17.

Wallga-Wallga ruhte sich nicht lange aus. Den Menschen, die sie beobachteten, schenkte sie keine Aufmerksamkeit. Stattdessen erhob sie sich zu voller Größe und stieß einen Triumphschrei aus.

»Jetzt ist sie völlig übergeschnappt«, stöhnte Gavro Yaal.

»Keineswegs, Gavro«, antwortete der Katzer leise. »Sie denkt so klar wie nie zuvor. Sie weiß jetzt, was zu tun ist. Ich lese ihre Gedanken ganz deutlich. Ihrer Überzeugung nach müsste sie längst tot sein. Nun sieht sie die Chance, doch noch ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen. Sie will nicht, dass wir ihr helfen. Sie will sogar uns helfen, so seltsam das auch klingen mag.«

Wallga-Wallga setzte entschlossen ein Bein vor das andere. Sie schritt über die leuchtenden Linien und Quadrate, ohne sich um den Großteil der Roboter zu kümmern. Einigen versetzte sie einen Tritt, sodass sie zur Seite taumelten.

Die Maschinen wurden nun aktiv und setzten ihre Mittel in schneller Folge ein. Strahlschüsse zischten aus dem Boden. Glühende Energiewände bauten sich auf, und wechselnde Schwerkraftzonen rissen Wallga-Wallga immer wieder zu Boden. Dazu kämpfte sie scheinbar gegen unsichtbare Angreifer, denn ihre Fäuste kreisten fast ständig wie rasende Hämmer durch die Luft. Atlan und seine Freunde konnten nur ahnen, welche Spukgestalten der selbst ernannten Quaderkönigin vorgegaukelt wurden.

Die alte Pfullianorain schaffte es bis fast zur Kuppelmitte. Bis dorthin hatte sie zwei Arme und ein Bein unter den Attacken der Roboter und den Auswirkungen der verborgenen Fallen verloren. Gleichzeitig hinterließ sie eine Spur der Verwüstung.

Ihr freiwillig gewähltes Schicksal ereilte sie auf einem giftgrün leuchtenden Quadrat. Eine neblige Substanz strömte daraus hervor und hüllte die Alte in Sekundenschnelle ein. Als die Dämpfe sich verzogen, sah man keine Spur mehr von ihr. Atlan, die Schläfer und die Buhrlos starrten sich entsetzt an.

»Nie und nimmer setze ich einen Fuß auf diese Quadrate«, ereiferte sich Gavro Yaal mit sich überschlagender Stimme.

»Du hast keine andere Wahl«, meldete sich da die unbekannte, halbtelepathische Stimme. »Ihr habt noch fünf Minuten Zeit. Wenn ihr euch dann noch immer außerhalb des Spielfelds befindet, ist euer Schicksal besiegelt.«

»Hört zu«, sagte Atlan. »Ich sehe keinen anderen Weg, als einen Versuch zu wagen. Es muss einen Weg durch dieses Labyrinth geben. Seht ihr das Quadrat, das jetzt hellblau aufleuchtet? Es ist das, auf dem sich Wallga-Wallga ausgeruht hat. Das ist unser erstes Ziel. Rennt, was die Beine hergeben. Wenn wir dort sind, sehen wir weiter.«

Der Arkonide spurtete los. In großen Sätzen hechtete er über die schimmernden Quadrate, bis er das selbst vorgegebene Ziel erreicht hatte. Tatsächlich reagierten die Roboter und die anderen Einrichtungen so langsam, dass er keinen Schaden erlitt.

Joscan Hellmut und die Buhrlos folgten ihm auf dem Fuß. Nur Bjo Breiskoll wartete noch bei dem zögernden Yaal. Für den Mutanten war es bei seiner körperlichen Gewandtheit das kleinste Problem, über die gefährlichen Fallen zu huschen.

Gavro Yaal zog plötzlich seinen Impulsstrahler und die Thermowaffe und begann sich regelrecht einen Weg freizuschießen. Die kleinen Roboter zerschmolzen unter seinem Feuer. Es zeigte sich jedoch bald, dass die eigentlichen Fallen in den Quadraten davon nicht außer Kraft gesetzt wurden. Ähnliche Attacken, wie sie Wallga-Wallga hatte erleiden müssen, wurden nun auch gegen Yaal geführt. Der feuerte nun nicht nur auf die Roboter, sondern auch auf die Felder selbst, versperrte er sich so jedoch den eigenen Weg, denn er konnte die zerstörten Platten nicht mehr betreten.

»Er verliert völlig den Überblick«, stöhnte Breiskoll. »Ich muss ihn da herausholen.«

Trotz der hohen Schwerkraft verließ er sich auf seine körperlichen Fähigkeiten. Er duckte sich zum Start. In diesem Augenblick brach Yaal unter einem unerklärlichen Einfluss zusammen. Sein gellender Schrei hallte durch die Kuppel.

Bjo Breiskoll spurtete los. Fast hatte es den Anschein, dass er den Boden gar nicht berührte. Neben ihm zischten Flammenstrahlen aus dem Boden, und auch die kleinen Roboter warfen sich ihm in den Weg, doch der Mutant war immer einen Sekundenbruchteil schneller. Er erreichte Gavro Yaal und riss ihn im letzten Moment von einem Quadrat herunter, das zu glühen begann.

Mit dem Mann über der Schulter trat er den Rückweg an. Elf Quadrate musste er überwinden, bis er wieder bei Atlan und den Buhrlos war. Joscan Hellmut nahm ihm den schlaffen Körper Yaals ab. Sofort begann der Kybernetiker mit einer behelfsmäßigen medizinischen Behandlung.

»Wir müssen weiter«, drängte Breiskoll. »Ein untrügliches Gefühl sagt mir, dass wir hier nicht ewig bleiben können.«

Bis zur gegenüberliegenden Seite des Spielfelds waren es noch etwa sechzig Meter. Für die Buhrlos war dies in Anbetracht der hohen Schwerkraft und der zurückliegenden Strapazen eine schier unüberwindliche Strecke.

»Ich versuche ein weiteres Feld zu finden, auf dem wir sicher sind«, bot sich Breiskoll an. »So wie ich die Sache einschätze, schaffen wir es nie in einem einzigen Spurt.«

Atlan willigte ein, und der Katzer huschte erneut davon. Es zeigte sich sehr schnell, dass die Gefahren zum Mittelpunkt der Halle hin immer größer wurden.

Bjo verharrte nur kurz auf einem Feld. Sobald er eine Reaktion spürte, rannte er weiter. Nach einem Lauf von zwei Minuten kehrte er zum Ausgangsquadrat zurück. Sein Atem ging schwer, und er musste sich einen Augenblick erholen, bevor er sprechen konnte.

»Ich habe kein Feld gefunden«, ächzte er, »das sich völlig ruhig verhielt.«

In diesem Augenblick schrien einige der Buhrlos auf. Von den vier direkt angrenzenden Quadraten drangen unheimliche Gestalten im Zeitlupentempo auf sie ein.

Die halbtransparenten Wesen wuchsen zu mehreren Metern Höhe an und schlossen einen dichten Ring um die Gruppe. Atlan sah eine hellblaue, dickflüssige Masse, aus der auf jeder Seite des Quadrats ein großes, wässriges Auge glotzte.

Der weitere Weg war versperrt. Der Arkonide zögerte nicht und feuerte mit seinem Thermostrahler auf eins der Wesen. Der Schuss erzielte keine Wirkung.

Er durchschaute das Spiel erst, als Studia St. Felix aufwimmernd zusammenbrach und dabei schrie: »Spinnen, Spinnen! Ich hasse Spinnen!«

Für Atlan besaßen die Gestalten nicht die geringste Ähnlichkeit mit Spinnen. Auch Joscan begriff sofort.

»Lasst euch nicht verrückt machen«, schrie er. »Das sind nur Trugbilder. Seht her!«

Er fuhr mit seinen Armen durch die Spukgestalten, ohne dass etwas geschah. Die Buhrlos konnten sich nur langsam mit dieser Tatsache abfinden, doch als auch sie endlich stillhielten, lösten sich die Gestalten auf.

Die trügerische Ruhe währte nur Sekunden. Atlan spürte, wie er plötzlich leichter wurde.

»Die Schwerkraft wird neutralisiert«, warnte er.

Schon schwebten sie einige Zentimeter über dem Boden. Dann setzte ein Ziehen ein, das sie auf das nächste Quadrat treiben wollte.

Gavro Yaal erreichte es Erster. Sofort wurde er zu Boden gedrückt. Da die Sogkraft nicht gleichmäßig wirkte, wurde die Gruppe auf verschiedene Quadrate versetzt. Sofort aktivierten sich die jeweiligen Fallen.

Der Zufall ließ Atlan und Bjo Breiskoll gemeinsam auf einer pechschwarzen Fläche landen. Neben ihnen schossen zwei stählerne Wände in die Höhe und versperrten ihnen teilweise die Sicht auf die anderen. Das Geschrei Yaals und der Buhrlos drang an ihre Ohren.

Als ein spitzer Dorn aus dem Boden glitt, wurde Bjo Breiskoll von diesem an der Hüfte getroffen. Aufstöhnend sank der Mutant zu Boden. Kurz bevor ein zweiter Spieß auftauchte, riss Atlan den Katzer hoch und presste ihn an eine der Stahlwände. Eine heftige elektrische Entladung sprang von dort auf Breiskoll über. Der Katzer taumelte nach vorn.

Unmöglich, zuckte es durch Atlans Gedanken. Das schaffen wir nicht!

»Ich bin Bjo Breiskoll!«, schrie der Katzer plötzlich so laut er konnte. »Ich bin ein Solaner und ein Mensch. Ich befehle euch hiermit, alle Angriffe gegen mich und meine Freunde sofort einzustellen. Ich verlange, dass wir ungehindert passieren dürfen. Tut, was ich sage, oder die Konsequenzen werden furchtbar sein!«

Was dann geschah, verblüffte sogar den uralten Arkoniden. Von einer Sekunde zur anderen herrschte Ruhe. Die Metallplatten und die Spieße verschwanden im Boden. In den Quadraten öffneten sich Löcher, in denen die Roboter verschwanden. Alle Felder nahmen eine gleichmäßig braune Farbe an.

Atlan blickte sich um. Neben ihm kniete der erschöpfte Bjo. Auf den umliegenden Feldern sah er seine Gefährten. Zwei der Buhrlos, Gersing Haybo und Ghuna Heck, lagen stöhnend auf dem Boden. Sie schienen aber nicht ernsthaft verletzt zu sein. Die anderen standen in lauernder Stellung dort, wo sie soeben noch um ihr Leben gekämpft hatten.

Sie sammelten sich in der Mitte der Halle. Außer den beiden Gläsernen und Bjo Breiskoll war niemand zu Schaden gekommen. Joscan Hellmut versorgte die Wunden, die rasch heilen würden.

»Kommt, Leute«, sagte Atlan, der immer noch ein ungutes Gefühl hatte. »Lasst uns auf die andere Seite gehen und sehen, was uns dort erwartet.«

Müde und zerschlagen machte sich der kleine Haufen auf den Weg. Gavro Yaal schwieg ausnahmsweise. Er half den angeschlagenen Buhrlos, indem er sie stützte.

Atlan grübelte vor sich hin, während sie den Dom durchquerten. Zu viele Dinge ergaben keinen Sinn. Ausgehend von dem Auftrag der Kosmokraten, der für ihn nach wie vor über allem stand, über die Gefahr, in der die SOL schwebte, bis zu den jüngsten Abenteuern passte das alles nicht zusammen. Er hatte erwartet, dass er mit der SOL ohne großen Zeitverlust nach Varnhagher-Ghynnst gelangen konnte. Bis jetzt war alles anders gekommen, und es gab im Augenblick keine realistische Chance, sein Vorhaben in absehbarer Zeit zu verwirklichen.

Sie erreichten die andere Seite des Doms. Die meisten der Buhrlos sanken nach dem Verlassen der quadratischen Felder erschöpft zu Boden. Auch Bjo Breiskoll und Gavro Yaal hockten sich einfach auf den harten Untergrund. Ein Ausgang war hier jedoch nicht zu sehen.

»Was ist passiert?«, fragte Atlan den mitgenommen wirkenden Katzer. »Woher wusstest du ...?«

»Ich wusste es nicht«, unterbrach ihn der Mutant. »Ich hatte nur plötzlich ein ... Gefühl. Nein, eher eine Eingebung. Ich ... kann es nicht besser erklären.«

»Was immer es war«, sagte der Arkonide und klopfte Breiskoll auf die Schultern. »Es hat uns allen das Leben gerettet.«

Atlan suchte die glatte Wand ab, bis ein leises Geräusch ihn innehalten ließ. Langsam öffnete sich eine Bodenplatte. Als ein großes Rechteck entstanden war, schob sich von unten eine Plattform in die Höhe. Darauf standen zehn Roboter in Kastenform.

Der Arkonide erkannte Quadram an seinen Streifen. Er stand mitten in der Gruppe. Nun trat er auf den Arkoniden zu und hob zum Gruß seine Arme.

»Ich beglückwünsche jeden Einzelnen von euch«, sagte er. »Ihr habt euch tapfer geschlagen. Mein Willkommensgruß erfolgt im Namen aller Phanos.«

Er deutete nacheinander auf seine Begleiter.

»Was soll das bedeuten?«, fragte der Arkonide misstrauisch. »Seid ihr etwa die Herren dieses Planeten?«

»Natürlich nicht, Atlan. Wir sind Roboter, Werkzeuge und Diener. Das solltest du inzwischen gemerkt haben.«

»Dann bring uns zu jenen, denen du dienst.«

»Das ist nicht möglich. Euer Weg ist vorbestimmt, und ihr werdet ihn gehen. Ihr gehört jetzt zu den Freien

»Ich war schon immer frei.« Gavro Yaal kam langsam auf die Beine.

»Das mag so sein, doch ein Freier bist du erst jetzt. Steigt bitte auf die Transportplattform. Ihr werdet euch bald ausruhen können.«

Die übrigen Phanos halfen den erschöpften Solanern und brachten sie zu einer gleichfalls aus dem Boden der Kuppel erschienenen Schwebeplattform. Als alle versammelt waren, senkte sich diese abwärts.

Schon nach wenigen Metern endete die Fahrt in einer Halle, die jener glich, in der sie angekommen waren. Auch Treibur-291 war zur Stelle.

Bis auf Quadram verließen die Roboter den Raum durch eine Seitentür. Der verbliebene Phanos bat die Menschen, wieder in den Gleiter zu steigen. Wortlos kamen diese der Aufforderung nach.

Treibur glitt aus der Halle und stieg schnell in die Höhe. Der Komplex der sieben Kuppeln blieb hinter ihm zurück. Leider erwies sich Quadram weiterhin als überaus schweigsam, während sie über die verlassene Landschaft nach Norden flogen. Schon tauchten am Horizont die ersten schneebedeckten Gipfel auf.

»Freie«, maulte Gavro Yaal, aber keiner achtete auf ihn. »Ich bin mir noch nie in meinem Leben weniger frei vorgekommen.«

Quadram reagierte mit keinem Wort darauf. Die anderen hingen ihren persönlichen Gedanken nach und ruhten sich aus. Als der Raumhafen wieder in Sicht kam, machte Treibur keine Anstalten, dort zu landen.

»Quadram«, sagte Atlan eindringlich. »Ich will wissen, wohin wir fliegen. Wir haben ein Recht, es zu erfahren.«

Der Roboter deutete mit einem Arm voraus.

»Dort ist die Stadt«, sagte er. »Dort leben die Freien. Dort werdet auch ihr leben.«

 

ENDE

 

Mithilfe der Schläfer Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll und Gavro Yaal haben Atlan und die ihn begleitenden Solaner den geheimnisvollen Planeten Mausefalle VII erreicht – und treffen auf ein Heer von Robotern, die sie einer Reihe von gefährlichen Prüfungen unterziehen.

Nun gehören sie zu den sogenannten Freien und werden in eine gewaltige Stadt gebracht, wo weitere Gefahren und Herausforderungen auf sie warten.

Wie es Atlan und seinen Freunden auf Mausefalle VII ergehen wird, erzählt H. G. Ewers im sechsten Band von »ATLAN – Das absolute Abenteuer«. Der Roman erscheint am 7. Juni 2013 und trägt den Titel:

 

STADT DER FREIEN