DAS TAGEBUCH

»Du musst das nicht tun«, sagte Richard, als der Zug nach London den Bahnhof verließ. Matt saß ihm gegenüber und las ein Buch, das er am Bahnhof gekauft hatte.

Er klappte es zu. »Du hast doch gesehen, was in Forrest Hill passiert ist«, sagte er. »Das war Gwenda! Sie ist gekommen, um mich zu töten, und sie hätte auch alle anderen umgebracht, wenn ich nicht den Feueralarm ausgelöst hätte.«

»Aber keinem ist etwas passiert. Du hast allen das Leben gerettet.«

»Ja. Und sie haben sich vor Dankbarkeit fast überschlagen.« Matt sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Landschaft vorbeisauste. Regentropfen krochen langsam von links nach rechts über das Glas. »Ich kann nicht zurück«, sagte er. »Ich war allen ein Dorn im Auge. Und wo soll ich sonst hingehen? Miss Ashwood hatte Recht, Raven’s Gate war erst der Anfang.«

Seit der Zerstörung der Schule waren zwei Tage vergangen. Das Feuer hatte von der Sporthalle auf die alten Gebäude übergegriffen, und als die Löschfahrzeuge anrückten, war von der Schule nicht mehr viel übrig. Die Lehrerschaft hatte versucht, Matt aus den Zeitungen herauszuhalten, aber es gab zu viele Jungen, die sich den Lehrern widersetzten und der Presse die Geschichte brühwarm erzählten. Und am nächsten Morgen schrien alle Zeitungen dieselbe unglaubliche Geschichte heraus:

 

JUNGE RETTET MITSCHÜLER

HAT FORREST HILL SCHÜLER

ÜBERSINNLICHE FÄHIGKEITEN?

SCHULJUNGE SIEHT KATASTROPHE VORAUS

 

Wenigstens hatte niemand ein Foto von Matt, abgesehen von einer verschwommenen, kaum erkennbaren Handyaufnahme. Als die ersten Zeitungen ausgeliefert wurden, hatten Matt und Richard York schon verlassen. Richard hatte mit Susan Ashwood telefoniert, die ihnen eine sichere Unterkunft in Leeds besorgt hatte. Nach der Nacht in der fast leeren Wohnung hatte Matt zugestimmt, nach London zu fahren und den Nexus zu treffen. Der Nexus hatte also erreicht, was er von ihm wollte. Rückblickend hatte Matt das Gefühl, dass er keine andere Wahl gehabt hatte.

»Vielleicht ist gar nichts dabei«, meinte Richard. »Du musst dich nur mit diesem Typen treffen, diesem William Morton, ihn dazu bringen, das Tagebuch rauszurücken, und dann können wir beide wieder abhauen und in York oder sonst wo neu anfangen.«

»Glaubst du wirklich, dass es so einfach sein wird?«, fragte Matt.

Richard antwortete mit einem Achselzucken. »Vergiss nicht, dass du die Entscheidungen triffst. Du kannst immer noch absagen.«

 

Ein Taxi holte sie am Bahnhof ab und brachte sie zu einem Hotel in Farringdon. Matt kannte diese Gegend von London nicht. Farringdon war ein alter Stadtteil. Hier gab es dunkle Gassen und Gaslampen, und manche Straßen waren mit Kopfsteinen gepflastert. Wenn plötzlich eine Sirene aufgeheult hätte, um vor einem Luftangriff zu warnen, hätte Matt sich kein bisschen gewundert. Dieser Teil von London sah so aus, wie er die Stadt aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg kannte.

Das Hotel war klein und leicht zu übersehen – nicht einmal ein Name stand an der Eingangstür. Richard und Matt bekamen Zimmer im dritten Stock, die der Nexus bezahlt hatte. Nach dem Auspacken fuhren sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und nahmen im Speiseraum ein frühes Abendessen ein. Noch während sie aßen, kam Mr Fabian, diesmal in einem schwarzen Anzug und auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen.

»Guten Abend«, begrüßte er sie. »Man hat mich gebeten, Sie zum Treffen zu begleiten. Aber essen Sie ruhig erst auf. Wir haben genug Zeit. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er einen Stuhl heran und setzte sich.

»Ist es weit von hier?«, erkundigte sich Richard.

»Nein, ganz in der Nähe. Nur ein paar Minuten zu Fuß.« Mr Fabian hatte gute Laune. Anscheinend hatte er vergessen, wie ihre letzte Begegnung geendet hatte.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, begann Richard.

»Natürlich. Nur zu.«

»Ich weiß nichts über Sie. Sie haben mal erwähnt, dass Sie aus Lima kommen…«

»Genau genommen lebe ich in Barranco. Das ist ein Vorort von Lima.«

»Und was machen Sie beruflich? Wie sind Sie Mitglied im Nexus geworden?«

Bei der Erwähnung des Nexus hob Fabian erschrocken den Finger an die Lippen, doch es war niemand außer ihnen im Raum, und er entspannte sich schnell wieder. »Ich bin Schriftsteller und habe schon viele Bücher über mein Land geschrieben, seine Geschichte und Archäologie. Dadurch kam auch der Kontakt zum Nexus zu Stande. Ich war bis zu seinem Tod ein guter Freund von Professor Dravid. Er war es, der mich angeworben hat. Meine Frau und meine Kinder wissen nichts davon.«

Matt und Richard hatten aufgegessen. Ein Kellner kam, um das Geschirr abzuräumen.

»Wenn Sie dann bereit sind…«, begann Fabian.

»Zeigen Sie uns den Weg!«, sagte Richard.

 

Sie verließen das Hotel und waren etwa fünf Minuten gelaufen, als sie vor einer schlichten schwarzen Tür Halt machten, die zwischen dem Büro eines Maklers und einem Cafe lag. Mr Fabian schloss die Tür auf und führte sie durch einen schmalen Flur zur Treppe. Der erste Stock war deutlich moderner als der Rest des Gebäudes. Die Türen waren aus schwarzem Glas, und überall hingen Überwachungskameras. Matt hatte es zuerst für ein Privathaus gehalten, aber dieses Stockwerk sah eher nach einem Büro aus. Der Teppich war dick. Alle Türen waren geschlossen. Es war absolut still.

»Hier entlang.« Mr Fabian machte eine Handbewegung, und wie durch Zauberei glitt die Tür am anderen Ende automatisch auf. Dahinter war ein Raum mit einem langen Tisch, an dem elf Personen saßen und schweigend auf sie warteten. Mr Fabian ging vor und setzte sich neben Susan Ashwood. Zwei Ledersessel waren noch leer – einer für Matt und einer für Richard.

»Bitte komm herein.« Matt wusste nicht genau, wer ihn angesprochen hatte. Er spürte, dass alle ihn anstarrten, und wurde rot. Er stand ohnehin nicht gerne im Mittelpunkt, und hier glotzten sie ihn an, als wäre er ein Filmstar. Es fehlte nur noch der Beifall.

Hinter ihm glitt die Tür zu.

Das war also der Nexus! Matt ließ seinen Blick von einem zum nächsten wandern. Mit Mr Fabian waren es acht Männer und vier Frauen. Zwei der Männer waren schwarz. Einer schien Asiate zu sein. Im Alter lagen sie zwischen dreißig und siebzig. Der älteste trug einen Priesterkragen und ein Kruzifix: ein Bischof. Alle waren sehr korrekt gekleidet. Matt konnte sich vorstellen, wie sie zusammen im Theater saßen oder vielleicht in der Oper. Sie machten ernste Gesichter, keiner lächelte.

Der Raum war lang und schmal. Die Möbel waren eindeutig sehr teuer gewesen, an den Wänden hingen sechs Uhren, die verschiedene Zeiten anzeigten, und eine Reihe von Landkarten. Matt ließ sich in den nächstgelegenen leeren Ledersessel fallen und versuchte, niemandem in die Augen zu sehen. Richard reagierte anders. Er stand immer noch an der Tür und sah sich verblüfft um.

»Ich kenne Sie!«, sagte er und zeigte auf einen grimmig aussehenden Mann, der sehr gerade dasaß und einen eleganten Anzug trug. »Sie sind Polizeibeamter. Tarrant. Das ist doch Ihr Name, oder? Sie sind irgendein hohes Tier. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.« Dann betrachtete er die Frau, die neben dem Polizeibeamten saß. Auch sie trug teure Kleidung und hatte rote Haare, die ganz sicher gefärbt waren. Zwei Reihen Perlen schmückten ihren Hals. »Und Sie sind Nathalie Johnson.«

Diesen Namen kannte sogar Matt aus Fernsehberichten. Sie wurde oft als weiblicher Bill Gates bezeichnet. Nathalie Johnson hatte mit Computern ein Vermögen verdient und war eine der reichsten Frauen der Welt.

»Wir wollen uns hier nicht mit Namen aufhalten, Mr Cole«, sagte sie. Sie hatte einen amerikanischen Akzent. »Bitte setzen Sie sich, damit wir anfangen können.«

Richard nahm neben Matt Platz. Es war schwer zu erkennen, wer der Chef war. Miss Ashwood saß zwar am Kopfende des Tisches, aber es schien keinen eindeutigen Anführer zu geben. Matt wurde klar, dass eine Person am Tisch neu sein musste. Mr Fabian hatte gesagt, dass der Nexus zwölf Mitglieder hatte, und es waren außer ihm und Richard auch zwölf Personen anwesend. Professor Dravid war ein Mitglied gewesen, und er war gestorben – es musste ihn also jemand ersetzt haben.

»Wir danken dir, dass du nach London gekommen bist, Matt«, sagte ein Mann mit unverkennbar australischem Akzent. Er trug ein am Hals offenes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, und wirkte dadurch weniger förmlich gekleidet als die anderen. Er war um die vierzig und hatte die blasse Haut und die geröteten Augen von jemandem, der zu viele Stunden auf Langstreckenflügen verbracht hatte. »Uns ist klar, dass du nicht hier sein willst, und wir hätten dich nicht darum gebeten, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.«

»Du musst uns erlauben, dich zu beschützen«, sagte Miss Ashwood. Ihre Hände lagen auf dem Tisch, doch ihre Fäuste waren geballt. »In Forrest Hill wärst du beinahe getötet worden. Das darf nicht passieren. Wir sind hier, um dir zu helfen.«

»Ich dachte, es wäre Matt, der Ihnen helfen soll«, sagte Richard.

»Wir müssen einander helfen«, betonte der Australier. »Es gibt vieles, was wir nicht wissen, aber eines ist sicher: Uns stehen schlimme Zeiten bevor. Schlimmer, als man sich vorstellen kann. Und wir vom Nexus sind heute Abend hier zusammengekommen, weil wir etwas dagegen unternehmen wollen.«

»Wogegen? Wovon reden Sie?«, fragte Richard.

»Vom Dritten Weltkrieg«, sagte Miss Ashwood. »Auch wenn das fast unmöglich scheint, wird er furchtbarer werden als die ersten beiden Weltkriege. Regierungen außer Kontrolle. Tod und Zerstörung auf dem ganzen Planeten. Wir wissen nicht genau, wie unsere Zukunft aussehen wird, Mr Cole. Aber wir glauben, dass wir diese Weltkatastrophe verhindern können.«

»Mit deiner Hilfe.« Der Bischof nickte Matt zu.

»Lassen Sie mich eines klarstellen«, sagte Richard. »Matt und ich sind an Tod und Zerstörung nicht interessiert. Und auch nicht an Weltkriegen. Raven’s Gate hat uns erreicht. Wir brauchen nur Hilfe dabei, an einem anderen Ort neu anfangen zu können.«

»Der Tanklaster, der in deine Schule gefahren ist…?« Der Polizist ließ seine Frage unvollendet.

»Meine Tante hat ihn gefahren«, sagte Matt. »Gwenda Davis. Ich habe sie hinter dem Steuer gesehen.« Er schauderte. In all den Jahren hatte er sie nicht gemocht, aber ein Monster war sie nie gewesen. Jedenfalls nicht bis zu diesem Tag.

»Deine Tante…?«, murmelte der Australier.

»Ja.«

Die Information sorgte für Aufruhr im Raum. Die zwölf Mitglieder des Nexus besprachen sich kurz miteinander, und Matt sah, dass Mr Fabian etwas notierte.

»Sie war lediglich ein Werkzeug, eine Marionette«, erklärte Susan Ashwood. »Einen Tanklaster zu stehlen und dann noch den Weg zu deiner Schule zu finden – das kann sie unmöglich allein geschafft haben.«

»Die Alten«, fügte Mr Fabian hinzu.

»Natürlich. Sie haben ihr geholfen, sie beeinflusst, vielleicht auch dazu gezwungen. Auf jeden Fall haben sie hinter diesem Anschlag gesteckt.«

»Meinetwegen«, unterbrach Richard Miss Ashwood. »Und jetzt wollen Sie, dass wir diesen William Morton treffen. Matt hat zugestimmt. Aber eines sage ich Ihnen: Wenn er dadurch wieder in Gefahr gerät…«

»Das wäre das Letzte, was wir wollen«, erklärte die Amerikanerin. Sie beugte sich vor, und die langen Haare fielen ihr über die Augen. Sie musste um die fünfzig sein, hatte aber offensichtlich viel Geld dafür ausgegeben, jünger auszusehen. »Also, Richard. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich Sie Richard nenne? Hier sind die Fakten: Wir brauchen Matt, damit er sich morgen Mittag um zwölf mit William Morton trifft, denn wir sind überzeugt, dass er uns nur dann das Tagebuch geben wird. Aber Matt ist uns wichtiger als das Tagebuch. Wenn er der ist, für den wir ihn halten, ist er wahrscheinlich der wichtigste Junge der Welt.«

»Sie haben Mr Morton erzählt, dass Matt einer der Fünf ist«, sagte Richard langsam. »Und er will ihn kennen lernen, um zu sehen, ob das wahr ist. Aber wie will er das wissen? Soll Matt in die Zukunft sehen oder irgendwas in die Luft sprengen, um es zu beweisen?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete Nathalie Johnson. »Aber vergessen Sie nicht, dass Mr Morton das Tagebuch gelesen hat. Er weiß vielleicht mehr als wir.«

»Sicher ist, dass er Angst hat«, mischte sich Miss Ashwood ein. »Er hat Angst vor dem Mitbieter in Südamerika. Und er hat Angst vor dem, was er im Tagebuch gelesen hat. William Morton ist bewusst geworden, dass das, was er gefunden hat, größer und dunkler ist als alles, was er bisher erlebt hat. Und jetzt sucht er fieberhaft nach einem Ausweg.«

»Wo will er mich treffen?«, fragte Matt.

»Anfangs wollte er es uns nicht sagen.« Diesmal war es ein Franzose, der das Wort ergriff. Er war schlank und grauhaarig und sah wie ein Anwalt aus. »Er nimmt nur über sein Mobiltelefon Kontakt zu uns auf, und wir haben keine Ahnung, wo er zurzeit steckt. Aber jetzt hat er eine Kirche in einem Stadtteil erwähnt, der nicht weit von hier ist.«

»St. Meredith’s in der Moore Street«, bestätigte Miss Ashwood.

»Er wird morgen um zwölf dort sein. Er will sich mit dir treffen, aber nur mit dir allein.«

»Matt geht da auf keinen Fall allein hin«, sagte Richard sofort.

»Mr Morton hat uns gesagt, dass er nach dem Jungen Ausschau halten wird«, begann der Franzose. »Wir haben ihm Matt zwar nicht beschrieben, aber es ist unwahrscheinlich, dass sich um diese Uhrzeit noch weitere Vierzehnjährige in der Nähe der Kirche aufhalten werden. Unsere Abmachung ist ganz einfach: Wenn Matt nicht allein ist, wird Morton verschwinden, und wir sehen ihn nie wieder. Dann bekommt sein Kunde in Südamerika das Tagebuch.«

»Warum diese Kirche?«, wollte Richard wissen. »Ist das nicht ein merkwürdiger Treffpunkt? Warum kein Cafe oder Restaurant oder etwas in der Art?«

»William Morton hat darauf bestanden«, sagte Nathalie Johnson. »Ich schätze, wir werden den Grund erfahren, wenn Matt von dem Treffen zurückkommt.«

»Vielleicht wird die Kirche im Tagebuch erwähnt«, überlegte der Bischof laut. »Sie ist eine der ältesten der Stadt. Schon im Mittelalter stand an dieser Stelle eine Kirche.«

»Und wie können wir sicher sein, dass Matt dort nicht in Gefahr ist? Nach allem, was wir wissen, könnte dieser Südamerikaner Mr Morton schon geschnappt haben. Das könnte eine Falle sein.«

»Überlassen Sie das mir«, entgegnete der Polizist. Richard hatte Recht, sein Name war tatsächlich Tarrant, und er war Assistant Commissioner und damit einer der höchsten Polizeibeamten Londons. »Ich habe Zugriff auf alle Überwachungskameras rund um die Moore Street. Wir können zwar nicht in die Kirche, aber ich werde dafür sorgen, dass sich hundert Polizisten in der Gegend aufhalten. Ein Wort von mir, und sie werden eingreifen.«

»Ich weiß immer noch nicht, wie das ablaufen soll«, sagte Matt. »Ich treffe mich mit diesem Mann – William Morton. Und dann stellt er mir vielleicht ein paar Fragen. Und wenn ich richtig antworte, gibt er mir das Tagebuch?«

»Er hat versprochen, es an uns zu verkaufen, wenn er dir glaubt«, antwortete Nathalie Johnson. »Geben wird er es sicher niemandem! William Morton will immer noch sein Geld.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

Richard sah Matt prüfend an. »Willst du gehen?«, fragte er.

Matt schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« Sein Blick wanderte über alle Anwesenden. Sie starrten ihn an. Er sah sein eigenes Gesicht, das sich in Susan Ashwoods schwarzer Brille spiegelte. »Aber ich werde es tun«, fuhr er fort. »Jedoch nur unter mehreren Bedingungen.«

»Was willst du?«, fragte der Australier.

»Sie sind einflussreiche Leute. Sie haben verhindert, dass Richard seinen Artikel über Omega Eins veröffentlichen konnte. Dafür sollten Sie ihm jetzt einen Job besorgen, hier in London.«

»Matt – «, begann Richard.

»Das wolltest du doch immer«, unterbrach Matt seinen Freund. »Und ich will auf eine normale Schule gehen. Keine Privatschule wie Forrest Hill. Und jeder von Ihnen muss mir versprechen, dass Sie mich in Ruhe lassen, wenn Sie das Tagebuch haben.«

»Ich weiß nicht, ob wir dir Letzteres versprechen können«, sagte Mr Fabian. »Du bist ein Teil von all dem. Das hast du doch sicher schon gemerkt, oder?«

»Aber wenn wir dich heraushalten können, werden wir es tun«, versprach Miss Ashwood. »Uns gefällt das genauso wenig wie dir, Matt. Wir wollten dich nie hierher holen.«

Matt nickte. »Verstehe.«

Eine Entscheidung war getroffen worden, aber Matt war nicht sicher, dass er sie getroffen hatte. Als er später in seinem Bett im dritten Stock des Hotels lag, redete er sich ein, dass schon bald alles vorbei sein würde. Er würde sich mit William Morton treffen und das Tagebuch bekommen. Und das war das Ende allen Ärgers.

Aber irgendwie glaubte er nicht daran.

Die Ereignisse der letzten Tage waren gegen seinen Willen passiert. Und das galt auch für das, was als Nächstes geschehen würde. Es gab keinen Ausweg für ihn. Er sollte sich so langsam daran gewöhnen.

Auf der anderen Erdhalbkugel ging ein Mann auf seinen Schreibtisch zu.

 

In der Provinz Ica, südlich von Perus Hauptstadt, war es fünf Stunden früher als in London und damit erst Nachmittag. Die Sonne strahlte vom Himmel, und da der Raum offen war und der geflieste Boden sich durch eine Reihe Säulen bis nach draußen erstreckte, war das Zimmer vom Licht durchflutet. Hoch oben drehte sich langsam ein Deckenventilator, der zwar nicht wirklich für Kühlung sorgte, aber wenigstens die Illusion vermittelte. Der Mann hörte das sanfte Plätschern von Wasser, denn auf dem Hof war ein alter Brunnen. Ein paar Hühner pickten im Kies herum. Überall blühten Blumen und erfüllten die ganze Gegend mit ihrem Duft.

Der Mann war siebenundfünfzig Jahre alt und trug einen weißen Leinenanzug, der so steif wirkte, als hinge er immer noch im Schrank. Langsam und schwerfällig bewegte sich der Mann. Er musste mit den Händen nach seinem Stuhl tasten, bevor er sich ungeschickt darauf niederließ.

Sein Körper zwang ihn zur Vorsicht.

Er war ungewöhnlich groß – über einsachtzig. Es war jedoch sein Kopf, der für diese Größe sorgte, denn er war doppelt so lang wie beim Durchschnitt der Bevölkerung. Seine Augen lagen so hoch oben, dass sie bei jedem anderen am Haaransatz gesessen hätten. Er hatte ein paar Haarbüschel von undefinierbarer Farbe, aber im Großen und Ganzen war er kahl und hatte unzählige Leberflecken im Gesicht und auf der Kopfhaut. Seine Nase reichte hinunter bis zum Mund, doch der war im Vergleich zu allem anderen unnatürlich klein. Es war der Mund eines Kindes im Gesicht eines Erwachsenen. An seinem Hals zuckte bei jeder Bewegung ein Muskel. Es fiel seiner Halswirbelsäule eindeutig schwer, dieses enorme Gewicht zu tragen.

Der Name des Mannes war Diego Salamanda. Ihm gehörte eines der größten Unternehmen von Südamerika. Sein Imperium umfasste Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsender, Telekommunikation und Hotels. Manche Leute behaupteten, Salamanda gehöre ganz Peru.

Sein Kopf war mit Absicht verformt worden. Vor mehr als tausend Jahren gehörte das zur Tradition. Einige der alten Volksstämme von Peru hatten Neugeborene ausgewählt, die sie für besonders hielten. Diese Kinder waren gezwungen worden, mit zwei Brettern aufzuwachsen, die ihren Kopf einzwängten und für dieses unnatürliche Längenwachstum sorgten. Diese Verunstaltung galt als große Ehre. Diego Salamandas Eltern hatten gewusst, dass ihr Kind etwas Besonderes war, und deshalb hatten sie dasselbe mit ihm gemacht.

Und er war ihnen dafür dankbar.

Sie hatten ihm Schmerzen zugefügt. Sie hatten ihn entstellt. Sie hatten verhindert, dass er Freunde finden und eine Familie gründen konnte. Aber sie hatten Recht gehabt. Sie hatten sein Talent schon am Tag seiner Geburt erkannt.

Das Telefon klingelte.

Sehr langsam streckte Diego Salamanda die Hand aus und nahm den Hörer ab. Der Hörer sah lächerlich klein aus, als er ihn ans Ohr hielt.

»Ja.« Er brauchte sich nicht mit seinem Namen zu melden. Dies war eine Geheimnummer, die nur eine Hand voll Leute kannte. Und die wussten genau, wen sie anriefen.

»Es findet morgen um zwölf Uhr statt«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Er wird in einer Londoner Kirche sein, die St. Meredith’s heißt.«

»Sehr gut.«

»Was soll ich in dieser Angelegenheit unternehmen?«, fragte die Stimme.

»Sie haben genug getan. Und Sie werden dafür belohnt werden. Von nun an können Sie alles mir überlassen.«

»Was werden Sie tun?«

Diego Salamanda schwieg einen Moment. Ein bösartiges Funkeln erschien in seinen merkwürdig farblosen Augen. Er hasste es, wenn man ihm Fragen stellte, aber er war gerade in einer großzügigen Stimmung. »Ich werde mir das Tagebuch nehmen und Mr Morton töten«, antwortete er.