GEFAHRENZONE

Matt wollte mit all dem nichts zu tun haben. Am liebsten hätte er den Nexus, die Alten, William Morton, das Tagebuch, das zweite Tor und die anderen verrückten Dinge, die neuerdings sein Leben bestimmten, einfach aus seinem Gedächtnis gestrichen. Auf jeden Fall war er nicht scharf darauf, nach Peru zu reisen. Und dennoch: Er saß in einem Flugzeug der British Airways auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Die Maschine nach Lima würde in Miami zwischenlanden. Wieder einmal hatte Matt das Gefühl, dass er es sich nicht ausgesucht hatte, in dieses Flugzeug zu steigen.

Nach der gescheiterten Buchübergabe hatte ein weiteres Treffen des Nexus’ stattgefunden. Bei dieser Gelegenheit hatten sie ihn gebeten, nach Peru zu fliegen.

Diesmal hatte fast nur Miss Ashwood geredet. Vielleicht dachten sie, dass sie ihn am besten kannte. »Wir haben das Tagebuch verloren. Das ist nicht deine Schuld, aber es ist eine Katastrophe. Es bedeutet, dass der südamerikanische Mitbieter es jetzt besitzt oder es zumindest bald haben wird. Das Tagebuch wird ihm verraten, wo das Tor sich befindet. Und was noch schlimmer ist: Vielleicht steht darin auch, wie das Tor geöffnet werden kann.«

»Und was soll Matt dagegen tun?«, fragte Richard. »Sie wollen ihn ans andere Ende der Welt schicken – was soll das bringen?«

»Diese Frage kann ich nicht beantworten, Mr Cole. Wie lässt es sich erklären? Stellen Sie sich vor, dies wäre ein Schachspiel. William Morton zu verlieren kommt dem Verlust eines Bauern gleich. Wenn wir Matt nach Peru schicken, dann machen wir in diesem Spiel einen Zug mit unserem Springer. Natürlich kann es dafür schon zu spät sein. Vielleicht bringt es auch nichts. Aber wenigstens beweist es, dass wir uns noch nicht geschlagen geben.«

»Der Junge und das Tor sind miteinander verbunden«, mischte sich Nathalie Johnson ein. Matt spürte, dass die Amerikanerin ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. »Er ist ein Teil der Prophezeiung. Etwas wird in Peru passieren, und was immer es ist, ich finde, er sollte dort sein.«

»Peru ist ein großes Land. Wo soll er anfangen?«, fragte Richard, der sich wenig überzeugt von den Plänen des Nexus’ zeigte.

»In der Hauptstadt. In Lima.«

»Warum ausgerechnet in Lima?«, wollte Richard wissen. »Wir haben eventuell eine Spur«, berichtete der ranghohe Polizist. »Als William Morton umgebracht wurde, hatte er sein Mobiltelefon bei sich. Zum Glück hat der Mörder es nicht mitgenommen. Ich habe es mir angesehen. Anscheinend hatte Morton in der Woche vor seinem Tod ungefähr ein Dutzend Mal telefoniert. Natürlich auch mit uns. Aber dreimal hat er eine Nummer in Lima angerufen.«

»Wir haben sie zu Salamanda News International zurückverfolgt«, sagte der Franzose.

»Was ist das?«, fragte Richard.

»Das ist einer der größten Konzerne in Südamerika«, erklärte Nathalie Johnson. »Und Diego Salamanda, der Besitzer, gehört zu den reichsten Männern der Welt. Ich hatte in der Vergangenheit öfter geschäftlich mit ihm zu tun, bin ihm aber nie persönlich begegnet. Er soll irgendeine Behinderung haben und deshalb sehr zurückgezogen leben. Er besitzt Zeitungen, Fernseh- und Satellitensender, Verlage und Hotels, und er leitet sein Imperium von einem Büro in Lima aus.«

»War er der Mitbieter für das Tagebuch?«

»Durchaus möglich«, fuhr sie fort. »Beweise haben wir dafür nicht. Aber in seiner Organisation passiert nichts ohne sein Wissen, also können wir wohl davon ausgehen, dass er dahinter steckt. Wenn er unser Gegner ist, haben wir ein Problem. Er ist ein einflussreicher Mann. Aber andererseits ist es gut zu wissen, mit wem wir es zu tun haben. So haben wir wenigstens einen Anhaltspunkt.«

»Ich verstehe.« Richard nickte. »Sie schicken Matt nach Lima. Und was soll er dann machen?«

»Er wird mein Gast sein«, sagte Mr Fabian. »Sie sind beide in meinem Haus willkommen. Ich erwähnte bereits, dass ich ein Haus in Barranco habe. Das ist ein ruhiger Stadtteil, in dem viele Künstler und Schriftsteller leben. Von dort aus ist es nicht weit zum Strand. Matt wird dort sicher sein.«

»William Morton hat sich auch sicher gefühlt. Und wir wissen alle, was mit ihm geschehen ist!«

»Es ist uns immer noch ein Rätsel, wie das passieren konnte«, gestand Miss Ashwood. »Bis zum Vortag kannte keiner von uns den Treffpunkt, und wir haben ihn natürlich niemandem verraten. Wir gehen davon aus, dass Morton verfolgt wurde. Aber ich bin Ihrer Meinung, Mr Cole. Ihre und Matts Sicherheit sind von größter Wichtigkeit, und deshalb haben wir besondere Vorkehrungen getroffen. Niemand darf wissen, wo Sie sich aufhalten.«

»Und was ist mit den Passkontrollen?«, fragte Richard.

»Genau die meine ich«, bestätigte Miss Ashwood.

»Dafür sorge ich.« Der Assistant Commissioner ergriff das Wort. »Ich werde Ihnen falsche Pässe besorgen. In LondonHeathrow arbeitet wahrscheinlich keiner von Salamandas Leuten, aber den Flughafen in Lima lässt er sicher überwachen. Deshalb werden Sie und Matt unter falschen Namen reisen. Außerhalb dieses Raumes wird niemand wissen, wer Sie wirklich sind.«

»Das klingt total absurd«, stellte Richard fest. »Ihr Plan ist, dass Sie keinen Plan haben. Fliegt nach Peru! Ende der Geschi-«

»Nein«, unterbrach Matt ihn. Es war das erste Wort, das er bisher gesagt hatte, und die dreizehn Erwachsenen am Tisch sahen ihn überrascht an. »Ich denke, Miss Ashwood hat Recht. Wir können nicht einfach aufgeben. Nicht nach allem, was passiert ist. Das zweite Tor ist in Peru, und es wird sich bald öffnen. Wir müssen dort sein.«

 

Dieses Gespräch war vor drei Tagen gewesen. Und nun saß Matt im Flugzeug und fragte sich, warum er diese Entscheidung getroffen hatte.

Vielleicht hatten die zwölf Mitglieder des Nexus Recht. Er war ein Teil der Prophezeiung, und dagegen konnte er nichts tun. Oder wollte er tatsächlich helfen, die Menschheit vor dem uralten Feind zu retten? Matt war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er schwitzte und dass ihm schlecht war. Als die Motoren ohrenbetäubend laut wurden, um die für den Start nötige Kraft zu entwickeln, war er überzeugt, dass sie von den Flügeln abfallen würden. Und wie sollte diese riesige Maschine mit den sechshundert Passagieren und all den Koffern überhaupt in der Luft bleiben können? Matt war bisher nur viermal geflogen – und das waren kurze Hin- und Rückflüge nach Marseille und Malaga gewesen, die er mit seinen Eltern unternommen hatte, als er noch jünger war. Dieser Flug würde siebzehn Stunden dauern! Matt hatte keine Angst vor dem, was ihn in Peru erwartete. Aber er hatte furchtbare Angst vor dem Flug dorthin.

Zwanzig Minuten später hatte die Boeing 747 ihre Flughöhe über den Wolken erreicht und die Westküste Englands bereits hinter sich gelassen. Eine Stewardess kam mit der Speisekarte.

»Möchten Sie etwas trinken, Mr Carter?«, fragte sie.

Matt brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie mit ihnen sprach. Paul und Robert Carter. Zwei Brüder, die gemeinsam reisten. Das waren die Namen auf den falschen Reisepässen, die man ihnen gegeben hatte.

»Ich hätte gern ein Bier«, sagte Richard.

»Für mich bitte nur ein Wasser«, fügte Matt hinzu.

 

Sie reisten in der Businessclass, im vorderen Teil des Flugzeuges. Die Tickets hatten tausende von Pfund gekostet, aber der Nexus war schließlich auch bereit gewesen, Millionen für das Tagebuch zu bezahlen. Matt lehnte sich in seinem Sitz zurück. Ihm stand ein eigener Fernseher zur Verfügung – mit einer Auswahl von zehn Filmen und dazu noch eine Menge Computerspiele. Außerdem hatte Richard ihm ein Buch und ein paar Zeitschriften gekauft. Im Moment verspürte er aber keine Lust, irgendetwas zu tun. Er saß einfach nur da, hoch über dem Meer, und fühlte sich leer und entwurzelt.

»Willst du darüber reden?«, fragte Richard.

»Was… worüber?« Richards Worte hatten Matt aufgeschreckt. »Die Tür. Was du auf der anderen Seite gesehen hast.« Matt schüttelte den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht«,

sagte er. »William Morton muss die Kirche ausgesucht haben, weil sie im Tagebuch erwähnt wurde. Er hat diese Tür benutzt, um zu testen, ob ich wirklich einer der Fünf bin.«

Richard nickte. »Und jeder andere, der durch diese Tür geht, wird sich in einer Pfütze im Osten von London wiederfinden.«

»Aber ich bin woanders gelandet. Ich glaube, es war nicht einmal in England.« Matt überlegte kurz. »Erinnerst du dich an diesen Fernsehbericht, den uns Mr Fabian auf DVD gezeigt hat? Da war doch die Rede von einem Internet, eingerichtet von der Kirche…«

»Das soll in dem Tagebuch gestanden haben.«

»Vielleicht war das damit gemeint. Am Computer kann man per Mausklick in eine andere – virtuelle – Welt gelangen. Ich brauchte dafür jedoch keinen Computer, sondern musste durch eine Kirchentür hindurchgehen. Und die Welt dahinter war keine virtuelle, sondern eine verdammt reale.«

»Das ist doch klasse!« Richard grinste. »Dann brauchst du in Peru nur eine andere Kirchentür zu finden und gelangst so vielleicht nach Hause, ohne dass du den Flug bezahlen musst.« Die Stewardess kam mit den Getränken. Sonnenlicht durchflutete die Kabine, und aus der Bordküche hinter ihnen zog schon der Duft des Essens durch den Gang. Noch vor vier Monaten hatte Matt bei seiner Tante in Ipswich gelebt, in der Schule versagt, sich von Montag bis Freitag damit abgequält und an den Wochenenden die Zeit totgeschlagen. Und jetzt war er hier. Das war wirklich kaum zu glauben.

Richard schien zu ahnen, was in ihm vorging. »Du musst das alles nicht tun«, sagte er.

»Doch, Richard, das muss ich.« Matt starrte aus dem Fenster, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer den Wolken unter ihnen. »Miss Ashwood hat es gewusst. Sogar William Morton hat es begriffen. Ich bin ein Teil von allem, und ich glaube, das war ich schon immer. Ich habe versucht, es zu ignorieren und dabei eine Menge Fehler gemacht.« Er seufzte. »Du musst nicht nach Peru fliegen, um das Tor zu finden. Aber ich scheine keine andere Wahl zu haben.«

»Und ich lasse dich ganz bestimmt nicht allein.«

»Dann stecken wir wohl beide drin.«

 

Der Flug dauerte eine Ewigkeit. Matt sah sich zwei Filme hintereinander an. Er las in seinem Buch und versuchte dann zu schlafen, doch ohne Erfolg. Der Lärm der Motoren störte ihn, und er konnte nicht vergessen, dass er in der Luft hing und den Erdboden noch nicht einmal sehen konnte. Sie landeten in Miami und lungerten zwei Stunden in einem langweiligen Warteraum herum, während das Flugzeug aufgetankt wurde. Matts innere Uhr sagte ihm, dass es schon spät am Abend war, doch draußen war es immer noch hell. Der ganze Tag wirkte, als wäre er in die Länge gezogen worden, und Matt fühlte sich wie erschlagen.

Sie hoben wieder ab, und plötzlich verschlechterte sich das Wetter. Der Himmel wurde schwarz, und ein gezackter Blitz durchbrach die Dunkelheit. Dann geriet die Boeing 747 in Turbulenzen, und Matt spürte, wie sein Magen hochflog, als die Maschine plötzlich an Höhe verlor. Das Licht im Flugzeug war gedämpft worden. Ein sanfter gelblicher Schein beleuchtete die Passagiere. Die meisten bemühten sich, entspannt zu wirken, doch viele umklammerten die Armlehnen ihrer Sitze. Niemand sprach. Doch als die Windstöße das Flugzeug immer heftiger hin und her schaukeln ließen, fluchten einige leise vor sich hin oder murmelten ein Gebet.

Verblüffenderweise wiegten die Turbulenzen Matt in den Schlaf. Entspannend war der jedoch nicht. Sein Traum brachte ihn an einen anderen Ort.

Auf die Insel. Er erkannte sie sofort, und sie war ihm so vertraut, dass es ihm nahezu unmöglich schien, nie wirklich dort gewesen zu sein. Doch er kannte sie nur aus seinen immer wiederkehrenden Träumen. Matt sah den turmhohen, zerklüfteten Felsen aus schwarzem Gestein, umgeben vom Meer, so hässlich wie flüssiger Teer. Es war windstill, und trotzdem rasten die Wolken über den düsteren Himmel. Matt fragte sich, was all das zu bedeuten hatte. Warum war er hier? Wieso strandete er immer wieder auf dieser Insel?

Er sah hinunter und entdeckte das merkwürdige Boot aus Binsen, das beim letzten Mal auf ihn zugesteuert war. Es hatte die Insel erreicht und lag jetzt verlassen auf dem grauen Sand.

»Matt!«

Jemand hatte seinen Namen gerufen. Er drehte sich um und sah den Jungen, der zuvor im Boot gesessen hatte. Er stand auf einem Felsvorsprung direkt unterhalb von ihm. Der Junge war ungefähr in seinem Alter, aber kleiner und dünner. Seine Klamotten waren zerschlissen. Matt machte den Mund auf, um zu antworten. Er wusste, wer der Junge war und weshalb er gekommen war. Er wollte ihn abholen und ihn zu den drei anderen bringen, die immer noch auf dem Festland warteten.

Aber er kam gar nicht dazu, seine Worte auszusprechen. Ein Schrei ertönte. Matt schaute noch gerade rechtzeitig nach oben, um zu sehen, wie sich der Schwan mit seinem dolchartigen Schnabel vom Himmel stürzte. Er sauste mit solcher Wucht auf ihn zu wie eine Rakete. Matt starrte gebannt nach oben in den sich immer weiter öffnenden Schnabel, der ihn zu verschlingen drohte.

Der andere Junge schrie auf. Matt fühlte, dass er hinunterfiel.

Es gab einen Aufprall, und er öffnete die Augen.

Richard saß neben ihm.

Sie waren in Lima gelandet.

 

Es kam Matt vor, als wäre der Aeropuerto Jorge Chávez erst halb fertig. Nach dem Gewimmel und den grellen Lichtern von Heathrow, wo die Menschenmassen auf der Suche nach Schnäppchen und einem Zeitvertreib durch die Läden mit den zollfreien Waren geströmt waren, erschien Matt dieser Flughafen wie ein kahler, trister Saal, in dem sich die Passagiere vor einer Reihe Kabinen aufstellen mussten, in denen Grenzbeamte in schwarz-weißen Uniformen saßen. In der Decke der Ankunftshalle fehlten Platten, und keiner der Ventilatoren funktionierte. Ein paar Topfpflanzen welkten in der Hitze vor sich hin. Dass sie in Peru waren, war nicht zu erkennen – es hätte auch ein Flughafen in einer völlig anderen Stadt sein können.

Müde und verschwitzt stand Matt in der Schlange. Richard, der genauso erschöpft aussah, wartete neben ihm. Als die anderen Passagiere vorrückten und Matt das Knallen des Stempels in ihren Pässen hörte, das ihnen den Zutritt zum Land gewährte, wurde er nervös. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Richard und er ein Verbrechen begingen. Sie reisten mit falschen Pässen. Wahrscheinlich hatte der Nexus alles genau durchdacht, aber plötzlich erschien ihm das Ganze als zu riskant.

Als sie an der Reihe waren, standen sie einem müde aussehenden Beamten gegenüber, in dessen Gesicht das Misstrauen tief eingegraben war. Vermutlich war das sein Job – misstrauisch zu sein. Matts Herzschlag beschleunigte sich, als Richard ihre Dokumente aushändigte. Er sah weg. Ein Teil der Halle wurde durch ein Gerüst aufrecht gehalten, und darunter stand ein großes Schild mit der Aufschrift: NO CRUZ AR. ÁREA DE PELIGRO. Richard war seinem Blick gefolgt.

»Kein Zutritt. Gefahrenzone«, übersetzte er.

Matt nickte und fragte sich, ob diese Worte speziell an ihn gerichtet waren, zur Warnung.

Der Grenzbeamte hatte beide Pässe durch eine Maschine laufen lassen und blickte andächtig auf seinen Bildschirm. »Was ist der Zweck Ihrer Reise?«, fragte er. Es hörte sich an, als hätte er diese Frage schon tausendmal gestellt.

»Wir machen Urlaub«, log Richard.

Der Stempel donnerte noch zweimal herunter. Das war’s. Sie durften weitergehen, und Matt ärgerte sich über sich selbst, darüber, dass er Angst gehabt hatte.

Es war abgemacht, dass Mr Fabian sie nicht selbst abholen würde, weil das Risiko bestand, dass ihn jemand erkannte und verfolgte. Er würde stattdessen einen Fahrer schicken. Und tatsächlich, nachdem sie ihr Gepäck abgeholt hatten, wartete schon ein kräftig gebauter Peruaner in einem kurzärmligen weißen Hemd auf sie. Er hielt ein Schild hoch, auf dem ihre falschen Namen standen: Paul und Robert Carter. Zwei Brüder im Urlaub. Mit Matt Freeman und Richard Cole, die hergeflogen waren, um die Welt zu retten, hatten sie nichts zu tun.

»Buenos días«, sagte er und nahm ihnen die Koffer ab. »Ich bin Alberto. Mr Fabian lässt Sie grüßen. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.«

»Er war lang«, sagte Richard nur.

Der Fahrer lachte. »Lang, das ist gut! Sie haben eine weite Reise hinter sich. Aber bis zu Mr Fabian ist es nicht mehr weit. Ich bringe Sie hin.«

Er führte sie aus dem Flughafen, wo sich sofort eine Horde Männer auf sie stürzte, Taxi! Taxi! schrie und versuchte, Alberto die Koffer zu entreißen. Matt war jetzt todmüde. In Peru war früher Abend, und Dunkelheit breitete sich über den Himmel. Die Luft war warm und roch nach Diesel. Er hoffte nur, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie endlich am Ziel waren.

Das Auto schien nagelneu zu sein, und als die Türen geschlossen waren und der Fahrer den Motor startete, blies die Klimaanlage angenehm kühle Luft in den Wagen. Matt ließ sich in den Ledersitz sinken.

»Peru«, murmelte Richard.

»Ja.« Matt wusste nicht, was er sonst sagen sollte.

»Irgendwie habe ich es mir peruanischer vorgestellt. Sollten hier nicht Lamas rumrennen?«

»Richard, wir sind auf einem Flughafen!«

Alberto legte den ersten Gang ein, und sie fuhren los.

Matt starrte aus dem Fenster. Nach einer endlosen Reise und all den Stunden im Flugzeug konnte er es kaum fassen, dass sie tatsächlich angekommen waren. Er war in Südamerika! Nicht nur in einem fremden Land, sondern auf einem anderen Kontinent!

In einer anderen Welt.

Sie fuhren an einer Art Marinestützpunkt vorbei – der Flughafen lag dicht am Meer – und dann auf eine Autobahn mit sechs Spuren. Sie war stark befahren. Bunt bemalte Busse, die höchstens zwanzig Passagieren Platz boten, aber doppelt so viele transportierten, rumpelten vorbei. Kleinbusse, die ebenfalls voller Menschen waren, kreuzten im Zickzack über alle Spuren und hupten wie wild.

Beiderseits der Autobahn war ein breiter Streifen Ödland voller Müll. Matt sah alte Reifen, Ölfässer und anderes Gerümpel, halb eingefallene Mauern, übersät mit Graffiti, und gelegentlich einen uralten Wachturm, an dem die rot-weiße Fahne von Peru hing. Für Matt machte es den Eindruck, als hätte hier ein Krieg stattgefunden – allerdings vor langer Zeit – und die Menschen wären noch bei den Aufräumarbeiten.

Irgendwann wuchs das Gewirr aus Staub, Graffiti, Verkehr und Beton zu etwas zusammen, was entfernt an eine Stadt erinnerte. Als sie näher an die Randbezirke von Lima herankamen, sah Matt eine Reihe moderner Bürogebäude, eine Tankstelle, deren Name – REPSOL – in Neonbuchstaben leuchtete, einige Läden, die noch geöffnet hatten und vor denen ein paar Leute herumlungerten. Alltägliche Bilder von Peru. Grüne und rote Fahrradtaxis flitzten an ihnen vorbei, und ihre Hupen stießen Melodien aus. Plakatwände, auf denen für Computer und Handys geworben wurde, tauchten auf und versperrten ihm die Sicht. Und dann fuhren sie von der Autobahn ab und wieder Richtung Meer. Es wirkte grau und wenig einladend, und die Wellen schwappten über den Sand, der aussah, als wäre er mit Zement gemischt.

»Wie weit ist es noch bis zu Mr Fabians Haus?«, fragte Richard.

Der Fahrer schaute nervös auf und sah Richard über den Rückspiegel an. »Wir fahren nicht zum Haus«, sagte er.

»Warum nicht?«

»Wir fahren zum Hotel Europa in Miraflores. Es ist nicht mehr weit. Mr Fabian wird Sie dort treffen.«

Richard warf Matt einen kurzen Blick zu. Diese Planänderung kam unerwartet. Niemand hatte etwas von einem Hotel gesagt.

Sie hielten an einer Ampel, und der Lärm war sofort unerträglich. Autofahrer hupten wie wild, weil sie warten mussten. Dann krachte es: Ein Kleinbus war in ein haltendes Auto gefahren. Das Schrillen einer Pfeife ertönte, als ein Polizist in einer dunkelgrünen Uniform versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Jemand trat vor ihren Wagen. Es war ein Junge in Matts Alter, bekleidet mit dreckigen Jeans und einem T-Shirt. Geschickt jonglierte er mit drei Bällen. Es schien ihm Spaß zu machen, die Bälle über seinem Kopf herumwirbeln zu lassen. Er führte sein Kunststück ein paar Sekunden lang vor, dann verbeugte er sich, ging zum Fahrerfenster und hielt die Hand auf, um nach Geld zu betteln. Alberto schüttelte den Kopf, und sofort war der Junge wie verwandelt. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, er fluchte und spuckte auf die Windschutzscheibe. Dann sprang die Ampel auf Grün, und sie fuhren weiter. Matt war erleichtert. So etwas hatte er noch nie erlebt. Wo war er nur gelandet?

Inzwischen fuhren sie durch eine stillere Straße in einem Wohngebiet und entfernten sich wieder vom Meer. Matt hatte das Gefühl, dass sie sich dem Hotel näherten.

Das Auto bremste abrupt. Matt und Richard wurden nach vorn geschleudert. Der Fahrer stieß etwas auf Spanisch hervor. Matt schaute auf und erkannte, was passiert war. Aus einer Seitenstraße war ein blauer Kleinbus gekommen, der jetzt die Straße blockierte. Anfangs dachte er, dass es nichts zu bedeuten hatte, doch dann sah er die Türen des blauen Busses aufgehen. Vier Männer sprangen heraus und rannten auf sie zu – da wusste Matt, dass sie in eine Falle geraten waren. Diese Leute hatten auf sie gewartet.

Das schien auch Alberto begriffen zu haben. Ungläubig beobachtete Matt, wie er ins Handschuhfach griff und eine Waffe herausholte. Mr Fabian musste geahnt haben, dass sie auf ihrem Weg in die Stadt angegriffen werden konnten. Vielleicht hatte er deshalb ihr Ziel geändert. Und sicher hatte er dafür gesorgt, dass sein Fahrer bewaffnet war.

Doch Alberto war nicht der Einzige. Zwei der Männer, die auf sie zukamen, hatten ebenfalls Pistolen. Alles passierte so schnell, dass Matt nur einen kurzen Blick auf ihre Gesichter erhaschen konnte – sie waren dunkel und entschlossen. Die Männer trugen Jeans und Hemden mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. Dann feuerte jemand einen Schuss ab, und die Windschutzscheibe verwandelte sich in ein Netz aus Rissen mit einem Loch in der Mitte, einem tödlichen Auge. Alberto schrie auf. Er war in die Schulter getroffen worden. Sein Blut spritzte gegen die Rückenlehne des Sitzes.

Er hob seine Waffe und feuerte dreimal. Die Windschutzscheibe zerplatzte, und das Glas prasselte auf die Motorhaube. Die Männer aus dem Kleinbus zögerten und gingen dann in Deckung.

Richard nutzte diesen Moment. Mit einer Hand packte er Matt und stieß mit der anderen die Tür auf. Er saß auf der rechten Seite, die weiter vom Kleinbus der Angreifer entfernt war.

»Raus!«, schrie er.

»Nein, señor!« Alberto drehte sich zu ihnen um.

Richard beachtete ihn nicht. Er zog Matt hinter sich her und glitt aus dem Wagen. Matt wehrte sich nicht. Er begriff nicht, was vor sich ging. Aber er war derselben Meinung wie Richard – außerhalb des Wagens fühlte er sich sicherer.

Zwei weitere Schüsse fielen. Aus dem Augenwinkel sah Matt, wie sich Alberto mühsam aus dem Auto wälzte und davonrannte, eine Hand auf seine Schulter gepresst. Er ließ sie im Stich!

»Lauf!«, schrie Richard. »Lauf weg! Und bleib nicht stehen, egal, was passiert!«

Das brauchte er Matt nicht zweimal zu sagen. Er stolperte vom Wagen weg und rannte los, die Straße hinauf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Inzwischen war es dunkel. Die Straßenlaternen verbreiteten ein unangenehm künstliches Licht. Und es schien noch heißer geworden zu sein. Matt spürte, wie der Schweiß an ihm herunterlief.

Und die Männer verfolgten sie. Wer waren sie? Wer hatte sie geschickt? Matt wagte nicht, sich umzusehen, aber er konnte ihre Schuhe auf dem Pflaster hören und wusste, dass sie näher kamen.

Richard schrie auf.

Matt blieb stehen und drehte sich um. Zwei der Männer hatten den Reporter gepackt. Einen von ihnen konnte Matt erkennen: ein rundes, fast weibliches Gesicht. Unrasiert. Eine kleine Narbe neben dem Auge. Er hatte Richard im Schwitzkasten.

Richard wehrte sich mit aller Kraft und schaffte es für einen kurzen Augenblick, sich zu befreien. »Lauf weg, Matt!«, brüllte er. »Lauf!«

Er trat um sich und traf einen der Männer in die Magengrube. Aufstöhnend brach der Mann zusammen, doch sein Komplize mit der Narbe hatte Richard wieder gepackt. Jetzt waren auch noch zwei andere bei Richard angekommen, und Matt hatte keine Chance mehr, seinen Freund zu retten. Er wirbelte herum und rannte los. Er hörte, wie einer der Angreifer ihm etwas hinterherschrie, und Matt glaubte, dass es sein Name gewesen war. Sein richtiger Name. Also wussten sie, wer er war! Der Überfall war also schon von langer Hand geplant gewesen.

Matt rannte um eine Ecke und sprintete eine Gasse hinunter. Am Ende bog er wieder ab, kam an eine Hauptstraße und überquerte sie, kopflos durch den dichten Verkehr rennend. Jemand brüllte ihn an. Ein Bus rauschte an ihm vorbei, und er bekam einen Schwall Abgase ab. Er erreichte ein Stück Ödland und rannte hindurch. Ein schmutziger, halb verhungerter Hund kläffte ihn an. Ein paar Frauen sahen ihm neugierig hinterher.

Matt blieb erst stehen, als er vollkommen außer Atem war. Er war schweißüberströmt. Sein Hemd schien an ihm festgeklebt zu sein. Und er war todmüde. Aber wenigstens war er entkommen. Er sah zurück und suchte die Gegend mit seinen Augen ab. Sie hatten ihn nicht bis hierher verfolgt.

Erst jetzt traf ihn die ganze Tragweite seiner Situation. Er war in einem fremden Land, ohne Geld und ohne sein Gepäck. Der Fahrer, der geschickt worden war, um sie abzuholen, war weggerannt, um seine eigene Haut zu retten, und sein einziger Freund war in den Händen der Verbrecher. Er wusste nicht, wo Richard jetzt war. Und er wusste auch nicht, wie er Mr Fabian finden konnte. Es war Nacht. Und Matt war ganz allein.