FEUERALARM
Als Matt am nächsten Tag zur Schule ging, ahnte er schon, was ihm bevorstand.
Von den Erwachsenen würde ihm keiner die Schuld für das geben, was passiert war, aber die Jungen sahen das vermutlich anders. Wahrscheinlich würden sie ihn jetzt noch mehr verachten.
Und so war es auch. Das fiel Matt schon im Schulbus auf: Der Bus war fast voll, aber der Platz neben ihm war der einzige, der frei blieb. Und als er durch den Mittelgang ging, wurde getuschelt. Alle starrten ihn an, wendeten den Blick aber schnell ab, als er versuchte, ihnen ins Gesicht zu sehen. Als der Bus an einer Ampel hielt, traf ihn etwas am Kopf. Es war nur ein Gummiband, das jemand auf ihn geschossen hatte, aber die Botschaft war eindeutig. Am liebsten hätte Matt den Bus angehalten, wäre ausgestiegen und nach Hause gegangen. Er konnte Richard bitten, in der Schule anzurufen und ihn krankzumelden. Doch das wäre feige gewesen, und er hatte nicht die Absicht, diese hochnäsige Bande mit ihren albernen Vorurteilen gewinnen zu lassen.
Der Speisesaal blieb vorerst geschlossen, weil Elektriker noch immer nach einer Ursache für die Explosion des Kronleuchters suchten. Gerüchten zufolge war ein gewaltiger Kurzschluss im System der Auslöser gewesen. Dadurch war es zu einer Überspannung gekommen, die den Kronleuchter explodieren ließ. Und Gavin Taylor, der mit drei Stichen genäht werden musste und jetzt mit einer verbundenen Hand herumlief, hatte sein Glas vor Schreck selbst zerbrochen.
Diese Version wurde den Jungen von Forrest Hill mehrfach erzählt. Der Schulleiter, Mr Simmons, tischte ihnen diese Geschichte sogar bei der morgendlichen Vollversammlung in der Kapelle auf. Die Lehrer, die in der hintersten Reihe saßen, nickten zustimmend. Aber natürlich wussten es die Schüler besser: Matt war schuld. Doch wie konnte er den Kronleuchter zum Zerplatzen bringen? Das war allen ein Rätsel.
»He, du Spinner!« Gavin Taylor hatte nur wenige Plätze von Matt entfernt gesessen und hielt ihn hinter der Tür auf, als Lehrer und Schüler aus der Kapelle stürmten. Sein blondes Haar war sauberer als sonst. Matt nahm an, dass man im Krankenhaus darauf bestanden hatte, ihm die Haare zu waschen.
»Was willst du?«, fragte Matt.
»Ich wollte dir nur sagen, dass du in dieser Schule nichts mehr zu suchen hast. Warum gehst du nicht zurück zu deinen Knastfreunden? Wir wollen dich hier nicht.«
»Ich war nicht im Knast«, erwiderte Matt. »Und außerdem geht dich das gar nichts an.«
»Ich habe deine Akte gesehen.« Das war gelogen, aber Gavin nahm es mit der Wahrheit nicht so genau. »Du bist abartig und ein Knacki. Hau endlich ab!«
Ein paar Jungen waren stehen geblieben, weil sie auf eine Prügelei hofften. Bis zur ersten Schulstunde waren es nur noch fünf Minuten, aber eine Schlägerei wollten sie auf keinen Fall verpassen.
Matt wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits hätte er Gavin liebend gerne niedergeschlagen, aber ihm war klar, dass Gavin ihn genau deshalb provozierte. Ein einziger Schlag, und Gavin würde zum nächsten Lehrer rennen, um ihn zu verpetzen. Und dann hätte Matt ein echtes Problem.
»Warum verziehst du dich nicht, Gavin?«, sagte er. Und dann, bevor er es verhindern konnte: »Oder soll ich dir auch noch die andere Hand aufschlitzen?«
Hastig machte er einen Rückzieher. »Das habe ich nicht so gemeint. Ich will dir ganz bestimmt nicht wehtun«, sagte er. »Hör mal, ich habe mir diese Schule nicht ausgesucht. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«
»Weil Kriminelle hier nichts zu suchen haben!«
»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte Matt, der langsam wütend wurde. »Was habe ich dir…?«
Er brach mitten im Satz ab, denn er hatte Brandgeruch wahrgenommen.
Matt brauchte sich nicht umzusehen. Er wusste genau, dass nirgends ein Feuer ausgebrochen war. Was er roch, war angebrannter Toast, und wenn er die Augen schloss, würde er gelb gestrichene Wände sehen, eine Teekanne in Form eines Teddybären, das rosafarbene Kleid, das seine Mutter am Tag ihres Todes angehabt hatte…
Erinnerungsfetzen und der Geruch nach verbranntem Toast suchten Matt immer dann heim, wenn Gefahr drohte. Sie schienen ein Auslöser zu sein. Und sie waren ein Zeichen dafür, dass etwas Furchtbares bevorstand.
Aber warum passierte es jetzt? Er war nicht in Lebensgefahr. Er musste keine Ketten sprengen oder Türen aufbrechen. Matt zwang sich, den Geruch und die Erinnerungen zu ignorieren, und war sehr erleichtert, als beides verblasste.
Er schaute auf und stellte fest, dass Gavin ihn anstarrte. Die anderen Jungen taten dasselbe. Wie lange hatte er so dagestanden, erstarrt wie ein Idiot? Ein paar Mitschüler grinsten hämisch. Matt versuchte, seinen Satz zu beenden, aber er hatte nichts mehr zu sagen.
»Versager«, murmelte Gavin verächtlich und ließ Matt stehen.
Auch die anderen verzogen sich, und Matt blieb allein vor der Kapelle zurück.
Dreißig Kilometer von der Schule entfernt hatte die Polizei eine Straße gesperrt.
Ein Milchmann hatte den Bewusstlosen gefunden, der am Straßenrand gelegen hatte. Der Notarzt war schon da und hatte festgestellt, dass jemand dem Mann mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen hatte – wahrscheinlich mit einem Hammer oder einer Brechstange. Er hatte einen Schädelbruch erlitten, aber er würde überleben. An seinem Körper hatte er noch andere Verletzungen, und die Polizei vermutete, dass er aus einem Laster gestoßen worden war.
Ihn zu identifizieren war kein Problem. Er hatte eine Brieftasche dabei, mit Bargeld und Kreditkarten. Ein Raubüberfall war es also nicht gewesen. Seine Frau war bereits informiert und wurde in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht, in dem er behandelt wurde. Von ihr erfuhr die Polizei, dass Harry Shepherd kein Passagier gewesen war, sondern der Fahrer. Er arbeitete für Shell und war mit einem vollen Tanklaster nach Sheffield aufgebrochen.
Es war kaum zu glauben, aber die Polizisten brauchten eine volle Stunde, bis einem von ihnen auffiel, dass etwas fehlte: der Tanklaster. Vielleicht hätten sie es schneller bemerkt, wenn es etwas Kleineres und Unauffälligeres gewesen wäre. Aber schließlich zählten sie doch eins und eins zusammen und brachen in hektische Betriebsamkeit aus. Sie hatten bereits das Shell-Büro in Felixstowe kontaktiert und das Kennzeichen des Lasters an alle Einheiten durchgegeben – ihn zu beschreiben, konnten sie sich sparen.
Das Benzin im Laster war tausende von Pfund wert. War der Fahrer deshalb niedergeschlagen worden? Die Polizisten hofften es, denn mit einem Benzindiebstahl konnten sie umgehen. Aber es gab auch noch andere Möglichkeiten, und die waren wesentlich beunruhigender:
Womöglich hatten Terroristen den Tanklaster gestohlen. Die Ortspolizei telefonierte mit London, und es wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Man wollte in der Bevölkerung keine Panik auslösen. Mit Hubschraubern suchten Polizeikräfte die Straßen von Yorkshire ab. Ihnen war bewusst, dass zehntausend Liter Benzin ein riesiges Feuer entfachen konnten. Keiner wollte zugeben, dass er Angst hatte.
Der Vormittag wurde für Matt noch schlimmer als erwartet.
Er kam fünf Minuten zu spät zur ersten Stunde und platzte ins Klassenzimmer, als Miss Ford ihren Unterricht schon begonnen hatte.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät komme, Miss – « »Warum bist du denn zu spät, Matthew?«
Wie sollte er das erklären? Wie konnte er ihr sagen, dass er vor der Kapelle eine Art Vorahnung gehabt und deswegen minutenlang wie gelähmt dagestanden hatte?
»Ich hatte meine Tasche in der Kapelle vergessen«, schwindelte er. Die Wahrheit hätte sie ihm ohnehin nicht abgenommen. »Es tut mir Leid, aber dafür gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch.« Miss Ford seufzte. »Und jetzt setz dich bitte.«
Matts Platz war ganz hinten, und obwohl er auf den Boden starrte, merkte er, wie ihn die Augen der anderen verfolgten, als er durch die Klasse ging. Miss Ford war eine der sympathischeren Lehrerinnen von Forrest Hill. Sie war unattraktiv und altmodisch, was ganz gut passte, weil sie Geschichte unterrichtete. Aber wenigstens war sie nett zu Matt gewesen und hatte versucht, ihm beim Füllen seiner Wissenslücken zu helfen. Matt hatte sich bemüht, alles aufzuholen, und nach der Schule zusätzliche Bücher gelesen. Sie nahmen den Zweiten Weltkrieg durch, was er interessanter fand als die Könige des Mittelalters oder endlose Listen mit geschichtlichen Daten. Und dieser Krieg war immer noch von Bedeutung.
Doch Matt konnte sich nach den morgendlichen Ereignissen nicht konzentrieren. Miss Ford erzählte ihnen von Dünkirchen im Frühjahr 1940. Matt versuchte zuzuhören, aber ihre Worte schienen keinen Sinn zu ergeben. Die Stimme der Lehrerin klang wie aus weiter Ferne. Bildete er sich das nur ein, oder war es im Klassenraum plötzlich sehr warm?
»Das Heer war abgeschnitten, und viele Briten hielten den Krieg schon für verloren…«
Matt sah aus dem Fenster. Er roch schon wieder verbrannten Toast.
Und diesmal sah er es: Eine Art Laster flog lautlos durch die Luft. Hinter dem Lenkrad saß jemand, weil sich aber die Sonne auf der Windschutzscheibe spiegelte, konnte er den Fahrer nicht erkennen. Das Fahrzeug sah wie ein Monster aus. Seine Scheinwerfer waren die Augen, der Kühlergrill das aufgerissene Maul. Das Monster schien kein Ende zu nehmen, ein glänzender silberner Zylinder auf dicken Rädern. Und er kam immer näher. Jetzt füllte er schon das ganze Fenster aus und würde jeden Augenblick durchbrechen…
»Matthew? Was ist los?«
Alle starrten ihn an. Schon wieder. Miss King war verstummt und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Sorge und Ungeduld.
»Nichts, Miss Ford.«
»Dann hör auf, aus dem Fenster zu starren, und versuch, dich zu konzentrieren. Wie ich schon sagte, waren viele Leute der Ansicht, dass Dünkirchen ein wahres Wunder war…«
Matt wartete einen Moment ab und sah dann wieder aus dem Fenster. Von diesem Raum aus konnte man die Sporthalle sehen, die abseits der anderen Gebäude auf der anderen Straßenseite stand. Dort würden sie später zu Mittag essen, weil im Speiseraum noch die Elektriker rumhantierten. Es war kein Verkehr und ein wunderschöner Tag. Matt presste eine Hand gegen seine Stirn. Als er sie wieder wegnahm, war sie schweißnass. Was war nur mit ihm los?
Irgendwie schaffte er es, Geschichte, Physik und Sport zu überstehen. Aber in der letzten Vormittagsstunde hatte er Englisch bei Mr King. Matt konnte seiner Literaturinterpretation nicht folgen, und es dauerte nur ein paar Minuten, bis der Lehrer das bemerkte.
»Langweile ich dich, Freeman?«, fragte er mit einem abfälligen Lächeln.
»Nein, Sir.«
»Dann kannst du sicher wiederholen, was ich gerade gesagt habe?«
Matt schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Sir. Ich habe nicht zugehört.«
»Komm nach der Stunde zu mir«, befahl Mr King und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dieser Roman hat eindeutig…«
Die Stunde schien eine Ewigkeit zu dauern, und als sie endlich vorbei war, entschied Matt, nicht auf seine Bestrafung durch Mr King zu warten. Es kam ihm vor, als würde es in der Schule immer heißer. Die Fensterscheiben verstärkten das Sonnenlicht und blendeten ihn. Die Wände schienen sich zu biegen und in der Hitze zu flimmern. Natürlich wusste er, dass er sich das nur einbildete. Es war Frühsommer, erst Anfang Juni. Er sah sich um und merkte, dass keiner der anderen Jungen etwas spürte.
Sie hatten fünfzehn Minuten Pause, dann würden alle Schüler die Straße überqueren und zum Mittagessen in die Sporthalle gehen. Matt dachte wieder daran, Richard anzurufen und ihn um Hilfe zu bitten. Handys waren in Forrest Hill verboten, aber auf der anderen Seite des Schulhofes gab es drei Münztelefone.
»Matthew?«
Er drehte sich um. Miss Ford kam auf ihn zu, sie war offensichtlich auf dem Weg ins Lehrerzimmer.
»Mr King sucht nach dir«, sagte sie.
Natürlich tat er das. Matt hatte sich ihm widersetzt. Und das bedeutete Ärger.
»Ich wollte dir sagen, dass dein letzter Aufsatz schon viel besser war«, fuhr die Lehrerin fort. Sie betrachtete Matt ein wenig traurig, doch dann runzelte sie die Stirn. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie. »Du siehst krank aus.«
»Mir geht’s gut.«
»Vielleicht solltest du zur Schulschwester gehen.« Mit diesen Worten wendete sie sich ab. Nicht einmal die Lehrer von Forrest Hill wollten dabei ertappt werden, dass sie mehr Zeit als nötig mit Matt verbrachten. Miss Ford rauschte an ihm vorbei und setzte ihren Weg ins Lehrerzimmer fort.
Das war der Moment, in dem Matt eine Entscheidung traf. Er würde bestimmt nicht zur Schulschwester gehen, der dünnen, mürrischen Frau, die jede Andeutung einer Krankheit als persönliche Beleidigung auffasste. Und er würde auch Richard nicht anrufen. Es war Zeit, Forrest Hill zu verlassen. Die anderen Jungen hatten ihm vom ersten Tag an klar gemacht, dass er nicht hierher gehörte. Vielleicht hatten sie Recht. Was hatte er in einer Privatschule mitten in Yorkshire zu suchen? Das Einzige, was er mit den anderen gemein hatte, war die Uniform, die er tragen musste.
Direkt vor dem Lehrerzimmer stand ein Mülleimer. Matt hatte ein paar Bücher unter dem Arm. Ohne darüber nachzudenken, warf er sie in den Müll. Oliver Twist. Mathe. Ein Buch über den Zweiten Weltkrieg. Dann nahm er seinen Schlips ab und schmiss ihn hinterher. Er fühlte sich sofort besser.
Matt drehte sich um und ging los.
Gwenda Davis hatte oben auf dem Hügel angehalten. Sie wusste, was sie zu tun hatte, aber sie war noch nicht bereit dazu. Gwenda konnte Schmerzen nicht ertragen. Wenn sie sich aus Versehen mit dem Küchenmesser in den Finger schnitt, musste sie sich erst einmal eine halbe Stunde lang hinsetzen und mehrere Zigaretten rauchen, bevor sie sich wieder beruhigte. Und Gwenda war ziemlich sicher, dass ihr Tod sehr viel mehr wehtun würde.
Konnte sie das wirklich tun? Durch die Windschutzscheibe schaute Gwenda auf die Schule. Forrest Hill sah sehr vornehm aus, ganz anders als die öffentliche Schule, auf die sie Matt geschickt hatte, als er noch bei ihr lebte. Gwenda konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Neffe eine so protzige Schule besuchte. Das passte nicht zu ihm.
Ihr Blick fiel auf einen Gebäudekomplex neben einer Kirche, aber sie wusste, dass sie Matt dort nicht finden würde. Er würde in dem großen Backsteinbau neben dem Fußballplatz sein – zusammen mit all den anderen Jungen dieser Schule. Eigentlich war es eine Schande, dass so viele mit ihm sterben würden. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr zweifelte sie an ihrem Plan. Es war noch nicht zu spät. Bisher hatte sie nur einen Menschen umgebracht: Brian. Im letzten Moment hatte sie entschieden, den Fahrer des Tanklasters mit der flachen Seite der Axt niederzuschlagen und nicht mit der Schneide. Er schien ein netter Mensch zu sein. Sie hatte nicht vorgehabt, ihm einen Schädelbruch zu verpassen.
Die Polizei würde sie bestimmt nicht mit dem Verletzten in Verbindung bringen, wenn sie einfach aus dem Laster ausstieg und wegging. Vielleicht sollte sie genau das tun.
Einem Impuls folgend streckte sie die Hand aus und stellte das Radio an. Es war fast ein Uhr. Es würden Nachrichten kommen, und dann würde sie erfahren, ob man den Fahrer schon gefunden hatte. Aber merkwürdigerweise kam nichts aus den Lautsprechern. Sie wusste, dass das Radio eingeschaltet war, denn sie konnte es rauschen hören.
Und dann drang ein einziges Wort an ihre Ohren.
»Gwenda…«
Es kam aus dem Radio. Sie kannte die Stimme und war überglücklich. Aber sie schämte sich auch. Wie hatte sie nur zweifeln können?
»Was sitzt du hier herum?«, fragte Rex McKenna.
»Ich weiß nicht…«, murmelte Gwenda.
»Wolltest du etwa einen Rückzieher machen, du ungezogenes Mädchen?« Gwenda bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn er so redete. Das hatte sie schon beim Fernsehen beobachtet. Manchmal behandelte er Erwachsene wie kleine Kinder.
»Ich will nicht sterben«, sagte sie.
»Natürlich willst du das nicht, Gwenda. Das will ich auch nicht. Niemand will das. Aber manchmal muss es eben sein. Manchmal hat man keine Wahl.«
»Hab ich denn keine Wahl?«, fragte Gwenda. Eine Träne rann ihr über die Wange. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, doch er konnte ihr auch nur sagen, was sie schon wusste – dass sie alt und schmutzig aussah. Auf ihrem Mantel klebte getrocknetes Blut. Ihre Haut war vollkommen farblos.
»Nicht wirklich, meine Liebe«, antwortete Rex. »Es ist ein bisschen wie beim Glücksrad. Du drehst das Rad, und deine Nummer fällt. Dagegen kannst du nichts machen.« Er seufzte. »Wenn du die Wahrheit wissen willst, war dein bisheriges Leben die reinste Zeitverschwendung. Aber jetzt hast du noch einmal die Chance, etwas Wichtiges zu tun. Matthew Freeman muss sterben. Und du wurdest auserwählt, ihn zu töten und damit vielen Menschen zu helfen. Also tu es! Und mach dir keine Sorgen. Es wird schnell vorbei sein.«
Das Radio war wieder verstummt, aber es gab auch nichts mehr zu sagen. Gwenda startete den Motor, trat aufs Gaspedal und legte den ersten Gang ein.
Matt war auf dem Weg nach draußen. Vor sich sah er die Doppeltür mit den Anschlagtafeln an beiden Seiten, die seinen Weg in die Freiheit zu säumen schienen. Überall waren Jungen, die sich bereitmachten, zum Mittagessen zu gehen. Keiner bemerkte ihn. Es hatte auch niemand beobachtet, wie er seine Bücher weggeworfen hatte. Matt fühlte sich großartig. Was auch immer passieren würde, er war froh, Forrest Hill hinter sich zu lassen.
Doch dann roch er es wieder: verbrannter Toast. Und genau im selben Moment flogen beide Türhälften auf, und er sah entsetzt zu, wie eine Flammenwand auf ihn zuraste. Sie wälzte sich den Gang entlang, schwärzte die Wände und verbrannte alles, was ihr in den Weg kam. Zwei Jungen standen auf dem Gang, und plötzlich waren sie nur noch Skelette. Matt sah mit Entsetzen, wie noch mehr Jungen von den Flammen verschlungen wurden. Dann hatte das Feuer auch ihn erreicht, und er zuckte zurück. Gleich würde er tot sein.
Aber er starb nicht.
Es gab keine Flammenwand.
Matt musste die Augen geschlossen haben, denn als er sie öffnete, sah alles genauso aus wie vorher. Es war zwei Minuten vor eins. Der Vormittagsunterricht war zu Ende. Alle waren auf dem Weg zum Mittagessen. Sicher hatte er sich das alles nur eingebildet.
Doch Matt wusste es besser, das war kein Hirngespinst.
Er konnte nicht einfach fortgehen. Das hochexplosive Fahrzeug hatte die Schule noch nicht erreicht, aber bis dahin war es nur noch eine Frage der Zeit. Diese Gefahr also hatte Matt schon den ganzen Tag gespürt.
Er sah sich um. Plötzlich ertönte die Schulglocke, die alle zum Mittagessen rief. Sie brachte ihn auf eine Idee. Er ging mehrere Schritte den Gang hinunter bis zu einem Feuermelder, der in einem kleinen Glaskasten an der Wand hing. Mit dem Ellbogen zerbrach er das Glas und drückte dann mit dem Daumen den Alarmknopf.
Sofort hallte ein Heulton durch die ganze Schule. Alle blieben stehen, wo sie waren, lächelten sich halbherzig zu und fragten sich, was los war. Sie kannten den Feueralarm von den vielen Brandschutzübungen. Aber jetzt sah es so aus, als wollte keiner den ersten Schritt machen, um vor den anderen nicht als Feigling dazustehen.
»Es brennt!«, schrie Matt. »Bewegt euch!«
Zwei Jungen wendeten sich von der Doppeltür ab und steuerten auf den Hinterausgang zu. Bei Feueralarm mussten sich alle auf dem Fußballplatz neben der Kapelle versammeln. Nachdem sich die Ersten in Bewegung gesetzt hatten, folgten die anderen. Matt hörte, wie Türen aufgerissen und wieder zugeschlagen wurden. Alle stellten Fragen, aber der Alarm war so laut, dass Matt kein Wort verstehen konnte.
Dann tauchte Mr O’Shaughnessy auf. Der stellvertretende Schulleiter sah aufgeregt aus. Selbst unter normalen Umständen war er kein besonders fröhlicher Mensch, aber jetzt wirkte er so finster wie nie zuvor. Rote Flecken breiteten sich auf seinem Gesicht aus. Er entdeckte Matt neben dem Feuermelder. Sein Blick wanderte auf den Boden, und er sah das zerbrochene Glas.
»Freeman!«, brüllte er. »Warst du das?«
»Ja.«
»Du hast den Alarm ausgelöst?«
»Ja.«
»Wo brennt es?«
Matt antwortete nicht.
Mr O’Shaughnessy deutete sein Schweigen als Schuldeingeständnis. »Wenn das ein Streich sein soll, wirst du was erleben!« Dann kam ihm noch ein Gedanke, der in dieser Situation so bizarr war, dass Matt beinahe laut aufgelacht hätte. »Warum trägst du keine Krawatte?«
»Ich denke, wir sollten das Gebäude verlassen«, sagte Matt.
Etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Den Alarm konnte nur die Feuerwehr abstellen. Mr O’Shaughnessy packte Matt am Arm, und die beiden folgten den anderen Jungen aus der Schule. Minuten später waren alle Gebäude leer. Auf der anderen Seite der Hauptstraße kam das Küchenpersonal aus der Sporthalle, begleitet von den Jungen, die schon etwas früher zum Essen gegangen waren. Sie überquerten die Straße und stellten sich zu den anderen Schülern, die sich auf dem Fußballplatz versammelt hatten.
Die Lehrer waren auch da und versuchten, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen. Alle hielten gespannt nach Flammen und Rauch Ausschau, obwohl es sich langsam herumsprach, dass sich Matthew Freeman wohl einen schlechten Scherz erlaubt hatte. Der Schulleiter tauchte ebenfalls auf. Als er seinen Vertreter neben Matt entdeckte, kam er auf sie zu.
»Wissen Sie, was los ist?«, fragte er.
»Ich fürchte ja«, antwortete O’Shaughnessy. »Es ist falscher
Alarm.«
»Da bin ich aber erleichtert!«
»Natürlich.« O’Shaughnessy nickte. »Dieser Junge hat den Alarm absichtlich ausgelöst. Sein Name ist Freeman, und…«
Doch der Schulleiter hörte nicht mehr zu. Er starrte an Mr O’Shaughnessy vorbei. Langsam drehte Matt sich um. Der stellvertretende Schulleiter tat dasselbe.
Und dann sahen sie ihn, den Tanklaster, der den Hügel hinunterraste. Es war unverkennbar, dass etwas nicht stimmte: Er fuhr in Schlangenlinien und schien außer Kontrolle geraten zu sein. Matt konnte eine Frau mit wildem Blick und wirren Haaren auf dem Fahrersitz ausmachen. Er erkannte sie auf Anhieb und begriff daher auch, dass die Frau genau wusste, was sie tat: Sie war gekommen, um ihn zu töten.
Gwenda Davis hielt ihren Blick starr auf die Sporthalle gerichtet, in der laut Rex McKenna jetzt alle Schüler beim Essen saßen. Der Tanklaster entfernte sich vom Fußballfeld. Matt sah zu, wie er die Straße verließ, einen Busch niederriss und über den Sportplatz raste.
Fassungslos folgten die Schüler und Lehrer dem Tanklaster mit den Augen. Hände zeigten auf das Fahrzeug. Alle wussten, was gleich passieren würde.
Der Tanklaster krachte in die Wand der Sporthalle und durchbrach sie. Die Windschutzscheibe zerplatzte, und Gwenda war sofort tot. Mit aufheulendem Motor fuhr der Laster weiter und wurde von dem Gebäude verschluckt. Einen Moment lang passierte weiter nichts. Dann explodierte alles. Ein Feuerball schoss zum Himmel und schleuderte Trümmer in alle Richtungen. Die Flammen stiegen höher und höher, und der schwarze Rauch schien bis in die Wolken zu reichen. Matt hob eine Hand, um sein Gesicht zu schützen. Selbst aus dieser Entfernung spürte er die unglaubliche Hitze, die das brennende Benzin ausstrahlte. Flammen schlugen aus der Ruine und verteilten sich wahllos über das Gras, die Bäume, die Straße und die anderen Gebäude. Es sah aus wie auf einem Kriegsschauplatz.
Matt wusste, dass er den Tod nur um wenige Minuten geschlagen hatte. Und wenn alle Schüler in der Sporthalle gewesen wären, wie es ursprünglich geplant war, dann wären jetzt hunderte von Kindern tot.
Der Schulleiter dachte dasselbe. »Mein Gott!«, keuchte er. »Wenn wir da drin gewesen wären…«
»Er hat es gewusst!« Mr O’Shaughnessy ließ Matts Arm los und wich zurück. »Er hat es gewusst, bevor es passiert ist«, flüsterte er.
Der Schulleiter sah Matt mit großen Augen an.
In einiger Entfernung konnten sie schon die Sirenen hören. Matt zögerte. Er wollte keine Minute länger bleiben.
Er drehte sich in die andere Richtung und ging los. An die sechshundert Jungen wichen zur Seite und bildeten eine Gasse für ihn. Unter ihnen war auch Gavin Taylor. Einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Der andere Junge weinte. Matt wusste nicht, warum.
Niemand sagte ein Wort, als er zwischen ihnen hindurchging. Matt war es mittlerweile egal, was sie über ihn dachten. Denn eines war sicher: Das war sein letzter Tag in Forrest Hill.