DURCH DEN WOLKENWALD

Es gab nichts zu sehen. Der Hubschrauber flog durch die Nacht, und Matt fühlte sich genauso orientierungslos wie nach dem Betreten des Geheimgangs. Die Lichter von Cuzco waren schon lange hinter ihnen verblichen, und eine Zeit lang war der Mond ihr einziger Anhaltspunkt gewesen. Aber jetzt war sogar der verschwunden, verschluckt von dicken Wolken. Atoc konzentrierte sich auf seine Fluginstrumente, und sein Gesicht wurde von einem gedämpften grünen Licht bestrahlt. Die Rotorblätter hämmerten durch die Luft, und trotzdem hatte Matt das Gefühl, dass sie nicht vorwärts kamen, sondern in der undurchdringlichen Dunkelheit still standen.

Pedro hatte seit dem Start kein einziges Wort gesagt. Sein ganzer Körper war angespannt, und er ließ den Piloten nicht aus den Augen. Schließlich schlief er vor Erschöpfung ein, und Matt musste es genauso gegangen sein, denn plötzlich waren sie wieder auf dem Meer – auf einer ganz anderen Reise – und trieben mit dem Gezeitenstrom dahin.

»Glaubst du immer noch, dass ich einer der Fünf bin?«, fragte Pedro.

»Natürlich.« Matt wunderte sich über die Frage. »Warum fragst du?«

»Weil ich ein solcher Feigling bin. Ich hatte Angst, in den Hubschrauber zu steigen. Wegen mir hätte uns die Polizei fast erwischt.«

Matt schüttelte den Kopf. »Du bist kein Feigling«, sagte er. »Wenn du die Wahrheit wissen willst – ich habe auch Angst vorm Fliegen.«

»Ich habe die Flugzeuge in Lima abfliegen sehen, wenn ich am Flughafen für die Touristen jongliert habe, und dabei nie begriffen, wie etwas so Schweres fliegen kann. Ich kapier es bis heute nicht.« Pedro verzog das Gesicht. »Und du glaubst wirklich, dass ich einer der Fünf bin?«

»Ich weiß es. Und ich bin froh, dass du bei mir bist, Pedro. Ich glaube, außer Richard hatte ich noch nie einen richtigen Freund.«

»Aber ich habe deine Uhr gestohlen!«

»Das macht doch nichts. Ich kann mir eine neue kaufen.« Beide wachten im selben Augenblick auf. Der Hubschrauber

war gelandet.

Matt sah aus dem Fenster, während Pedro gähnte und sich reckte. Sie waren auf einem Feld mitten im Nirgendwo gelandet. Drei Öllampen lagen im Gras. Atoc musste sie von oben gesehen haben. Sie hatten ihm gezeigt, wo er landen musste. Die Flammen der Lampen beleuchteten eine Baumreihe, die anscheinend der Anfang eines dichten Urwaldes war. Eine Hand schlug gegen die Kabine des Hubschraubers. Matt fuhr zusammen, aber Atoc hatte damit wohl gerechnet.

»Schon gut, das sind Freunde«, beruhigte er Matt.

Draußen warteten zwei weitere Indios auf sie. Einer öffnete die Tür und half den Jungen beim Aussteigen. Beide trugen Ponchos und Wollmützen und hielten den Kopf gesenkt, als wollten sie ihnen nicht in die Augen sehen. Es war kalt, viel kälter als in Cuzco, und Matt fragte sich, ob sie jetzt noch höher in den Bergen waren. Er atmete tief ein, doch es kam nur wenig Sauerstoff in seine Lunge. Sie waren offensichtlich hoch oben. Aber wo? Der zweite Indio kam herbeigeeilt. Er hatte Ponchos für ihn und Pedro über dem Arm. Sie waren wundervoll gewebt, und Goldfäden bildeten ein komplexes Muster auf dem grünen Stoff. Matt steckte den Kopf durch die Öffnung in der Mitte und ließ das hochwertige Material an sich herunterhängen. Erstaunt stellte er fest, wie gut ihn das Kleidungsstück vor der Kälte schützte.

»Wir bleiben heute Nacht hier«, sagte Atoc. »Wenn es hell ist, geht die Reise weiter.«

»Wo sind wir?«, fragte Matt.

»Im Wolkenwald«, antwortete Atoc. »Morgen müssen wir viele Stunden zu Fuß gehen. Mit dem Hubschrauber kommen wir nicht weiter.«

»Wo sollen wir schlafen?«

»Wir haben alles vorbereitet.«

Die Indios führten sie an den Rand der Lichtung, wo drei Zelte standen. Atoc zeigte den beiden Jungen, welches ihres war. »Ihr braucht Schlaf«, sagte er. »Morgen wird es anstrengend.«

Er ließ Matt und Pedro allein. Das Zelt schien nagelneu zu sein, und drinnen lagen zwei zusammengerollte Schlafsäcke auf dünnen Isomatten. Eine batteriebetriebene Lampe hing am Zeltpfosten. Matt machte sich nicht die Mühe, seine Sachen auszuziehen. Er streifte nur den Poncho ab und rollte ihn zusammen, um ihn als Kopfkissen zu benutzen. Dann kroch er in den Schlafsack. Pedro machte es ihm nach.

Einen kurzen Moment lang dachte Matt an Richard. Er fragte sich, ob man ihn immer weiter von seinem Freund wegbrachte. Und was war mit Fabian? War er in Cuzco und suchte dort nach ihnen?

Er verstand so vieles nicht, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Kaum hatte er sich hingelegt, war er auch schon eingeschlafen. Und diesmal träumte er nicht.

 

Das Licht, das durch die Zeltplane fiel, weckte Matt auf. Er streckte sich mühsam in seinem Schlafsack. Die Isomatte hatte den harten Boden kaum abgepolstert, und sein Rücken und seine Schultern waren verspannt. Er überlegte, liegen zu bleiben und noch ein bisschen weiterzuschlafen, aber das war unmöglich. Dazu war es zu unbequem, außerdem schnarchte Pedro. So leise er konnte kroch er aus dem Zelt und zog den Poncho hinter sich her. Draußen richtete er sich auf und streifte ihn über. Es war immer noch kalt, doch es dämmerte bereits. Matt zitterte in der kalten Morgenluft und sah sich neugierig um. In der vergangenen Nacht hatte er geglaubt, eine Art Dschungel gesehen zu haben – dichten Wald und Berge. Doch was er jetzt sah, war einfach atemberaubend.

Er kam sich vor, als stünde er am Rand der Welt. Der Hubschrauberlandeplatz war in die Flanke eines unglaublich steilen Berges gehauen worden. Matt blickte erst nach oben und dann nach unten – alles war grün. Es war ein dichtes Gewirr aus Bäumen und Büschen, überzogen mit Rankpflanzen, das kein Ende zu nehmen schien. Atoc hatte gesagt, dass ein langer Fußmarsch vor ihnen lag, aber Matt konnte nicht einmal erkennen, wo dieser Marsch beginnen sollte. Es gab keinen Weg nach oben. Das Blätterdach sah undurchdringlich aus. Und wenn sie abwärts gehen wollten, würden sie abstürzen in das grüne Nichts. Der Bereich, auf dem ihre Zelte standen, war flach. Aber die Gegend drum herum fiel nahezu senkrecht ab. Es war, als hätte jemand die ganze Welt auf die Seite gekippt.

Atoc und die beiden Indios waren schon wach und bereiteten ein Frühstück aus Brot und Käse vor. Sie hatten auch ein kleines Lagerfeuer angezündet, über dem ein Kessel mit Wasser hing.

Atoc kam zu ihm. »Hast du gut geschlafen, Matteo?«, fragte er. Genau wie Pedro benutzte auch er die spanische Form von Matts Namen. »Wir können bald essen.«

»Ja danke.«

Im Morgenlicht sah Atoc jünger und weniger bedrohlich aus als am Abend zuvor. Und er ähnelte Micos noch mehr. Matt musste es einfach wissen.

»Ich wollte Sie etwas fragen«, begann er nervös.

»Ja?«

»In Lima habe ich jemanden getroffen, der Ihnen sehr ähnlich

war. Und in Ica bin ich ihm noch mal begegnet.«

»Micos.«

»Genau.« Matt wusste nicht, wie er weitermachen sollte. »Ihr Bruder?«

»Ja. Weißt du, wo er ist?«

»Es tut mir Leid, Atoc. Er ist tot.«

Atoc nickte langsam, als hätte er mit dieser Nachricht gerechnet. Doch seine braunen Augen verrieten seinen Schmerz, und er stand bewegungslos da, während Matt ihm erzählte, was auf der hacienda passiert war.

»Und er ist nur wegen uns gestorben«, sagte Matt unglücklich. »Wenn er schon sterben musste, bin ich froh, dass er sein Leben für euch geopfert hat«, sagte Atoc. Er holte tief Luft. »Micos war mein jüngerer Bruder«, sagte er. »Ich bin zwei Jahre älter. In unserer Sprache heißt Micos Affe, und er war auch der Lustigere von uns – er hat immer in Schwierigkeiten gesteckt. Atoc heißt Fuchs. Ich soll angeblich der Klügere sein. Aber als wir einmal miteinander gespielt haben – ich war damals acht Jahre alt –, habe ich einen Stein nach ihm geworfen und fast sein Auge getroffen. Er hatte eine Narbe… genau hier.« Atoc hob einen Finger und zeichnete einen Halbmond neben sein Auge. »Unser Vater hat mich dafür mit seinem Gürtel verprügelt. Aber Micos hat mir vergeben.

Er wollte dir helfen, Matteo, weil er an dich geglaubt hat. Du bist einer der Fünf. Immerhin konnte er euch in Sicherheit bringen. Es wird noch mehr Tote geben. Viel mehr. Wir sollten uns schon mal an den Gedanken gewöhnen.«

Er wendete den Kopf ab und starrte in die Ferne.

»Ich möchte jetzt ein paar Minuten allein sein«, sagte er. »Wenn ich wiederkomme, werden wir nicht mehr erwähnen, worüber wir gerade gesprochen haben.«

Er ging davon und verschwand im Dickicht.

»Matteo!« Pedro war aufgewacht und rief vom Zelteingang aus nach ihm.

Hinter ihnen stieg eine dünne Rauchfahne vom Lagerfeuer in den Himmel.

 

Nach dem Frühstück löschten die beiden Indios das Feuer und bauten die Zelte ab. Den Hubschrauber hatten sie schon festgebunden und mit einer grünen Plane abgedeckt, damit ihn niemand von der Luft aus entdecken konnte. Matt stellte fest, dass diese Männer wirklich an alles dachten.

Atoc hatte mit ihnen gegessen. Seine Trauer ließ er sich nicht anmerken. »Wir müssen los«, sagte er und winkte einen der Indios zu sich, der zwei Paar nagelneue Turnschuhe mitbrachte. »In euren Sandalen könnt ihr nicht richtig laufen.«

Dankbar schüttelte Matt die Gummisandalen ab, die er seit Lima getragen hatte. Irgendwie erstaunte es ihn kein bisschen, dass ihm die neuen Turnschuhe perfekt passten. Die Indios hatten wirklich alles bis ins Kleinste geplant. Als er sein neues Paar Turnschuhe anzog, fiel ihm auf, dass Pedro seine Schuhe noch in den Händen hielt und sie vollkommen überwältigt anstarrte. Erst da wurde ihm bewusst, dass der peruanische Junge wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch kein neues Kleidungsstück besessen hatte.

Als sie beide startbereit waren, griff Atoc in seinen Poncho und holte eine Hand voll dunkelgrüner Blätter heraus und ein paar Kügelchen, die wie Kieselsteine aussahen. »Steckt das in den Mund«, sagte er, erst auf Englisch und für Pedro noch einmal auf Spanisch. Er wickelte die Blätter um jeweils einen Stein, sodass ein kleines Bündel entstand. »Es sind Coca-Blätter«, fuhr er fort. »Und den Stein nennen wir llibta. Ihr müsst sie im Mund zerkauen, sie geben euch Kraft.«

Matt tat, was ihm gesagt wurde. Die Coca-Blätter schmeckten ekelhaft, und er fragte sich, ob sie überhaupt eine Wirkung hatten.

Sie gingen los. Die beiden Indios liefen voran, hinter ihnen waren Matt und Pedro, und schließlich kam Atoc. Matt hatte gehofft, dass sie bergab gehen würden, aber sie marschierten bergauf. Der Urwald war nicht so undurchdringlich, wie Matt gedacht hatte. Vor sehr langer Zeit hatte jemand eine Treppe in den Berg gehauen. Die Stufen waren fast nicht sichtbar, uneben und mit Flechten bewachsen, aber sie wanden sich zwischen den Bäumen durch und führten den steilen Hang hinauf.

»Sagt Bescheid, wenn ihr eine Pause braucht«, forderte Atoc sie auf.

Matt biss die Zähne zusammen. Sie hatten erst eine kurze Strecke zurückgelegt, und er hätte schon jetzt eine Pause vertragen können. Die Luft war hier noch dünner als in Cuzco. Wenn er zu schnell ging, begann es in seinem Kopf zu hämmern. Der Trick war, ein langsames Tempo zu wählen und einen Schritt nach dem anderen zu machen und dabei bloß nicht nach oben zu sehen. Matt wollte gar nicht wissen, wie weit es noch war.

Die Sonne stieg höher, und plötzlich war es heiß. Matt spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Alles war nass. Einmal griff er nach einem Baum, um sich festzuhalten, und seine Hand versank im Stamm, als wäre es ein Schwamm. Wasser tropfte aus seinen Haaren und rann ihm übers Gesicht. Pedro blieb stehen und zog seinen Poncho aus. Matt folgte seinem Beispiel. Einer der Indios nahm sie ihnen ab, und sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er keinen Widerspruch duldete. Matt hatte nichts dagegen, denn er brauchte seine ganze Kraft zum Gehen. Er war bestimmt schon fünfhundert Stufen hochgestiegen. Und die Treppe nahm immer noch kein Ende.

Etwas biss ihn. Matt schrie auf und schlug sich auf den Arm. Eine Sekunde später verspürte er wieder einen Stich, diesmal an seinem Hals. Am liebsten hätte er geweint oder geflucht oder geschrien. Wie viel schlimmer konnte es noch werden? Atoc holte ihn ein und gab ihm einen Beutel mit einer stinkenden Substanz.

»Mücken«, sagte er. »Wir nennen sie puma waqachis, also Insekten, die den Puma weinen lassen.«

»Ich weiß, wie sich der Puma fühlt«, knurrte Matt. Er schöpfte etwas von der Substanz aus dem Beutel und rieb sich damit ein. Die Masse vermischte sich sofort mit seinem Schweiß und rann an seinem Körper hinunter. Seine Kleider klebten an ihm wie eine zweite Haut. Eine Mücke biss ihn in den Knöchel. Matt schloss einen Moment lang die Augen, dann erst machte er den nächsten Schritt.

Sie legten zwei Trinkpausen ein. Ihre Führer hatten Plastikflaschen in ihren Rucksäcken. Matt zwang sich, nur wenig zu trinken, weil er wusste, dass der Vorrat für alle reichen musste. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, und er fragte sich, ob mit seinen Augen etwas nicht stimmte. Der Urwald wirkte plötzlich verschwommen. Schließlich begriff er, dass es an der Hitze lag. Sie ließ die Feuchtigkeit verdampfen. Schon bald war er in einen so dichten Nebel eingehüllt, dass er den Mann vor sich kaum noch sehen konnte.

»Bleibt zusammen!«, rief Atoc von hinten. Seine Stimme kam aus dem Nichts. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Sie ließen den Wolkenwald urplötzlich und unerwartet hinter sich. Einen Moment kämpfte sich Matt noch durch das Gestrüpp, im nächsten tauchte er am Rand einer riesigen Schlucht auf. Der Himmel war wolkenlos. Eine gigantische Bergkette erstreckte sich vor seinen Augen, und viele der Gipfel waren schneebedeckt. Einige von ihnen schienen bis ins Weltall zu reichen. Matt war total erschöpft, und er hatte höllische Kopfschmerzen. Trotzdem verspürte er ein Glücksgefühl. Er sah hinab und stellte fest, dass es in der Schlucht regnete. Aber der Regen war unter ihm. Er selbst befand sich über den Wolken.

»Siehst du?« Atoc zeigte auf einen der Berge. Von ihrem Standpunkt aus sah er aus wie ein menschlicher Kopf. »Das ist Mandango«, sagte Atoc. »Der Schlafende Gott.«

Pedro war inzwischen auch angekommen. Er stand keuchend am Rand der Schlucht und stieß ein paar Worte auf Spanisch hervor. Atoc lächelte zum ersten Mal, seit er sich am frühen Morgen mit Matt unterhalten hatte. »Er meint, dass er sich lausig fühlt«, übersetzte er für Matt. »Aber du siehst schlimmer aus.«

»Wohin jetzt?«, keuchte Matt. Er konnte nicht glauben, dass sie sich den ganzen Weg hochgequält hatten, nur um jetzt wieder hinunterzusteigen.

»Es ist nicht mehr weit«, versicherte ihm Atoc. »Aber pass auf. Wenn du fällst, ist es sehr weit…«

Atoc übertrieb nicht. Ein schmaler, deutlich sichtbarer Pfad führte in die Schlucht hinunter. Menschen mussten ihn in den Fels gehauen haben. Er sah so unnatürlich aus. Der Pfad war eben und seine Oberfläche schien fast so glatt poliert zu sein wie die Gehwege von Cuzco. Einen Unterschied gab es allerdings: die Breite. An manchen Stellen lag nur ein Meter zwischen der Felswand und dem Abgrund. Hätte Matt einen falschen Schritt gemacht, dann wäre er gefallen und gefallen… Tief unten in der Schlucht beobachtete er eine Herde Schafe oder Lamas beim Grasen. Von oben sahen sie aus wie Ameisen. Auf dem Pfad gab es keine Bäume, die Schutz vor der Sonne boten, und Matt spürte, wie sie sein Gesicht und seine Arme verbrannten.

Sie wanderten über eine Stunde lang bergab. Matt spürte, wie sich der Druck in seinen Ohren veränderte. Wie viel Zeit war seit dem Frühstück vergangen? Er wusste es nicht, aber ihm war klar, dass er nicht viel länger durchhalten würde. Seine Beine schmerzten, und er hatte Blasen an den Füßen. Sie kamen um eine Kurve, und Matt sah, dass der Pfad sie auf eine Plattform aus massivem Fels geführt hatte, von der Stufen hinabführten. Er holte tief Luft. Es sah so aus, als wären sie am Ende ihrer Reise angekommen. Und tatsächlich hatten sie ihr Ziel erreicht.

Am Rand der Schlucht war eine kleine Stadt. Sie war nicht modern. Teile davon erinnerten Matt an Cuzco, und er nahm an, dass sie vom selben Volk gebaut worden war und in etwa zur selben Zeit.

Zuerst waren Terrassen in den Fels gehauen worden. Es waren mindestens fünfzig, und sie ragten aus dem Berg wie riesige Tischplatten. Einige von ihnen dienten als Ackerland, auf anderen grasten Schafe und Lamas. Die Stadt selbst bestand aus Tempeln, Palästen, Häusern und Lagergebäuden, alle aus Steinblöcken errichtet, die irgendwann einmal durch den Wolkenwald und über die Berge herangeschleppt worden waren. In der Mitte war ein großer viereckiger Rasenplatz: ein Treffpunkt, ein Sportfeld, der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens. Matt war sofort klar, dass es hier keinen Strom geben würde, keine Autos, nichts aus der technisierten Welt. Und trotzdem war dies keine Ruinenstadt. Sie war lebendig. Überall waren Menschen. Sie wohnten hier, es war ihr Zuhause.

»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte er.

»Vilcabamba!« Es war Pedro, der ihm antwortete.

Atoc nickte langsam. »Die Stadt der Inka. Viele bedeutende Männer haben nach ihr gesucht. Jahrhundertelang war das unbegreiflich. Aber niemand hat sie gefunden. Vilcabamba kann nicht gefunden werden. Niemand kann diesen Ort finden.«

»Wieso nicht?« Matt war das unbegreiflich. Schließlich hatten sie die Stadt nach einiger Anstrengung erreicht. Der Pfad, der in die Schlucht führte, war ja nicht zu übersehen. Jeder konnte ihm folgen. »Der Pfad – «, begann er.

Atoc schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Pfad«, sagte er.

»Nein, ich meine den…« Matt ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Der Pfad war nicht mehr da. Die Wand der Schlucht fiel senkrecht ab, und es gab keinen Weg hinauf oder hinunter. Der Pfad, auf dem sie gerade über eine Stunde lang abwärts marschiert waren, war verschwunden.

»Stell keine Fragen«, sagte Atoc. »Du hast Freunde, die auf dich warten.«

»Ja, aber…«

Atoc legte ihm eine Hand auf die Schulter, und gemeinsam gingen sie weiter. Pedro und die anderen Männer waren ein paar Meter vor ihnen. Matt sah sie durch einen steinernen Bogen gehen, und gleichzeitig tauchte ein Mann auf und stieg die Stufen zu ihnen hoch. Er hatte es eilig. Und er war Europäer.

Dann kam der Mann näher, und in Matt stieg ein ungeheures Glücksgefühl auf. Erleichterung machte sich in ihm breit. Matt rannte los. Die beiden fielen sich in die Arme.

Es war Richard Cole.