ST. MEREDITH’S

Die Kirche lag in einem Viertel von London, das kein bisschen großstädtisch wirkte. In der Schule hatte Matt etwas über den Blitzkrieg gelernt, bei dem die deutschen Bomber große Teile der Stadt zerstört hatten, vor allem in den östlichen Bezirken. Die Lehrer hatten jedoch nicht erwähnt, dass die Ruinen durch moderne Bürogebäude, mehrstöckige Parkhäuser und schäbige Billigläden ersetzt worden waren, die breite Schnellstraßen säumten, auf denen ein nie endender Verkehrsstrom viel Lärm erzeugte. Trotzdem kamen die Autofahrer nur im Schneckentempo voran.

Ein Taxi hatte Matt hergebracht und ihn am Anfang der Moore Street abgesetzt, die sich als heruntergekommene Straße entpuppte. Matt sah eine Kneipe und einen Waschsalon. Die Kirche stand am anderen Ende. Sie wirkte düster und deplatziert. Auch sie war von Bomben getroffen worden. Irgendwann in den letzten zwanzig Jahren hatte sie einen neuen Kirchturm erhalten, der aber nicht zu den Steinsäulen und bogenförmigen Eingängen passte. Die Kirche war relativ groß und früher sicher einmal der Mittelpunkt eines blühenden Gemeindelebens gewesen.

Wieder einmal fragte sich Matt, warum William Morton ausgerechnet diesen Treffpunkt gewählt hatte. Wenigstens würde es ihnen hier nicht schwer fallen, einander zu erkennen. Es waren nur wenige Menschen unterwegs – und von den hundert Polizisten, die ihm der Beamte vom Nexus versprochen hatte, war kein einziger zu sehen. Als Matt an der Kneipe vorbeiging, öffnete sich die Tür, und ein bärtiger Mann mit einer gebrochenen Nase wankte hinaus. Es war erst zwölf Uhr, und er war schon betrunken. Matt beschleunigte seinen Schritt. Er hatte ein Handy in der Tasche, und Richard war nur wenige Minuten entfernt, falls er Hilfe brauchte. Matt hatte keine Angst. Er wollte diese Sache nur hinter sich bringen und endlich ein normales Leben führen.

Er ging auf den Haupteingang der Kirche zu und fragte sich, ob er überhaupt hineinkommen würde. Die Tür war massiv und vermittelte den Eindruck, als wäre sie verschlossen. Er griff nach dem Türknauf, der sich kalt und schwer anfühlte. Der Knauf drehte sich langsam und knarrend. Die Tür schwang auf, und Matt trat vom hellen Sonnenlicht in die dämmrige Kirche, in der überall unheimliche Schatten lauerten. Hier hatte die Sonne keinen Zutritt. Der Verkehrslärm war wie abgeschnitten. Matt hatte die Tür offen gelassen, doch sie schlug hinter ihm zu. Das Krachen, mit dem sie ins Schloss fiel, hallte durch die ganze Kirche.

Matt stand an einem Ende des Kirchenschiffes, das zum Altar führte. Es gab kein elektrisches Licht, und die Buntglasfenster waren entweder zu klein oder zu schmutzig, um Sonnenlicht einfallen zu lassen. Aber in den Nischen an den Seiten des Kirchenschiffes brannten hunderte von Kerzen, die ihm den Weg wiesen. Als Matts Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, stellte er fest, dass er nicht allein war. Alte Menschen knieten vor dem Altar oder standen gebeugt vor den Grabsteinen. Sie sahen aus wie Geister, die aus den Katakomben unter der Kirche gekrochen waren.

Matt schluckte. Er fühlte sich unbehaglich und wünschte, er hätte darauf bestanden, dass Richard ihn begleitete. Der Reporter hatte es gewollt, aber Mr Fabian und die anderen Mitglieder des Nexus hatten es ihm ausgeredet. Matt sollte allein kommen. Das hatten sie mit William Morton ausgemacht, und wenn sie ihr Versprechen brachen, würden sie ihn wahrscheinlich nie wieder sehen.

Matt sah sich um, doch er konnte William Morton nirgendwo entdecken. Wo wartete er auf ihn? Sicher stand er versteckt im Dunkeln. Das machte Sinn. Er würde erst sichergehen wollen, dass Matt allein gekommen war. Wenn Matt sich nicht an die Abmachung gehalten hätte, würde Morton einfach durch einen der anderen Ausgänge verschwinden, ohne dass ihn jemand zu Gesicht bekam.

Matt ging auf den Altar zu, vorbei an einer hölzernen Kanzel, die die Form eines Adlers hatte. Hier konnte der Priester hoch oben über den Kirchenbesuchern stehen und seine Predigt halten. Überall an den Wänden waren Gemälde. Ein Heiliger, gespickt mit Pfeilen. Ein anderer, den man auf ein Rad gebunden hatte. Eine Kreuzigung. Warum musste das Christentum immer so grausam und düster dargestellt werden?

Auf halbem Wege zum Altar, an der Stelle, an der die Seitenschiffe der kreuzförmig gebauten Kirche abzweigten, stand plötzlich ein Mann auf und winkte ihn zu sich. Er hatte in einer der Bankreihen gesessen und sein Gesicht mit den Händen verdeckt. Matt erkannte ihn sofort an seinem Übergewicht, den silbrigen Haarbüscheln, den roten Wangen und kleinen, wässrigen Augen. Er trug einen zerknitterten Anzug ohne Krawatte. Bei sich hatte er ein Päckchen, das in braunes Papier gewickelt war.

»Matthew Freeman?«, fragte er.

»Ja, ich bin Matt.«

»Du weißt, wer ich bin?«

»William Morton.«

Der Antiquitätenhändler sah anders aus als in dem Fernsehbericht, den Matt gesehen hatte. Irgendetwas hatte ihm seine Arroganz und seine Selbstsicherheit genommen. Er schien sowohl seelisch als auch körperlich geschrumpft zu sein. Jetzt, wo er ihm gegenüberstand, erkannte Matt auch, dass der Mann unrasiert war. Graue Stoppeln wucherten auf seinen Wangen und seinem Hals. Und er hatte sich anscheinend auch tagelang nicht mehr umgezogen. Ein übler Schweißgeruch ging von ihm aus.

»Du bist noch sehr jung.« Mr Morton blinzelte ein paarmal. »Du bist nur ein Kind.«

»Was haben Sie erwartet?« Matt machte sich keine Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen. Er hasste es, wenn man ihn als Kind bezeichnete. Außerdem wusste er immer noch nicht, was das alles sollte.

»Hat man es dir nicht gesagt?«, fragte der Mann.

»Man hat mir gesagt, dass Sie ein Buch haben. Eine Art Tagebuch…« Matt warf einen Blick auf das braune Päckchen, und Morton umklammerte es automatisch fester. »Ist es das?«

William Morton antwortete nicht.

»Mir wurde ausgerichtet, dass Sie mich treffen wollten«, fuhr Matt fort. »Sie möchten Ihnen das Buch abkaufen.«

»Ich weiß, was sie wollen!« William Morton sah sich hektisch um. Plötzlich war er misstrauisch. »Bist du allein?«, zischte er.

»Ja.«

»Komm mit!«

Bevor Matt noch etwas sagen konnte, war der Mann auch schon durch eine Bankreihe geeilt und hastete in einen der Seitenflügel der Kirche, in dem keine Besucher saßen. Matt folgte ihm langsam. Er hatte das Gefühl, dass der Antiquitätenhändler ein wenig verrückt war. Aber gleichzeitig wusste er, dass die Unruhe des Mannes begründet war. Er musste wieder an den Farmer Tom Burgess denken, der ihn in Lesser Malling angesprochen hatte und der später umgebracht worden war. Der Farmer war genauso panisch gewesen. Als Matt dem Mann in die dunkelste und hinterste Ecke der Kirche folgte, begriff er, dass William Morton Todesangst verspürte.

Er wartete, bis Matt ihn eingeholt hatte, dann begann er hektisch zu flüstern. In diesem Teil der Kirche war niemand außer ihnen. Wahrscheinlich hatte er ihn deshalb gewählt.

»Ich hätte das Tagebuch nie kaufen dürfen«, brach es aus ihm heraus. »Aber ich wusste natürlich, was es war. Ich hatte schon von den Alten gehört. Ich weiß ein wenig über ihre Geschichte… natürlich nicht viel. Niemand weiß viel über sie. Aber als ich das Tagebuch auf einem Markt in Córdoba entdeckt habe, wusste ich sofort, was es war. Es gibt Leute, die behaupten, es habe nie existiert. Und noch viel mehr, die denken, dass der Verfasser – der heilige Joseph von Córdoba – verrückt war. Der verrückte Mönch. So haben sie ihn genannt.

Und da war es! Unglaublich. Es schien nur darauf gewartet zu haben, dass ich es mitnehme. Die einzige niedergeschriebene Geschichte der Alten: Raven’s Gate. Und die Fünf!« Als er diese Worte aussprach, wurden seine Augen groß, und er starrte Matt an. »Es war alles da«, fuhr er fort. »Der Anfang der Zeit, unserer Zeit. Der erste große Krieg. Er wurde nur durch einen Trick gewonnen…«

»Ist es das?«, fragte Matt zum zweiten Mal und deutete auf das Päckchen. Er wollte die Buchübergabe so schnell wie möglich hinter sich bringen.

»Ich dachte, es würde ein Vermögen wert sein!«, flüsterte er. »Davon träumt jeder Buchhändler – eine jahrhundertealte Erstausgabe zu finden oder die einzige Ausgabe eines Buches, das als verloren galt. Und dieser Fund war sensationell. Ich war im Fernsehen und habe allen davon erzählt. Ich habe damit angegeben – und das war der größte Fehler, den ich machen konnte.«

»Wieso?«

»Weil – «

Irgendwo in der Kirche ließ jemand ein Gesangbuch fallen. William Morton fuhr herum, als wäre ein Schuss abgefeuert worden. Matt konnte sehen, wie die Sehnen an dessen Hals vortraten. Der Antiquitätenhändler sah aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Er wartete einen Moment, bis alles wieder still war.

»Ich hätte vorsichtiger sein sollen«, fuhr er flüsternd fort. »Ich hätte das Tagebuch erst lesen sollen. Vielleicht hätte ich es dann begriffen.«

»Was begriffen?«

»Es ist schlecht!« William Morton holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Hast du schon mal eine Horrorgeschichte gelesen? Eine, die du nicht wieder aus dem Kopf bekommen konntest? Die blieb und dich gequält hat, wenn du schlafen wolltest? Die Wirkung hat das Tagebuch, nur schlimmer. Es berichtet von Kreaturen, die in diese Welt kommen werden und von Ereignissen, die uns bevorstehen. Alles habe ich nicht verstanden, aber was ich entziffern konnte, lässt mich nicht wieder los. Ich kann nicht mehr schlafen. Nichts essen. Mein Leben ist vollkommen auf den Kopf gestellt.«

»Warum verkaufen Sie es dann nicht einfach? Ihnen sind doch sicher Millionen dafür geboten worden.«

»Und du glaubst, ich könnte auch nur einen Penny davon genießen?« William Morton lachte kurz auf. »Seit ich das Tagebuch gelesen habe, habe ich Albträume. Furchtbare Albträume. Und dann wache ich auf und denke, es ist vorbei, aber das ist es nicht. Weil es keine Träume sind, sondern die Realität. Die Schatten, die im Traum nach mir greifen, sind nicht nur Hirngespinste. Siehst du das…?«

Er schob einen Ärmel hoch, und Matt verzog das Gesicht. Es sah aus, als hätte der Mann versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Rund ein halbes Dutzend frische Schnittwunden führten kreuz und quer über seinen Unterarm.

»Haben Sie das gemacht?«, fragte Matt.

»Vielleicht habe ich es gemacht. Vielleicht auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern! Ich wache morgens auf, und die Schnitte sind da. Das Bettzeug ist voller Blut. Und es tut höllisch weh.« Er rieb sich die Augen und kämpfte gegen die Tränen an. »Und das ist nicht alles. Oh nein! Seit ich das Buch gelesen habe, kann ich nicht mehr richtig sehen. Das Einzige, was ich sehe, sind Schatten und Düsternis. Leute, die mir auf der Straße begegnen, erscheinen mir als Leichen. Sogar Hunde und Katzen sehen mich an, als wollten sie sich auf mich stürzen, und…«

Erneut rang William Morton um seine Fassung.

»Und es geschehen Dinge«, fuhr er fort. »Ständig! Auch als ich heute herkam. Fast hätte mich ein Auto überfahren. Es war, als hätte der Fahrer mich nicht gesehen – oder als hätte er mich gesehen und es wäre ihm egal. Glaubst du, dass ich verrückt bin? Dann hör dir an, was mit meinem Haus passiert ist. Es ist niedergebrannt. Ich war dort. Das Feuer ist von selbst ausgebrochen. Es kam aus dem Nichts! Die Türen waren plötzlich alle verschlossen, die Telefone tot. Verstehst du, was ich sage? Das Haus wollte mich umbringen!«

Matt wusste, dass zumindest die Geschichte mit dem Feuer stimmte. Davon hatte der Nexus ihm erzählt.

»Ich bin zum Tode verurteilt«, sagte William Morton. »Ich habe das Tagebuch, und ich kenne all seine Geheimnisse. Es kann mich nicht am Leben lassen.«

»Warum schaffen Sie es sich nicht einfach vom Hals?«, fragte Matt mit einem Achselzucken. »Sie könnten es doch verbrennen.«

Der Antiquitätenhändler nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Und ob ich das habe. Aber da ist noch das Geld!« Er leckte sich die Lippen, und Matt erkannte erst jetzt, in welch grausiger Zwickmühle William Morton steckte. Er war hin- und hergerissen zwischen Angst und Gier. »Zwei Millionen Pfund! Das ist mehr, als ich je verdient habe. Ich kann das Buch nicht einfach vernichten. Das ist doch meine Chance. Nein, ich werde es verkaufen und das Geld nehmen, und dann wird das Buch mich endlich in Ruhe lassen.«

»Sie müssen es uns verkaufen«, sagte Matt.

»Ich weiß. Deswegen habe ich zugestimmt, mich mit dir zu treffen. Vier Jungen und ein Mädchen. So steht es im Tagebuch. Du bist einer von ihnen. Einer der Fünf.«

»Das sagt mir jeder«, unterbrach Matt ihn. »Aber ich weiß nicht mal, was das bedeutet. Seit ich in diese Geschichte verwickelt wurde, habe ich versucht, einen Ausweg zu finden. Es tut mir Leid, Mr Morton. Ich weiß, dass Sie irgendeinen Beweis von mir wollen. Aber ich kann Ihnen keinen geben.«

Der Mann schüttelte den Kopf. Er wollte nicht glauben, was Matt gesagt hatte. »Ich weiß vom ersten Tor«, sagte er.

»Raven’s Gate.«

»Es gibt ein zweites Tor. Es steht alles hier drin.«

»Dann geben Sie mir das Buch.« Plötzlich hatte Matt die Diskussion satt. »Wenn Sie das Tagebuch wirklich loswerden wollen und ich der Einzige bin, dem Sie es geben möchten, dann tun Sie das. Geben Sie es mir. Sie werden Ihr Geld kriegen. Und dann können wir vielleicht beide nach Hause gehen und alles vergessen.«

William Morton nickte, und einen kurzen Moment lang dachte Matt, es wäre endlich vorbei. Er würde ihm das Päckchen überlassen, und dann könnten er und Richard einen Zug nach… irgendwo nehmen. Aber natürlich war es nicht so einfach.

»Ich muss sicher sein, dass du wirklich der bist, für den du dich ausgibst«, sagte der Mann. »Du musst es mir beweisen!«

Matt war genervt. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich das nicht kann.«

»Doch, das kannst du!« William Morton umklammerte das Buch so eisern, dass seine Handknöchel weiß hervortraten. Mit einem hektischen Blick vergewisserte er sich, dass sie niemand belauschte. »Siehst du die Tür?«, fragte er.

»Welche Tür?«

»Die da!« Er deutete kurz mit dem Kopf in eine Richtung, und Matt sah an ihm vorbei auf eine merkwürdige Holztür in der Steinmauer. Was war so merkwürdig daran? Es dauerte einen Moment, bis er es begriff. Sie war zu klein – nur etwa halb so groß wie die anderen Türen der Kirche. Er vermutete, dass sie auf die Straße hinausführte. Sie befand sich unter einem Buntglasfenster mit düsteren Malereien. Matt sah genauer hin und stellte fest, dass etwas in die Tür eingeschnitzt war. Ein Symbol. Es war ein Pentagramm, ein fünfzackiger Stern.

»Was ist damit?«, fragte Matt.

»Deswegen habe ich diesen Ort gewählt. Die Tür wird im Tagebuch erwähnt.«

»Das kann nicht sein.« Matt rechnete fieberhaft. Das Tagebuch war im sechzehnten Jahrhundert geschrieben worden, also vor mehr als vierhundert Jahren. Teile dieser Kirche waren ziemlich alt, andere modern. Aber wie konnte der Mönch von der Existenz dieser niedrigen Tür gewusst haben?

»Natürlich kann das nicht sein«, bestätigte William Morton. »Aber das spielt keine Rolle. Ich möchte, dass du durch diese Tür gehst und mir etwas von der anderen Seite bringst. Es ist egal, was es ist. Was immer du mitbringst, wird mir beweisen, dass du der bist, der du zu sein vorgibst.«

»Was ist auf der anderen Seite?«

»Sag du es mir. Bring einen Beweis. Ich warte hier auf dich.«

»Warum kommen Sie nicht mit?«

Mr Morton lachte kurz auf. »Du weißt wirklich gar nichts«, sagte er. Plötzlich klang seine Stimme wieder drängend. »Wir haben keine Zeit mehr zum Diskutieren. Tu, was ich sage. Und zwar sofort. Oder ich verschwinde, und ihr werdet nie wieder von mir hören.«

Matt seufzte. Er verstand das alles nicht. Aber Widerworte waren sinnlos. Er wollte es hinter sich bringen, und dies schien der einzige Weg zu sein. Er warf einen letzten Blick auf den Antiquitätenhändler und ging zur Tür. Zögernd griff er nach ihrem eisernen Knauf. Erst jetzt erkannte er, dass die Tür zwar zu klein war, um zu den anderen Kirchentüren zu passen, dass sie aber die perfekte Größe für ihn hatte.

Sie war für ein Kind gebaut worden.

Er drehte den Knauf, öffnete die Tür und ging hindurch.

 

Während William Morton und Matt miteinander redeten, hatten sie nicht mitbekommen, dass die Kirchentür geöffnet wurde. Auch den Mann, der hereingekommen war, hatten sie nicht bemerkt. Er war schmutzig und in Lumpen gekleidet, hatte einen Bart und eine gebrochene Nase. Matt war ihm bereits in der Moore Street begegnet, als er aus der Kneipe kam und so getan hatte, als wäre er betrunken.

Der Mann blieb einen Moment stehen, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, dann ging er durch das Kirchenschiff. Er brauchte nicht lange, um den Antiquitätenhändler zu finden. Morton stand neben einer niedrigen Tür und trat nervös von einem Bein aufs andere. In einer Hand hielt er ein viereckiges Päckchen, das in braunes Papier gewickelt war.

Das Tagebuch.

Der Junge war anscheinend schon wieder weg. Aber das war unwichtig. Der Mann mit der gebrochenen Nase war dafür bezahlt worden, William Morton zu töten und das Buch an sich zu nehmen. Wenn der Junge noch da gewesen wäre, hätte er auch ihn getötet. Aber er war offensichtlich nicht mehr in der Nähe, und darüber war der Mann insgeheim froh. Kinder zu töten war zwar manchmal nötig, aber doch jedes Mal unangenehm.

 

Es ist zu heiß.

Das war Matts erster Gedanke. Als er in die Kirche gegangen war, war es ein ganz normaler Londoner Sommertag gewesen – sonnig, aber kühl und ausnahmsweise nicht verregnet. Er war nur ein paar Minuten in der Kirche gewesen, aber in dieser kurzen Zeit schien die Sonne ihre Anstrengungen verdoppelt zu haben. Außerdem hatte der Himmel die falsche Farbe. Er war leuchtend blau wie am Mittelmeer. Alle Wolken waren verschwunden.

Und das war nicht das Einzige, was nicht stimmte. Matt war sich nicht sicher gewesen, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwarten würde. Er hatte damit gerechnet, wieder auf der Moore Street zu landen. Doch stattdessen befand er sich in einem Kreuzgang, einem überdachten Weg, der um einen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte herumführte. Das war nicht weiter verwunderlich. Viele Kirchen hatten solche Kreuzgänge.

Aber dieser war ganz anders als die Kirche. Er sah älter aus – und viel schöner. Die Säulen, die die Bögen stützten, waren viel stärker verziert. Und der Brunnen war prachtvoll. Er war aus einem weißen Stein gemeißelt, und das kristallklare Wasser plätscherte von einem Becken ins nächste. Matt wusste fast nichts über Kunst und Architektur, aber sogar er erkannte, dass der Brunnen nicht englisch aussah. Dasselbe galt für den Kreuzgang. Matt ließ seinen Blick über das makellos gestutzte Gras zu den leuchtenden Blumen in den riesigen Gefäßen aus Terrakotta wandern. Wie konnte die schäbige Kirche St. Meredith’s einen so gepflegten Innenhof haben?

Er sah zurück zu der Kirche, aus der er gerade gekommen war. Und da war noch eine Sache, die ihn verblüffte. Drehte er jetzt durch, oder sah das Bauwerk von außen tatsächlich ganz anders aus? Über ihm ragte ein viereckiger Turm auf, aber nirgends war ein spitzer Kirchturm. Vielleicht war er nur von seinem Standpunkt aus nicht zu sehen. Trotz dieser scheinbar logischen Erklärung musste Matt sich zwingen, einen vollkommen absurden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen – dass dieses Gebäude nicht die Kirche St. Meredith’s sein konnte.

Er musste irgendeiner Täuschung aufliegen. William Morton spielte ihm wohl einen blöden Streich.

Der Antiquitätenhändler hatte gesagt, dass er irgendetwas mitbringen sollte. Matt wollte es hinter sich bringen und aus dieser merkwürdigen Umgebung verschwinden. Er ging ein paar Schritte vor und pflückte eine leuchtende violette Blume aus einem der Töpfe. Es war ihm zwar peinlich, eine Blume gewählt zu haben, aber er sah nichts anderes, und er hatte wahrlich keine Lust, lange herumzusuchen. Er machte kehrt und wollte zur Tür zurückgehen, als plötzlich jemand vor ihm auftauchte. Es war ein junger Mann in einer braunen Kutte. Ein Mönch.

Und Matt in Jeans und einem Kapuzen-Sweatshirt pflückte mitten im Kreuzgang eine Blume.

»Hi!« Matt wusste nicht, was er sagen sollte. Er hielt die Blume hoch. »Ich sollte die hier holen. Sie ist für einen Freund.«

Der Mönch sagte etwas zu ihm, aber er sprach kein Englisch. Matt lauschte der fremden Sprache und nahm an, dass es Spanisch oder Italienisch sein musste. Der Mönch klang nicht verärgert. Er versuchte wohl, nett zu sein, auch wenn er offensichtlich verwundert war.

»Sprechen Sie Englisch?«, fragte Matt.

Der Mönch hielt den Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand so hoch, dass sie sich beinahe berührten – das allgemein bekannte Zeichen für ein bisschen.

»Ich muss gehen«, sagte Matt und zeigte auf die Tür. »Mein Freund wartet…«

Der Mönch versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Matt öffnete die Tür und trat hindurch.

Er war wieder in St. Meredith’s.

Aber William Morton war nicht mehr da.

Matt sah sich um und kam sich blöd vor, mit der Blume in der Hand. Anscheinend hatte der Mann ihn ausgetrickst. Während er im Kreuzgang war, hatte der Antiquitätenhändler sich verdrückt. Er hatte anscheinend nie vorgehabt, ihnen das Tagebuch zu geben. Es war alles Zeitverschwendung gewesen.

Und dann fing eine Frau an zu kreischen.

Sie kreischte so laut und schrill, dass man es garantiert im ganzen Viertel hörte. Der erste Schrei hallte durch die Kirche, und alle weiteren hörten sich an wie ein Echo des ersten. Matt fuhr herum und sah sie, eine alte Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war und auf etwas zeigte. Gleichzeitig bemerkte Matt das Blut auf dem kalten Steinfußboden.

Er rannte darauf zu.

William Morton lag auf dem Rücken, eine Hand auf den Bauch gepresst, um die tiefe Stichwunde zuzuhalten. Überall war Blut. Matt war überzeugt, dass der Antiquitätenhändler tot sein musste. Die Frau kreischte immer noch. Keiner der anderen Kirchenbesucher zeigte sich, obwohl Matt ihr ängstliches Gewisper hören konnte. Plötzlich öffnete der Antiquitätenhändler die Augen und sah Matt – und auch die Blume, die er in der Hand hielt. Trotz allem lächelte er. Es sah beinahe so aus, als hätte Matt die violette Blume für Mortons Beerdigung gepflückt.

»Du bist – «, begann er.

Es waren seine letzten Worte.

Zur selben Zeit wurde die Kirchentür aufgestoßen, und sechs Männer stürmten herein. Matt schaute auf und sah Polizeiuniformen. Der Nexus hatte also nicht gelogen. Die Kirche war wirklich von Polizisten umringt gewesen. Leider hatte das nichts genützt. Sie kamen zu spät.

Matt wurde umstellt. Noch mehr Leute begannen zu kreischen. Die Polizisten versuchten, sie zu beruhigen. Weitere uniformierte Männer kamen zur Tür herein. Einen von ihnen erkannte Matt. Es war Tarrant, der Assistant Commissioner. Seine Miene war finster.

Wenige Minuten später kamen Richard und Mr Fabian in die Kirche gestürmt. William Mortons Leichnam war inzwischen abgedeckt worden. Die Gemeindemitglieder waren nach draußen gebeten worden. Matt saß ganz allein auf einer Kirchenbank und hielt die Blume fest, die schon zu welken begann. Er rührte sich nicht. Auf einem seiner Turnschuhe war Blut.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Richard. Seinem Gesicht war das Entsetzen anzusehen.

»Ja klar.« Matt fragte sich, ob er unter Schock stand. Er fühlte gar nichts. »Ich hab das Tagebuch nicht gekriegt«, sagte er. »Der Mörder hat es mitgenommen.«

»Woher wussten die, dass Mr Morton hier sein würde?«, murmelte Mr Fabian. »Niemand wusste von dem Treffen. Er hat es nur uns gesagt.«

»Das macht aber keinen Sinn. Irgendjemand muss einen Hinweis gekriegt haben«, sagte Matt und deutete mit einer Handbewegung auf den Toten. »Und derjenige hat jetzt das Tagebuch. Mr Morton hatte es bei sich, als wir uns getroffen haben, doch jetzt ist es weg.«

»Zum Teufel mit dem Tagebuch«, sagte Richard. »Du warst bei ihm. Du hättest auch getötet werden können.« Er runzelte die Stirn. »Hast du den Mörder gesehen?«

»Nein. Ich war draußen im Kreuzgang. Der Antiquitätenhändler hat gesagt, dass ich ihm das hier holen soll.« Matt hielt die Blume hoch.

Mr Fabian sah ihn verblüfft an. »In welchem Kreuzgang?«, fragte er.

»Die Kirche hat einen Kreuzgang«, sagte Matt. »Mr Morton hat mich dorthin geschickt. Er meinte, es wäre eine Art Test, aber ich glaube, dass er gelogen hat.«

»Diese Kirche hat keinen Kreuzgang«, sagte Mr Fabian.

»Er ist dort drüben.« Matt deutete hinüber zur Tür.

»Komm, lass uns rausgehen«, schlug Richard vor. »Du brauchst frische Luft.«

»Es gibt hier keinen Kreuzgang«, wiederholte Mr Fabian.

Wütend sprang Matt auf und ging zur Tür. »Gibt es doch«, sagte er, öffnete die Tür und erstarrte.

Auf der anderen Seite war kein Kreuzgang mehr. Es gab keine Blumen, keinen Springbrunnen und keinen Mönch. Stattdessen starrte er auf eine Gasse, in der Mülltonnen standen. Auf der anderen Straßenseite war ein schmutziger Hinterhof voller Gerümpel.

Er sah hinunter auf die Blume in seiner Hand, dann warf er sie weg, als wäre sie glühend heiß. Sie landete in einer Pfütze – der einzige Farbklecks in einer grauen Welt.