10.
Der Explosion folgte eine heftige Druckwelle. Sie wirbelte die kleine Gruppe durcheinander und trieb sie gegen ihren Willen durch den breiten Gang. Nur der körperlich extrem gewandte Bjo Breiskoll kam mit der plötzlichen Veränderung sofort zurecht. Er ließ sich von der Druckwelle tragen. Wenn ihm eine Wand zu nahe kam, machte er eine blitzschnelle Bewegung und stieß sich mit den Füßen ab.
Am schlimmsten traf es die sieben Buhrlos. Die Strapazen, die sie seit ihrer Ankunft im Quader hatten erleiden müssen, standen ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.
Gavro Yaal fluchte laut, aber seine Stimme ging im Tosen der Explosion völlig unter.
Joscan Hellmut war gleich zu Beginn mit dem Hinterkopf gegen einen Metallpfeiler geschlagen. Atlan hatte blitzschnell einen Arm um den Kybernetiker gelegt und ihn mitgerissen. So konnte er das Schlimmste verhindern.
Irgendwo vor ihnen musste sich automatisch ein Tor geöffnet haben, denn der Sog der Druckwelle hielt unvermindert an. Sie wirbelten in einen dunklen Raum hinein. Hinter ihnen schloss sich krachend ein schweres Stahltor.
Obwohl er seinen Schutzanzug geschlossen hatte, bemerkte Atlan die Veränderung sofort. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, warf er einen Blick auf die schwach leuchtenden Anzeigen an seinem rechten Unterarm.
In diesem Raum gab es keine Atmosphäre. Durch das Öffnen des Tores und die hereinströmende Druckwelle war nur noch ein kleiner Rest Sauerstoff vorhanden, der sich nun schnell verflüchtigte. Er ließ Hellmut los, der stöhnend zu Boden sank. Dann schaltete er den Helmscheinwerfer ein.
Der Raum war exakt würfelförmig. Alle Wände waren völlig glatt. In der Mitte gab es eine kreisrunde Öffnung im Boden, die etwa fünf Meter durchmaß. Von dort schimmerte ein schwaches Licht herauf.
Die elf Mitglieder ihres Teams waren alle anwesend. Studia St. Felix, eine der Buhrlo-Frauen, öffnete den Mund. Sie wollte Atlan etwas zurufen, aber wegen des fast völligen Fehlens einer Atmosphäre kam ihre Stimme nur unverständlich, leise und verzerrt an. Die Gravitation war mit 1,5 Gravos ungewöhnlich hoch.
Langsam bewegte sich Atlan auf das Loch in der Raummitte zu und beugte sich vorsichtig über den Rand. Ein sanfter Sog zog ihn nach unten.
»Eine Art Antigravlift«, teilte er den anderen über Helmfunk mit. Die Buhrlos, die keine Raumanzüge trugen, konnten ihn natürlich nicht verstehen.
»Zu gefährlich.« Gavro Yaal kroch zu Atlan hinüber.
»Hier können wir nicht bleiben.« Atlan deutete auf die Buhrlos, die sich verängstigt aneinanderdrängten. »Unsere Freunde halten nicht mehr lange durch.«
Joscan Hellmut hatte sich von dem Aufprall schnell wieder erholt. Auch er war dafür, diesen ungastlichen Ort sofort zu verlassen.
»Wir müssen eine Zone finden, in der normale Luftverhältnisse herrschen«, sagte er.
Gavro Yaal, der eben noch für ein Hierbleiben gewesen war, schwang sich wortlos in den Schacht. Dann folgten die Buhrlos, die sich noch immer furchtsam aneinanderklammerten. Die Nachhut bildeten Atlan, Breiskoll und Hellmut.
Je tiefer sie nach unten sanken, desto heller wurde es. An den Seitenwänden sahen sie völlig fremdartige Zeichen und Symbole. Atlan konnte nicht einmal entscheiden, ob es sich um Kunstwerke, Hinweise oder etwas anderes handelte.
Unter ihnen schimmerte ein diffuses Licht. Es ließ sich nicht erkennen, was sich dort befand und wo ihre Reise enden würde.
»Da!«, rief Joscan Hellmut plötzlich. Seine Hand deutete zur Seite. »Es ... es kam direkt aus der Wand.«
Nun erblickte auch Atlan das seltsame Ei, das in sanften hellroten und hellgrünen Farben leuchtete. Die Oberfläche sah aus, als bestünde sie aus Kristallen.
Das Objekt schwebte langsam quer durch den Schacht, ohne die Menschen zu berühren. Für einen Moment glaubte Atlan, eine Stimme in seinem Kopf zu hören, ein leises Flüstern, ähnlich dem des Extrasinns.
»Chybrain ... Chybrain ...«, hörte der Arkonide in seinem Geist.
Dann war der Spuk auch schon wieder vorbei, denn das Ei verschwand lautlos durch die gegenüberliegende Schachtwand.
»Was war ...?«, setzte Gavro Yaal an.
Er hatte die Frage noch nicht zu Ende formuliert, als sich dicht unter ihnen mit einem Ruck eine Metallplatte aus der Seitenwand schob. Auf ihr standen elf überdimensionierte Gefäße, die in ihrem Aussehen großen Eimern glichen.
Es wirkte wie Zufall, dass alle elf Menschen genau in diese Gefäße fielen. Bevor jemand zu einer Reaktion fähig war, glitt die Platte wieder in die schmale Öffnung, durch die sie gekommen war. Atlan und seine Begleiter wurden mitsamt ihren Eimern aus dem Schacht gezogen. Hinter ihnen schloss sich die Wand.
Sie befanden sich in einem hell erleuchteten Gang. Bjo Breiskoll sprang zuerst aus seinem Gefäß. Dann folgten die anderen. Atlan und Hellmut halfen den erschöpften Buhrlos.
»Hier gibt es wenigstens wieder Atemluft«, hörte Atlan einen der Buhrlos sagen. Ein Blick auf seine Armbandgeräte bestätigte dies.
Vorsichtig öffnete der Arkonide seinen Helm. Hellmut und Yaal folgten seinem Beispiel. Nur Bjo Breiskoll stand bewegungslos neben seinem Eimer. Seine Augen funkelten durch die Helmscheibe des Raumanzugs.
»Kann mir einer sagen, was das alles soll?«, schimpfte Gavro Yaal.
Eine energische Handbewegung des Katzers brachte ihn zum Schweigen. Dann klappte auch der seinen Helm nach hinten. Atlan bemerkte die Verwirrung des Mutanten.
»Er ist weg«, flüsterte Breiskoll.
»Wer?«, fragten Atlan und Hellmut gleichzeitig.
»Chybrain.« Der Katzer schüttelte seinen Kopf, als wäre er gerade aus einem bösen Traum erwacht.
»Chybrain?«, echote Atlan. »Ich habe diesen Begriff auch gehört, als das seltsame Ei auftauchte.«
»Chybrain ist sein Name«, erklärte Breiskoll. »Das weiß ich genau.«
»Von mir aus«, meinte Hellmut. »In diesem seltsamen Schiff wundert mich nichts mehr. Wahrscheinlich gehört dieser Chybrain zu der Robotarmee des Quaders.«
»Chybrain stammt nicht aus dem Quader.« Atlan glaubte Angst in Breiskolls Stimme zu hören. »Chybrain stammt nicht einmal aus unserem Universum.«
Da Atlan die hochsensiblen Psi-Sinne des Mutanten kannte, zweifelte er nicht an dessen Worten.
»Woher willst du das wissen, Bjo?«, fragte er nur.
»Ich wünschte, ich könnte es erklären«, antwortete Breiskoll, ohne einen der anderen anzublicken. »Aber ich kann es nicht. Ich weiß es einfach.«
»Wir sollten uns um unsere Rettung kümmern«, maulte Yaal, »bevor wir auf Mausefalle VII zerschellen.«
Bjo Breiskoll lauschte immer noch mit seinen Parasinnen.
»Er ist noch in der Nähe«, flüsterte er. »Ich kann ihn fühlen und doch wieder nicht. Und dann ist da diese ... diese komische Frau.« Er stockte.
»Ich spüre die Gedanken eines intelligenten Lebewesens«, sagte er laut. »Aber ich kann sie nicht richtig identifizieren.«
»Wir gehen in diese Richtung«, munterte Atlan seine Begleiter auf. Er deutete den breiten Gang entlang, der völlig leer zu sein schien. Allerdings war es auch die einzige Richtung, die sie wählen konnten. Zu ihrer Verwunderung folgte ihnen die Platte mit den Eimern selbstständig in wenigen Metern Abstand.
»Was hat dieser Unsinn zu bedeuten?«, fragte Yaal. Der Solaner wollte seine Waffe ziehen, aber Atlan hinderte ihn energisch daran.
Der Arkonide wusste, dass er auf diesen Mann besonders achten musste, denn Gavro Yaal war schon immer ein eigenwilliger und exzentrischer Mensch mit verqueren Ideen gewesen. Bevor er zum energischsten Befürworter der Übergabe der SOL an die Solaner geworden war, hatte er als Botaniker und Hydrokultur-Farmer gearbeitet. Nun war Yaal 63 Jahre alt, wobei die 183 Jahre, die er im Tiefschlaf verbracht hatte, natürlich nicht mitgerechnet waren. Seine Art, mit der er früher die Psychologen zur Verzweiflung getrieben hatte, besaß er immer noch.
Widerwillig fügte er sich Atlans Anweisung. Im Weitergehen warf er der Plattform mit den übergroßen Eimern immer wieder misstrauische Blicke zu.
Die Buhrlos schleppten sich mühsam voran. Für sie war nicht nur die körperliche Belastung am größten, sondern insbesondere der psychische Druck. Lebensräume wie dieser hier waren ihnen zu fremd und außerdem auf längere Zeit gefährlich. Nach maximal achtzehn Tagen ohne Aufenthalt im freien Weltraum würde sich ihre schützende Hornhaut schließen. Dann stand ihnen ein qualvolles Ende bevor. Auch ein künstliches Vakuum, das es im Quader an vielen Stellen gab, konnte die Leere des Alls nicht ersetzen. Zwar bewegten sie sich erst seit gut vier Tagen durch das fremde Raumschiff, aber die physische und psychische Belastung war enorm gewesen.
Sie folgten einer Biegung des Korridors. Ein Geräusch über ihnen ließ die Gruppe anhalten. Knirschend und quietschend bildete sich in der Decke eine Öffnung. Ehe Atlan und seine Begleiter reagieren konnten, regneten mehrere Dutzend Roboter der unterschiedlichsten Typen von oben herab und umringten die Gruppe.
Gavro Yaal wollte erneut seine Waffe ziehen. Diesmal hielt ihn Breiskoll zurück.
»Was soll das?«, zischte er wütend. »Siehst du nicht, dass sie uns nicht bedrohen?«
Mehrere der kleineren Roboter näherten sich scheinbar unbekümmert den Menschen. Ihre Arme und Tentakel tasteten die Körper der Solaner behutsam ab. Die teilweise skurrilen Formen der Roboter erinnerten Atlan eher an Spielzeuge.
Gavro Yaal riss der Geduldsfaden erwartungsgemäß zuerst. Er trat nach einem Roboter, sodass dieser mehrere Meter durch die Luft flog und hart auf dem Boden aufschlug. Zur Verwunderung Atlans kümmerten sich die anderen Maschinen gar nicht um diesen Zwischenfall.
Immer mehr Roboter strömten aus dem Loch in der Decke. Die Neuankömmlinge untersuchten die Platte mit den Eimern, die wenige Meter hinter den Menschen angehalten hatte. Das alles geschah zunächst völlig lautlos. Auch ließ sich nicht feststellen, ob diese Roboter über Sprechwerkzeuge verfügten. Atlans Versuche in dieser Richtung wurden nicht erwidert.
Schließlich waren von der Gruppe, die die Plattform untersuchte, eine Reihe von Zischlauten zu hören. Atlan deutete sie als Erregung, war sich dieser Einschätzung aber nicht sicher.
Plötzlich sprangen die Roboter wie auf ein Kommando wieder von der Platte. Unmittelbar darauf setzte sich diese in Bewegung. Sie glitt den Weg zurück, den sie gekommen war. Ein kleiner Roboter mit mehreren Tentakeln trat auf Atlan zu.
»Zwyll«, sagte er und deutete mit mehreren seiner Gliederarme auf seinen röhrenförmigen Hauptkörper. Dann folgten weitere Worte, die unverständlich waren. Aus den Bewegungen der Tentakel und der Gasse, die sich vor ihnen in den Reihen der Roboter bildeten, konnten die Menschen allerdings erahnen, was die kleinen Maschinen von ihnen wollten. Sie sollten ihnen folgen.
»Ich gehe nicht mit«, sagte Gavro Yaal. »Wer weiß, wohin uns diese Blechheinis bringen ...«
Die Buhrlos kamen der Aufforderung der Roboter als Erste nach. Offenbar wollten sie die für sie so ungewohnte Umgebung einfach nur möglichst schnell verlassen. Atlan, Breiskoll und Hellmut schlossen sich ihnen an. Schließlich folgte auch Gavro Yaal, der dabei allerdings beständig und laut vor sich hin maulte.
Schon nach wenigen Metern öffneten die Roboter über einen unsichtbaren Mechanismus eine Seitentür. Modriger Geruch schlug den Solanern entgegen. Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser. Die Beleuchtungskörper waren mit alten Lumpen verhangen, sodass man kaum noch etwas erkennen konnte.
Atlan schaltete seinen Helmscheinwerfer ein, worauf die Roboter erregte Zischtöne von sich gaben. Er kümmerte sich jedoch nicht darum und leuchtete die Umgebung ab.
Sie befanden sich in einer Halle, deren Ende nicht zu erkennen war. In der Mitte verlief ein sorgfältig und gerade angelegter Weg. Zu beiden Seiten davon war Erdreich aufgeschüttet. Die Fläche war in eine Reihe von Beeten unterteilt.
»Pilze«, sagte Bjo Breiskoll und deutete auf die faustgroßen weißen Gewächse, die in unregelmäßigen Abständen aus dem Boden ragten.
Die Roboter stellten sich so auf, dass keiner der Menschen den Weg verlassen konnte. Der kleine Zwyll schritt voran, wobei er immer wieder mit seinen Tentakeln winkte.
»Die Luft ist miserabel«, stöhnte Lyskus Hernoki, einer der vier männlichen Buhrlos.
»Durchhalten. Wir schaffen das.« Atlans Worte waren nur ein schwacher Trost für die Weltraumgeborenen. »Bei nächster Gelegenheit versuchen wir, in die Außenbereiche des Quaders zu gelangen. Noch wissen wir nicht, wohin es uns verschlagen hat.«
Der Katzer trat an die Seite des Arkoniden. »Sie führen uns zu dem Wesen, das ich vorhin schon einmal geespert habe«, flüsterte er. »Ich kann seine Gedanken spüren. Sie sind jedoch unklar und verworren.«
»Wallga-Wallga«, sagte Zwyll plötzlich. »Gehen. Durchhalten.«
»Sieh an«, zeigte sich Atlan überrascht. »Der Knirps fängt an, unsere Worte zu benutzen. Vielleicht kommt es zu einer Verständigung. Er scheint so etwas wie einen eingebauten Translator zu besitzen.«
»Translator«, echote Zwyll. »Zwyll versteht.«
»Seltsame Gestalten.« Für Joscan Hellmut gehörten Roboter aller Art zum Alltag, denn der Kybernetiker hatte sich zeit seines Lebens kaum mit etwas anderem beschäftigt. Auf der SOL war er der Spezialist im Umgang mit der Biopositronik SENECA gewesen. Die seltsamen kleinen Roboter hier gaben ihm jedoch Rätsel auf.
»Wir sollten sie aushorchen«, sagte er
»Aushorchen?«, fragte Zwyll, während die Gruppe zügig weiterging.
»Ja«, antwortete Hellmut. »Verrätst du uns, wohin du uns bringst? Wohin gehen wir?«
»Wallga-Wallga ist die Königin des Quaders«, lautete die Antwort.
»Er meint zweifellos das Wesen, dessen Gedanken ich spüre«, behauptete Bjo Breiskoll. »Die Roboter scheinen so etwas wie ihre Diener zu sein.«
»Nicht Diener.« In Zwylls Kunststimme schwang Empörung mit. »Knappen.«
»Ihr seid durchgedrehte Schrotthaufen«, rief Gavro Yaal dazwischen. Dabei fuchtelte er wild mit den Armen.
»Nicht durchgedrehte Schrotthaufen«, ließ sich Zwyll nicht beirren. »Knappen!«
Der Weg durch die Pilzrabatten endete an einem kleinen See. Seitlich davon befand sich eine kaum mannshohe Öffnung in der Wand, durch die die vorauseilenden Roboter strömten.
»Sie haben sich vermutlich selbst eine neue Programmierung gegeben«, vermutete Joscan Hellmut. »Wahrscheinlich sind ihre ursprünglichen Herren verschwunden, oder sie haben sich so verändert, dass die eigentliche Aufgabe der Roboter nicht mehr durchgeführt werden kann.«
»Mir ist das alles egal«, stieß Studia St. Felix hervor. Sie und die beiden anderen Buhrlo-Frauen hatten sich untergehakt. Sie krochen mehr voran, als dass sie gingen. Die Erschöpfung und die Angst war allen Buhrlos deutlich anzusehen.
Die Menschen mussten sich bücken, um sich durch den kleinen Ausgang zu quetschen. Dahinter wurde ein schmaler, hoher Gang sichtbar, in dem die Beleuchtung wieder normal funktionierte. Die Metallwände des neuen Korridors waren so blank gescheuert, als seien sie eben erst installiert worden.
»Wir betreten jetzt das Reich der Quaderkönigin«, sagte Zwyll aufgeregt. »Wir erwarten von euch, dass ihr euch entsprechend benehmt. Wallga-Wallga hat Großes mit euch vor.«
»Ich werde dieser Königin zeigen, was ...«, begann Gavro Yaal, doch Atlan legte eine Hand auf seine Schulter und brachte ihn dadurch zum Schweigen.