DAS TOR ÖFFNET SICH
Es war Pedro, der es zuerst entdeckte. Aus der Luft sah es aus wie eine silberne Streichholzschachtel, die im Mondlicht funkelte und das mitten in der unendlichen Leere der Nazca-Ebene. Es musste eine Art Fahrzeug sein, denn die Reifen hatten deutliche Spuren im weichen Boden hinterlassen. Jetzt parkte es an der Plattform vor Qolga. Matt wusste, wer sich darin aufhielt. Dies war das Labor, von dem Mr Fabian gesprochen hatte. Von hier aus kontrollierte Diego Salamanda den Satelliten.
Der Flug hatte eine halbe Stunde gedauert. Ihnen blieben nur noch dreißig Minuten bis Mitternacht.
»Da stimmt was nicht…«, sagte Atoc plötzlich.
Kaum hatte er ausgesprochen, spürte Matt es ebenfalls. Der Hubschrauber vibrierte und schien in der Luft stehen zu bleiben. Sie waren hunderte von Metern über dem Boden, und auf einmal wurde Matt jeder einzelne Meter überdeutlich bewusst. Sein Magen verkrampfte sich, als der Hubschrauber absackte. Pedro, der sich an ihn drängte, schrie entsetzt auf. Atoc zog hektisch an den Hebeln und bekam den Hubschrauber halbwegs in den Griff, doch noch immer schwankte die Maschine wie ein Betrunkener.
»Was ist los?«, fragte Matt.
»Keine Ahnung!« Atoc konzentrierte sich auf die Steuerung.
Eine einzige Kugel hatte sich beim Kampf verirrt und den Schaden angerichtet. Sie hatte die Seite des Hubschraubers getroffen und eine der Hydraulikleitungen beschädigt. Diese hatte zwar eine Weile gehalten, aber mit einem derartigen Schaden hätten sie im Grunde nie starten dürfen. Die Verbindung zu den Rotoren brach abrupt ab, und sie befanden sich im freien Fall. Es war, als würde man in ein schwarzes Loch stürzen. Das ganze Universum schien sich um sie zu drehen, und Matt erhaschte einen Blick auf den Wüstenboden, der auf sie zuzurasen schien. Atoc schrie etwas in seiner Sprache – vielleicht ein letztes Gebet. Die Hubschrauberinstrumente spielten verrückt, Nadeln wirbelten herum, und Warnleuchten blinken nutzlos auf. Pedro krallte sich an Matt fest. Die ganze Kabine vibrierte. Matt sah alles dreifach. Seine Augen fühlten sich an, als würden sie ihm aus dem Kopf gepresst werden.
Atoc tat, was er konnte. Selbst ohne Antrieb hatten die Rotoren noch genug Kraft, um den Hubschrauber halbwegs kontrolliert zu landen. Im letzten Moment schrie er etwas in seiner eigenen Sprache, Matt sollte nie herausfinden, was Atoc damit sagen wollte. Der Hubschrauber, der immer noch viel zu schnell war, prallte schräg auf den Boden und begann, sich zu überschlagen. Matt wurde auf Pedro geworfen. Kurz darauf hörten sie ein grauenhaftes Geräusch, als der Hauptrotor aus der Verankerung gerissen wurde und eines der Rotorblätter zerbrach. Matt bekam nur zum Teil mit, was als Nächstes passierte. Überall flogen Metallteile herum, und eines davon musste das Cockpit getroffen haben, denn das Glas zerplatzte. Es roch nach Feuer. Funken sprühten aus den Kontrollleuchten, und über Matts Kopf blinkte ein grelles Licht. Er hatte das Gefühl, nach vorn zu fliegen. Der Helikopter schien Purzelbäume zu schlagen. Doch dann kippte die Maschine wieder zurück. Es folgte ein ohrenbetäubendes Krachen, als das Heck auf den Boden aufschlug. Danach kehrte endlich Stille ein.
Matt schaute auf, aber er konnte nichts sehen. Sie waren von Staub eingehüllt, der sie umgab wie ein Vorhang. Die Nase des Hubschraubers steckte im Wüstenboden, und die ganze Maschine lag auf der Seite. Matt konnte sich nicht bewegen. Ein paar Sekunden lang glaubte Matt gelähmt zu sein. Erst dann begriff er, dass ihn lediglich der Sicherheitsgurt festhielt. Langsam zwang er seine Hand nach unten und löste ihn. Er konnte Benzin riechen und musste gegen die Panik ankämpfen. Der Hubschrauber konnte jeden Augenblick explodieren. Sie würden bei lebendigem Leib verbrennen.
»Pedro…?«, rief er und hatte plötzlich Angst, dass sein Freund tot sein könnte.
»Matt…«
Pedro kroch unter Matt hervor und ließ sich aus dem Hubschrauber in den Wüstensand gleiten. Matt folgte ihm. Auf seiner Wange und an seinem Hals war etwas Klebriges. Er berührte es mit einem Finger und betrachtete ihn. Es war Blut.
Sein ganzer Körper tat weh. Ihm war klar, dass er ein Schleudertrauma erlitten hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich überhaupt bewegen konnte. Er stieß sich ab und fühlte dann die kühle Erde unter sich.
Er kroch zu Pedro. »Wir müssen hier weg«, sagte er mit Angst in der Stimme. »Der Hubschrauber kann immer noch explodieren. Das Benzin – «
»Atoc…?«, fragte Pedro.
Atoc hing in seinem Gurt, und Matt sah auf einen Blick, dass er tot war. Er wusste jetzt auch, dass es Atocs Blut war, das auf ihn gespritzt war. Er hatte hart gekämpft, um die beiden Jungen zu retten, aber er hatte diesen Kampf mit dem Leben bezahlt. Matt betrachtete ihn voller Trauer. Erst Micos, der auf der hacienda in Ica von Kugeln getroffen worden war. Und jetzt auch noch Atoc. Zwei Brüder, beide noch so jung und beide tot. Warum? Hielten sie ihn und Pedro wirklich für derart wichtig, dass sie bereit waren, ihr Leben für sie zu opfern? Matt traten Tränen in die Augen, aber gleichzeitig stieg ein Gefühl von Wut und Hass in ihm auf – gegen Salamanda, Fabian, Rodriguez und all die anderen Erwachsenen und ihr Verlangen, die Welt zu verändern. Warum konnten sie nicht einfach ihr Leben leben und ihn in Ruhe lassen?
Pedro sah ihn fragend an. Sein Gesicht verriet, was er meinte. Was jetzt?
»Wir finden Diego Salamanda«, sagte Matt. »Und halten ihn auf.«
Aber Pedro würde nicht mitkommen können. Er deutete mit der Hand auf seine Füße. Matt sah nach unten und erkannte den Grund dafür. Pedro hatte nicht geklagt und auch keine Schmerzen gezeigt, aber sein Bein lag ausgestreckt vor ihm, und sein Knöchel war eindeutig gebrochen. Der Fuß war grotesk verdreht, und die Schwellung reichte schon fast bis zum Knie.
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas.
Ein Junge wird sich den Alten entgegenstellen, und allein wird er fallen. Die mitternächtliche Brise schien Matt diese Worte des amauta
zuzuraunen. Anscheinend war jedes Detail vorherbestimmt worden: ein Hubschrauberabsturz. Atoc tot. Pedro zu stark verletzt, um sich zu bewegen. Matt auf sich allein gestellt.
Matt lächelte grimmig. » Adiós«, sagte er.
»No, Matteo – «
»Ich muss gehen.« Matt stand auf. Das Hubschrauberwrack hatte sich bereits abgekühlt. Es würde nicht in Flammen aufgehen oder explodieren. Er konnte Pedro daneben zurücklassen. »Richard und die anderen werden schon unterwegs sein«, sagte er. »Du musst bestimmt nicht lange warten.«
Er wusste nicht, wie viel Pedro davon verstanden hatte. Es spielte auch keine Rolle mehr.
Matt drehte sich um und ging los.
Er hatte immer noch Schmerzen. Sein Kopf tat weh, und jeder Knochen seiner Wirbelsäule schien von seinem Platz verrückt zu sein. Er schaute hinunter auf seine Hände und sah zahlreiche Schnittwunden. Sein T-Shirt war zerrissen. Falls ihn jemand beobachten sollte, dachte Matt, dann würde er auf ihn wie ein wandelnder Leichnam wirken.
Und dennoch, als er vorwärts humpelte, schien der Schmerz zu schwinden. Es war ein merkwürdiges Gefühl, so, als würde er den Schmerz hinter sich lassen wie eine Reihe abgenutzter Kleidungsstücke, die er nicht mehr brauchen würde. Als er dem Hubschrauber entstiegen war, hatte eine Brise geweht, die jetzt nachließ, und er konnte hören, wie seine Füße beim Gehen den Boden berührten. In der Wüste umgab ihn eine außergewöhnliche Stille. Die ganze Welt schien die Luft anzuhalten. Sein Blick fiel auf den schwarzen sternenübersäten Himmel. Er konnte die Umrisse der Berge in der Ferne ausmachen – für ihn waren sie nicht mehr als ein Pinselstrich auf der großen nächtlichen Leinwand. Matt erinnerte sich kurz an die Kondore, die ihn das letzte Mal angegriffen hatten, als er hier war. Was würde er bloß machen, wenn sie wiederkämen?
Er war allein. Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt. Er sah sich selbst als winziges Staubkorn in dieser gewaltigen, leeren Wüste, auf dem Weg zu seinem sicheren Tod. Warum machte er das? Er hatte keine Waffen. Atoc hatte seine Schusswaffe sicherlich mitgenommen, aber Matt hatte im Wrack des Hubschraubers noch nicht einmal nach ihr gesucht. Warum nicht? Die Antwort kam ihm sogleich: Er hatte natürlich seine Kraft. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder zurück in Forrest Hill und sah, wie der Kronleuchter von selbst explodierte. Damals hatte er seine Kraft genutzt. Nein, so war es nicht. Vielmehr hatte die Kraft Matt benutzt.
Der Laborwagen stand vor ihm. Der Helikopter war knapp vierhundert Meter davon entfernt heruntergekommen. Aus der Nähe betrachtet, konnte Matt sehen, dass das Labor eine Mischung aus Lastwagen, Container und Wohnmobil war. Es war auf acht dicken Gummireifen in die Wüste gefahren und dann auf Stahlstützen aufgebockt worden, sodass die Reifen rund zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebten. Vorn war eine offensichtlich leere Fahrerkabine, und an der Seite befand sich eine Tür, zu der man über drei Stufen gelangte. Matts Blick wanderte zum Dach. Eine weitere Satellitenschüssel von etwa drei Metern Durchmesser war gen Himmel gerichtet. Dicke Kabel führten ins Innere des Labors. Andere Maschinen umgaben den Mast. Am Heck des Fahrzeuges hing eine Leiter, die aufs Dach führte. Vielleicht könnte er hinaufklettern. Aber selbst wenn es ihm gelänge, ohne entdeckt zu werden, was würde er tun? Er konnte keine Kabel zertrennen. Er hatte kein Werkzeug bei sich.
Nichts bewegte sich. Wie viel Uhr war es? Matt hatte noch immer keine Armbanduhr, und er fragte sich, ob es nicht schon zu spät und Mitternacht vielleicht schon vorbei war. In diesem Fall würde sich das Tor schon geöffnet haben – irgendwo in der Nazca-Ebene oder in einem anderen Teil von Peru. Die Alten würden bereits auf der Erde wandeln. Er weigerte sich, das zu akzeptieren. Diego Salamanda war vor ihm, in seinem Labor. Matt hatte immer noch Zeit, das zu tun, was getan werden musste. Alles, was er seit seiner Ankunft in Peru erlebt hatte, sogar schon lange vorher, war auf diesen Moment hinausgelaufen. Er war nur aus einem Grund hier. Matt schloss seine Augen.
Die Kraft. Finde sie. Nutze sie. Lenke sie. Sie ist in dir. Du musst nur wissen, was der Auslöser ist.
Es war der Geruch von Verbranntem. Matt begriff, dass all dies mit dem Tod seiner Eltern begonnen hatte. Mit dem Autounfall, als er acht Jahre alt war. An besagtem Morgen hatte seine Mutter Toast anbrennen lassen. Und immer, wenn seine Kraft zu ihm zurückkam, dann auch seine Erinnerung an diesen einen, prägenden Moment in seinem Leben. Als Gavin Taylors Freund ihm in Forrest Hill ein Bein gestellt hatte, war ihm der Brandgeruch aufgefallen. Und am nächsten Tag, in der Klasse, als Gwenda auf dem Weg war, den Tanklaster in die Schule zu fahren, war es wieder passiert.
Das Geheimnis war es, etwas zu riechen, was nicht da war. Es sich vorzustellen. Er hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, aber wenn er sich in die damalige Situation hineinversetzen könnte, als seine Kraft sich zum ersten Mal bemerkbar gemacht hatte, dann würde das einen Schalter in ihm umlegen, und es würde beginnen.
Matt blieb stehen, wo er war, seine Arme locker vor der Brust verschränkt. Er atmete langsam und hielt dabei seine Augen noch immer geschlossen. Er konnte die Kühle der Nacht an seinem Nacken spüren. Er strengte sich nicht übermäßig an, wohl wissend, dass ihm das nicht weiterhelfen würde. Ihn überkam das Gefühl der Ruhe. Er sollte hier sein. Alles war vorbestimmt. Und tief in ihm fühlte er es. Es war wie ein Zug in einem endlos langen Tunnel, nur war er der Tunnel und der Zug war eine Kraft, die sich in ihm zusammenbraute. Er sah einen gelben Blitz, nicht hier in der Wüste, aber tausende von Kilometern entfernt, vor sechs Jahren. Die Küche. Er war dort mit seinen Eltern. Er konnte seine eigenen Beine in den kurzen Hosen sehen, wie sie an einer Stuhlseite baumelten. Eine kleine Rauchwolke entstieg seiner Nase. Da war er, der Brandgeruch. Er war zu ihm zurückgekehrt.
Matt schlug die Augen auf.
Er wusste, was er machen würde. Und er wusste, dass es ihm gelingen würde. Er musste nicht einmal mehr darüber nachdenken. Er nahm seine Hände runter und hielt seine Handflächen parallel zum Himmel. Vor ihm begann die Satellitenschüssel zu schimmern und sich zu verbiegen, als wäre sie von einer Hitzewelle erfasst worden. Matt konzentrierte sich. Es war, als würde er einen Teil von sich vorwärts schieben. Etwas Unsichtbares strömte aus ihm heraus. Er hörte einen Schuss, aber er wusste, dass niemand auf ihn geschossen hatte. Matt hatte einen Bolzen aus dem Dach gerissen. Er lächelte, und ein weiterer Bolzen flog heraus, es folgten noch zwei. Vier starke Männer hätten diese Satellitenschüssel nicht bewegen können, aber Matt riss sie aus der Verankerung, als wäre sie aus Papier.
Die Schüssel ratterte, als versuchte sie, sich selbst loszureißen. Matt half ihr dabei. Er hob nur kurz den Blick, und sie riss ab und wirbelte davon. Und damit war es vorbei. Wer immer in diesem Fahrzeug war, hatte nicht länger die Kontrolle über den Satelliten. Matt war erstaunt, dass die Zerstörung des Satelliten nach allem, was er durchgemacht hatte, so einfach gewesen war.
Die Tür des Labors öffnete sich, und jemand erschien.
Es war Diego Salamanda. Matt hatte ihn zwar nur einmal gesehen, aber der verlängerte Kopf, die Leberflecken, die winzigen Augen und der kleine Mund waren unverkennbar. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Vorsichtig verließ er den Wagen. Sogar die drei Stufen waren eine Herausforderung für ihn. Er konzentrierte sich darauf, den Kopf hochzuhalten. Das tat er nun schon sein Leben lang. Hinter ihm bemerkte Matt andere Männer und eine Frau in einem weißen Umhang. Miss Klein. Er hatte sie auf der hacienda gesehen. Diego Salamanda hatte den Satelliten nicht allein verfolgen können. Er hatte seine Techniker mitgebracht.
Fast beiläufig fragte sich Matt, was als Nächstes passieren würde. Sein Gegner erreichte den Boden und starrte ihn an. Er hatte eine Waffe in der Hand. Glaubte er wirklich, dass ihm die etwas nützen würde?
»Warum bist du hier?«, schrie Salamanda ihn wutentbrannt an. »Wie bist du hergekommen?«
»Wie spät ist es?«, fragte Matt.
Salamanda erstarrte. Es war, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
»Was…?«
»Wie spät ist es?«
Der Mann verstand die Frage und auch, warum Matt sie gestellt hatte. »Es ist fünf vor zwölf!«, jammerte er. »Fünf Minuten… mehr hätte ich nicht gebraucht.«
Er hob die Pistole und drückte ab.
Die Kugel schnellte aus dem Lauf und begann, auf Matts Kopf zuzufliegen. Sie kam aber nicht einmal in seine Nähe. Matt hatte keine Ahnung, wie er es machte. So hatte er sich noch nie gefühlt. Er konzentrierte sich einfach, und die Kugel blieb mitten in der Luft stehen. Mit einem leichten Kopfrucken schleuderte er sie hinaus in die Nacht. Salamanda fühlte Matts Energie wie Wellen, die an ihm vorbeirauschten. Er selbst wurde nicht getroffen, aber hinter ihm wurde der Laster mitsamt dem Labor von einer Explosion erfasst. Er wurde angehoben und weggeworfen wie das Spielzeug eines wütenden Kindes. Das schwere Fahrzeug überschlug sich mehrmals und kam erst nach hundert Metern zum Stillstand.
Diego Salamanda blieb, wo er war. Er hatte nichts mehr, an dem er sich festhalten konnte. Die Hand mit der Waffe hing schlaff herunter.
»Du glaubst, du hättest gewonnen«, sagte er. »Aber das hast du nicht. Die Welt hat den Alten gehört, und sie wird ihnen wieder gehören. So steht es im Tagebuch.«
»Vielleicht irrt sich das Tagebuch.«
»Das ist unmöglich.«
Matt starrte den Mann an, der versucht hatte, ihn umzubringen, und der für den Tod so vieler Menschen verantwortlich war. »Warum haben Sie das getan?«, fragte er. »Sie sind reich. Sie haben unzählige Häuser und ein riesiges Unternehmen. Warum war das nicht genug?«
Diego Salamanda lachte auf. »Du bist nur ein Kind!«, rief er. »Sonst hättest du es verstanden. Man kann nie genug Macht und Güter besitzen.« Er verstummte. Nichts rührte sich. Die Leute im Labor waren entweder bewusstlos oder tot. Es war immer noch absolut windstill. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich hasse?«, fragte Diego Salamanda.
»Hass ist alles, was Sie jetzt noch haben«, erwiderte Matt gelassen.
Sein Feind hob die Pistole und feuerte die fünf verbliebenen Patronen ab.
Matt drehte die Kugeln um, die in alle Richtungen davonschossen. Er konnte nicht beeinflussen, wohin sie flogen. Drei von ihnen entwichen in die Nacht, aber die anderen beiden durchdrangen Salamandas Brustkorb und seine rechte Schulter. Die Kugeln allein hätten ihn nicht getötet, aber sie rissen ihn von den Füßen und ließen ihn auf den Rücken knallen. Matt hörte, wie Salamandas Genick augenblicklich brach. Der riesige Kopf rollte zur Seite. Die Augen starrten blicklos nach vorn.
Es war vorbei.
Matt atmete auf. Er würde zum Hubschrauber zurückgehen und bei Pedro bleiben. Wahrscheinlich waren Richard und die anderen schon unterwegs zu ihnen. Er schauderte. Es war plötzlich sehr kalt geworden. Und da war noch etwas anderes. Bisher hatte er es nicht bemerkt, aber es roch nach Aas – nach verdorbenem Fleisch. Er sah hoch, weil er an die Kondore denken musste. Aber sie waren nicht zu sehen. Doch der Himmel hatte seine Farbe verändert. Etwas pulsierte in der Schwärze – eine Art dunkelviolettes Licht. Die Sterne leuchteten intensiver als zuvor. Sie wirkten wie Glühbirnen, die jeden Augenblick durchbrennen würden. Matt schmerzte der Kopf. Er schaute zu den Bergen, und dann sah er es.
Ein grelles Licht bewegte sich über den Himmel und steuerte auf seine Position zwischen zwei Bergspitzen zu. Matt wusste sofort, dass es kein Stern war. Und auch kein Flugzeug. Es war der Satellit. Matt durchdachte noch einmal, was gerade passiert war: Salamanda hatte den Satelliten auf Kurs gebracht. Und dann erst war Matt gekommen und hatte das Labor zerstört.
Er war zu spät gekommen. Es war, als hätte er eine Waffe zerstört, nachdem die Kugel bereits abgefeuert worden war. Er hatte keine Zeit gehabt, die Umlaufbahn des Satelliten zu ändern, und selbst ohne Führung hatte dieser seinen Kurs beibehalten und steuerte auf seinen Zielpunkt zu. Natürlich würde er dort nicht stehen bleiben. Wahrscheinlich würde er irgendwann abstürzen. Aber das spielte keine Rolle. Sobald er seine vorausberechnete Position erreichte, würde die Ausrichtung der Sterne komplett sein. Dann würde das Kombinationsschloss aufgesperrt werden, und das Tor würde sich öffnen.
Und genau das passierte.
Das Tor öffnete sich…
Unter Matts Füßen bebte es. Er schaute nach unten und sah, wie sich ein Riss im Sandboden auftat. Er begann ganz in seiner Nähe und entfernte sich im Zickzack von ihm. Ein zweiter Riss kreuzte den ersten. Weitere breiteten sich in alle Richtungen aus. Die ganze Wüste schien aufzubrechen. Zur selben Zeit begann eine Flüssigkeit von unten heraufzuquellen und sich auf der Erde auszubreiten. Sie war dunkel, rotbraun und dickflüssig wie Sirup, und es war eindeutig Blut. Die Risse wurden breiter. Matt spürte, wie er durchgeschüttelt wurde. Es war, als wäre er in ein Erdbeben geraten, aber es lief irgendwie langsamer und gezielter ab als ein normales Erdbeben. Das violette Licht am Himmel pulsierte jetzt noch stärker. Plötzlich war ein Kreischen zu hören. Am liebsten hätte Matt sich die Ohren zugehalten, aber er wusste, dass es nichts nützen würde.
Er verstand jetzt, was er vorher nicht gewusst hatte. Er war nach Peru gekommen, um nach einem zweiten Tor zu suchen, und hatte gedacht, dass es irgendwo in der Nazca-Wüste sein würde. Aber er hatte sich geirrt. Sie hatten sich alle geirrt, denn die Nazca-Wüste war das Tor. Die gesamte Wüste. Von seinem Standpunkt aus konnte er seltsamerweise die berühmten Linien sehen. Sie glühten. Es waren Kreise und Dreiecke, Rechtecke und Quadrate, aktiviert und bereit nach einer Wartezeit von mehr als zwanzigtausend Jahren.
Im Boden rumorte es. Er spürte das Beben unter ihm. Krampfhaft versuchte er, sich zu konzentrieren und seine Kräfte zurückzuholen, aber es war hoffnungslos. Er war vollkommen allein, wie der Seher es ihm vorhergesagt hatte, und es gab nichts, was er noch tun konnte. Das Rumoren wurde lauter. Gleichzeitig kam ein eisiger Wind auf, der ihm den Staub in die Augen trieb und ihm die Haare in die Stirn wehte. Matt verlor das Gleichgewicht und stolperte vorwärts. Gelächter hallte durch die Wüste. Vor seinen Augen verschwamm alles. Er hörte ein Geräusch, das wie das Knallen einer riesigen Peitsche klang, so laut, dass es ihn fast von den Füßen riss. Licht brach aus dem Wüstenboden hervor, durchschnitt die Luft und strahlte bis in den Himmel. Geblendet und geschlagen fiel Matt auf die Knie.
Plötzlich war es still.
Dann kamen die Kreaturen zum Vorschein.
Wie Lava aus einem Vulkan schoss ein riesiger Vogel direkt vor Matt aus dem Boden hervor. Er blieb vor ihm in der Luft stehen und schlug so rasend schnell mit den Flügeln, dass sie kaum noch erkennbar waren. Rund um ihn herum brodelte die Erde. Matt spürte den Wind, den die Flügel verursachten, und bedeckte das Gesicht mit den Armen, weil er Angst um seine Augen hatte. Der Vogel war ein gigantisch großer Kolibri. Er hatte schwarz glänzende Augen, die bösartig funkelten. Sein Schnabel stand halb offen, und Matt wusste, dass das Vieh ihn ganz verschlingen konnte, wenn es das wollte.
Plötzlich tauchten vier haarige Riesenbeine auf. Sie krallten sich in die Kante des Wüstenbodens, und eine gigantische Spinne zog sich selbst an die Oberfläche. Matt sah zwei schwarze Klauen, mit denen sie Gift in ihre Opfer spritzen konnte. Sie verharrte kurz und rannte dann davon.
Mit einem Kreischen sprang ein Affe aus dem Nichts hervor. Sein Schwanz ringelte und entringelte sich, und er grinste so abartig, dass all seine Zähne zu sehen waren. Die Bilder, die Matt vom Flugzeug aus gesehen hatte, erwachten nacheinander zum Leben. Matt blieb, wo er war, auf den Knien, und wartete auf den Tod.
Etwa zwanzig Sekunden lang passierte weiter nichts. Dann hörte Matt ein Summen. Es begann dumpf und in weiter Ferne, wurde jedoch lauter und lauter, bis es sich so anhörte, als versuchte jemand, die Welt mit einer Kettensäge zu zerlegen. Matt presste sich die Hände auf die Ohren, und im nächsten Augenblick strömte ein ungeheurer Insektenschwarm aus einem der Bodenrisse. Es waren Fliegen mit dicken Körpern und schnell schlagenden Flügeln. Der Schwarm schien kein Ende zu nehmen – erst Tausende, dann Millionen, dann Milliarden. Die Fliegenplage füllte den ganzen Himmel. Und während Matt entsetzt zusah, begannen sie, Formen zu bilden. Sie wurden so zu Männern, bewaffneten Soldaten. Jeder Mann bestand aus tausenden von Fliegen, und kurz darauf gab es eine ganze Armee von ihnen, die in langen Linien bis zu den Bergen strammstand.
Sie waren die Vorhut. Aber es krochen noch mehr Kreaturen aus den Eingeweiden der Erde hervor, endlich befreit aus der Welt, die sie jahrhundertelang gefangen gehalten hatte.
Die, die jetzt kamen, ähnelten keiner bestimmten Lebensform. Für Matt waren es widerliche Gestalten mit Ansätzen von Armen und Beinen. Einige hatten Hörner, andere Zähne, wieder andere hervorstehende Augen. Ein paar waren halb Mensch und halb Tier – ein Alligator mit Menschenbeinen, ein Schwein von der Größe eines Pferdes, eine riesige Kröte mit einem Vogelkopf. Und sie quollen aus der Erde, bis die ganze Wüste voll von ihnen war. Einige waren schwarz, andere grau. Gelegentlich waren Farbtupfer zu sehen: grüne Federn, weiße Zähne, das schmutzige Gelb von Eiter, der aus einer offenen Wunde tropfte. Sie standen vorerst nur da und atmeten die Luft der Welt, die sie zerstören wollten, während die Fliegensoldaten hinter ihnen aufgereiht waren und auf ihren ersten Befehl warteten.
Ihr Anführer sollte noch kommen.
Ein Blitz durchzuckte den Nachthimmel, und das Rumoren klang zunehmend tiefer. Nacheinander erschienen dreizehn weitere Figuren, diesmal Reiter auf Pferden, gekleidet in rostige Panzer und Lumpen. Jeder von ihnen war ein Riese, mindestens drei Meter groß. Es blitzte wieder, und sie verwandelten sich. Jetzt waren es Skelette auf fleischlosen Pferden. Noch ein Blitz, und sie wurden zu Geistern, Kreaturen aus Luft und Rauch. Sie machten kein Geräusch und bewegten sich wie Schatten über die Wüste. Dann stellten sie sich im Halbkreis auf und warteten. Es war noch kälter geworden, und Matt sah den weißen Hauch ihres Atems.
Zuletzt entstieg der König der Alten dem Wüstenboden.
Matt zitterte. Der König war viel größer als alle anderen Kreaturen, die bisher erschienen waren. Mit seinen Händen hätte er die Wolken berühren können. Jeder seiner Fingernägel war größer als Matt. Die Dunkelheit umhüllte die riesige Kreatur wie ein Mantel. Der König der Alten war zu gigantisch, um gesehen zu werden, zu grausig, um verstanden zu werden.
Plötzlich bemerkte er Matt. Er roch ihn, ähnlich wie eine züngelnde Giftschlange ihre Beute wahrnimmt. Matt spürte, wie die Kreatur ihre Augen auf ihn richtete. Er begann, nach der Kraft zu suchen, die noch in ihm stecken musste, obwohl ihm klar war, dass sie niemals ausreichen würde. Sie hätten zu fünft hier sein sollen. Aber er war allein.
Matt stand auf.
»Geh zurück!«, schrie er. Seine Stimme klang lächerlich im Vergleich zu den Geräuschen der monströsen Wesen. Er war für sie sicherlich nicht mehr als ein winziges Insekt. »Du hast hier nichts zu suchen!«
Der König der Alten lachte. Es war ein widerliches Geräusch, tief und tödlich wie der Donner, und es hallte durch die ganze Wüste.
Rund vierhundert Meter weiter hörte Pedro dasselbe Lachen. Er drehte den Kopf in die Richtung, in der er Matt vermutete.
»Matteo!«, rief er so laut er konnte.
Matt hörte ihn. Die Prophezeiung war falsch gewesen. Er war doch nicht ganz allein. Pedro war in seiner Nähe, und wenn sie zu zweit waren, verdoppelte das seine Kraft. Mit neuem Schwung richtete er sich auf und schoss alle Energie, die er noch besaß, auf die riesige Kreatur, die vor ihm stand. Die ganze Wüste bebte. Der König der Alten kreischte und wich zurück. Alle anderen Kreaturen, die seinen Schmerz mitempfanden, kreischten ebenfalls. Später würde man sagen, dass dieses Geräusch in ganz Peru zu hören gewesen war. Es blieb jedoch ungeklärt, was es war oder woher es kam. Matt fühlte sich siegesgewiss. Die Alten schrumpften vor ihm zusammen wie Papierfetzen im Feuer. Pedro war bei ihm, und wenn sie beide nur noch ein paar Sekunden länger durchhielten…
Aber Matt hatte seine Kraft ausgereizt, und sie drohte ihn zu verbrennen. Er sah zwei Sonnen, die seine Wimpern versengten. Etwas Schwarzes, größer als die Nacht, stürmte auf ihn ein und schlug ihn nieder. Er wurde zurückgeschleudert und krachte auf den Boden. Blut rann aus seiner Nase.
Der König der Alten, schwer verletzt und geschwächt, warf einen letzten Blick auf den reglosen Körper. Dann versammelte er seine Horden um sich und verschwand mit ihnen in die Nacht.