bei ihrem Kind zu bitten.
So haben wir Zeit, Geliebte, uns für ein oder zwei Stunden zu treffen, sofern Sie den Mut aufbringen, sich bei Dunkelheit alleine durch die Straßen zu wagen. Zwar komme ich an Ihrem Haus vorbei, aber der Sicherheit halber treffen wir uns erst am Stadtturm hinter der Mauer. Von dort aus können wir ein paar Schritte auf der Promenade gehen, denn um diese Zeit wird wohl noch niemand unterwegs sein. Aber bitte, ziehen Sie Ihre Männerkleider an, schon zu Ihrem eigenen Schutz!
Ihr Sie liebender F.C.S.H.
Mélanie mußte lachen. Die Abkürzung all seiner Namen erinnerte sie an seinen Heiratsantrag. Glücklich preßte sie den Brief gegen die Brust. Und ob sie den Mut aufbringen würde, nachts allein durch Köthen zu gehen. Da hatte sie schon größere Abenteuer bestanden! Und sie würde noch sehr viel mehr wagen, als heimlich aus dem Hause und durch die Dunkelheit zum Stadtturm zu schleichen, nur um ihren Geliebten endlich wieder in den Armen halten zu können.
Ein dunkler Schatten war so plötzlich neben ihr und zog sie hinter den Turm, daß sie einen leisen Schrei ausstieß.
»Nur ruhig – ich bin es!«
Mélanie fühlte eine Hand in ihrem Nacken, die weich und warm war und sie zärtlich an sich zog.
»Samuel!« Seufzend schlang sie ihre Arme um ihn und gab sich ganz dem Kuß hin, mit dem er sie begrüßte.
»Wen hatten Sie sonst erwartet, junger Herr!«
Obwohl es so dunkel war, daß sie ihn kaum sehen konnte, wußte sie, daß seine Augen jetzt vor Vergnügen blitzten und sein Mund zärtlich lächelte. Oh, wie sie ihn liebte – diesen alten, jungen Schelm! Seinen Humor, seine Klugheit, seine Kraft! Wie sie ihn bewunderte, und wie sie es genoß, endlich zu einem Mann aufsehen zu können!
»So weit ist es schon gekommen mit mir«, flüsterte Samuel. »In dunkler Nacht hinter Türmen und Hecken ein Weib in Männerkleidung zu küssen! Und weiß Gott noch mehr zu wünschen! Schimpf und Schande über mich!« Er lachte leise. »Nicht mal als junger Bursche hätte ich so etwas Verwegenes gewagt!«
»Es gibt eben Dinge, Monsieur, für die muß man erst ein gewisses Alter erreichen«, entgegnete Mélanie im selben scherzhaften Ton.
»Ach, wie ich Ihr Lachen liebe! Wenn ich Sie nur endlich den ganzen Tag um mich haben könnte!«
»Und die ganze Nacht, Monsieur!«
»Und die ganze Nacht, weiß Gott …«
Seine Hände öffneten Mélanies Weste und tasteten sich unter das Hemd, das sie trug. Ein angenehmer Schauder ließ sie zusammenzucken, und ihre Haut unter seinen Fingern begann zu brennen. Er tastete sich über ihren Bauch zum Nabel hin, umkreiste ihn sanft und strich dann hinauf über den Bogen ihrer Rippen bis zu ihren Brüsten, die er zärtlich umschloß und eine Weile hielt, so als wolle er sie wiegen. Seine Berührungen waren so unerwartet zart, so ohne jedes Fordern, daß Mélanie erstaunt den Atem anhielt. Nicht für ihn waren diese Zärtlichkeiten gedacht, sondern als Geschenk für sie. Er gab, statt zu nehmen, das kannte sie nicht. Ein Seufzen wich aus ihrem Mund, wie der letzte Hauch einer Sterbenden, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich ein Bett mit dem geliebten Mann teilen zu können.
Ein Käuzchen rief vom Friedhof herüber, einmal, zweimal, dreimal. Dann war es wieder still.
Samuel löste sich von ihr. »Komm, Liebste, wir gehen ein paar Schritte.« Er faßte sie unter und trat mit ihr auf die Straße.
»Heute hat Charlotte mir berichtet, daß Sie auf Dr. Lehmanns Wallach schon in aller Frühe allein durch die Wälder jagten.«
»Und auch noch in Männerkleidern und auf einem Herrensattel! Vermutlich war sie entsetzt, nicht war?«
»Sie dürfen nicht so streng mit meinen Töchtern sein. Sie sind ein anderes Leben gewöhnt als das, das Sie, Madame, in Paris führen. Und dann … nach dem Tod ihrer Mutter hatten wir uns mehr und mehr zurückgezogen.«
»Ich glaube, Sie haben Frau Hahnemann sehr geliebt …«
»Was hätte ich ohne Henriette schon schaffen können? Sie war eine ganz besondere Frau. Stark. Zuverlässig. Tapfer. Auf all meinen Wegen hat sie mich begleitet, obwohl es alles andere als leicht für sie war. Elf Kinder hat sie mir geboren, von denen neun am Leben blieben. Dabei haben wir die meiste Zeit in Armut gelebt, oftmals nur in einem Raum. Weil es erst ruhig war, wenn die Kinder schliefen, habe ich nachts an den Übersetzungen gearbeitet, mit denen ich unsere Familie notdürftig am Leben erhielt. Oft gab es nur einen Brotkanten für uns alle und kein Holz, keine Kohlen für den Ofen. Es war ein schlimmes Leben, aber ich konnte nicht anders. Ich hätte mir und meinen Grundsätzen untreu werden müssen, wenn ich es den Kollegen gleichgetan hätte, die ihren Patienten nicht nur das Blut abzapften, sondern auch noch das Geld dazu. Die Quecksilber verabreichten, bis den Kranken die Zähne und Haare ausfielen, sie mit Opiaten und Arsenpräparaten vergifteten, um Symptome zu übertünchen … Bei Gott, es hat mich zur Raserei getrieben, mit ansehen zu müssen, daß es den Kranken ohne ärztliche Behandlung besser ging als mit ihr!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, für nichts und wieder nichts konnte ich da mitmachen! Aber eine andere als meine Henriette hätte mich wohl gezwungen. Sie hätte auf die Kinder gezeigt und gesagt: ›Jetzt mach mal, Mann! Du hast sie gezeugt, dann sieh auch zu, wie du es anstellst, anständig für sie zu sorgen.‹«
»Aber Sie waren doch nie faul, Monsieur!«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe gerackert wie ein Pferd. Ich habe Bücher übersetzt und eigene Werke geschrieben. Ich habe Artikel verfaßt, geforscht und entwickelt, und ich habe gelehrt. Auch behandelt habe ich von Zeit zu Zeit, aber was ich auch tat, es reichte nie für ein Auskommen, das es uns ermöglichte, vernünftig zu leben. Als Medicus hingegen hätte ich uns ohne Mühe ein angenehmes Leben verschaffen können.«
»Darum liebe ich Sie, Monsieur, weil Sie sind, wer Sie sind!« Mélanie nahm seine Hand und hielt sie fest.
Eine Weile hingen sie schweigend ihren Gedanken nach. Dann sagte Samuel: »Henriette war alles für mich. Sie war meine Freundin und Verbündete, meine Frau und die Mutter meiner Kinder, meine Ratgeberin und meine Assistentin. Ich war ihr mein Leben lang treu, und ich habe sie geliebt und nach ihrem Tod sehr vermißt. Aber jetzt … gibt es Sie, Madame. Ich liebe Sie mehr als je einen Menschen zuvor, und ich brauche Sie. Ich mag nicht glauben, daß etwas Schlechtes an unseren Gefühlen sein soll. Sie nehmen Henriette nichts weg, jetzt, wo sie tot ist. Ich weiß, sie hätte Verständnis für uns.«
Sie blieben stehen, fielen sich in die Arme und hielten sich fest wie zwei Ertrinkende. Zwei Menschen, erfüllt von einer tiefen Liebe. Eine junge Frau in Männerkleidern und ein alter weiser Mann. Ein seltsames Paar.
Als sie einander wieder losließen, sah Samuel Mélanie ernst an. »Du hast nun schon so vieles für mich getan, mein Kind. Und doch muß ich dich noch um eines bitten: Ich weiß, du bist Katholikin, aber du mußt zum lutherischen Glauben übertreten. Nicht, daß es wichtig für mich wäre – ich bin Freidenker und brauche die Kirche nicht für mein Seelenheil, aber in Deutschland kann uns nur ein Priester trauen, und dazu müssen wir vom selben Glauben sein.«
»Wenn das nötig ist, werde ich es tun.«
Er nahm ihre beiden Hände und küßte sie. Dann brachte er sie zurück zum Turm.
Noch immer war es finster, aber am Horizont zog bereits die Dämmerung auf. Das gespenstische Licht am Himmel, die wenigen beleuchteten Fenster, die schwarzblauen Linien der Dächer und Türme ließen die Stadt vor ihnen wie eine große, dunkle Kathedrale wirken.
Ihr Schweigen hatte etwas Andächtiges, das Ineinandergreifen ihrer Hände war wie ein Liebesakt.