AUSSENSEITER

Es war derselbe Traum wie immer.

Matt Freeman stand auf einem hohen Felsen aus schwarzem Gestein, der aus dem Boden ragte wie ein Giftpilz. Matt war hoch oben und ganz allein, umgeben von einem Meer, das tot aussah. Die Wellen rollten heran wie Öl, und obwohl der Wind heulte und ihm die Gischt in die Augen spritzte, fühlte er nichts – nicht einmal die Kälte. Ihm war klar, dass dies ein Ort war, an dem die Sonne niemals auf- oder unterging. Und er fragte sich, ob er bereits gestorben war.

Matt drehte sich um und sah zum Strand. Er wusste, dass dort vier andere auf ihn warteten und dass zwischen ihnen ein Wasserstreifen lag, der mindestens einen Kilometer breit und etliche Kilometer tief war. Die vier waren immer da. Drei Jungen und ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter. Sie warteten darauf, dass er das Wasser überquerte und zu ihnen kam.

Aber diesmal war es anders. Einer der Jungen hatte eine Möglichkeit gefunden, zu ihm zu gelangen. Er saß in einem langen schmalen Boot, das aus Binsen geflochten war und einen Bug hatte, der geformt war wie der Kopf einer Wildkatze. Sehr stabil sah es nicht aus. Matt konnte sehen, wie es von den Wellen angriffen wurde und wie sie versuchten, es zurückzutreiben – aber der Junge ruderte mit kraftvollen, rhythmischen Zügen. Er kam immer näher, und nun konnte Matt auch erkennen, wie er aussah: braune Haut, dunkle Augen, halblanges schwarzes und sehr glattes Haar. Er trug zerschlissene Jeans und ein weites Hemd mit einem Loch am Ellbogen.

Matt war plötzlich voller Hoffnung. In wenigen Minuten würde das Boot die Insel erreicht haben, und wenn er einen Weg fand, der von dem Felsen herunterführte, dann könnte er endlich entkommen. Matt rannte zur Kante des Felsens, und von dort aus sah er, wie sich etwas in dem tintenschwarzen Wasser spiegelte. Es war ein Vogel. Seine Form veränderte sich ständig, denn sie wurde durch den Wellengang verzerrt. Matt konnte nicht erkennen, was für einer es war. Er hatte eine enorme Spannweite, weiße Federn und einen langen, schlangenartigen Hals. Es war ein Schwan! Abgesehen von den drei Jungen und dem Mädchen war er das einzige Lebewesen, das Matt bisher in dieser Albtraumwelt gesehen hatte. Automatisch schaute er nach oben, in der Erwartung, den Schwan Richtung Festland fliegen zu sehen.

Der Schwan war ein riesiges Monster, so groß wie ein Flugzeug. Seine Augen funkelten gelb, und er streckte die Krallen aus, um damit nach dem Wasser zu greifen und es wie einen Vorhang hochzuziehen. Matt wollte den anderen Jugendlichen eine Warnung zurufen. Doch bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte, riss das Vieh den dolchartigen Schnabel auf und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Wie zur Antwort ertönte ein Donnerschlag, und Matt fiel auf die Knie, als der Riesenvogel über ihn hinwegflog. Der Luftzug zerrte an ihm, und der grauenhafte Schrei gellte noch immer in seinen Ohren. Und dann fiel der Vorhang aus Wasser wieder herunter, und die Flutwelle überspülte den Felsen, den Strand und das gesamte Meer. Matt spürte, wie die Wassermassen über ihn hereinbrachen… und wachte nach Luft japsend in seinem Bett in der kleinen Dachkammer auf, durch deren Fenster das erste fahle Morgenlicht fiel.

Matt tat das, was er immer machte, wenn sein Tag auf diese Weise begann: Er schaute auf seinen Wecker. Es war halb sieben. Dann sah er sich um, weil er sich überzeugen wollte, dass er wirklich in seinem Zimmer war, hoch oben in dem Haus in York, in dem er nun schon seit fünf Wochen lebte. Im Geiste hakte er alles ab, was er sah. Seine Unterrichtsbücher lagen auf dem Schreibtisch. Die Schuluniform hing über der Stuhllehne. Sein Blick wanderte über die Poster an der Wand: die von seinem Lieblingsfußballverein und ein Plakat von Krieg der Welten. Seine PlayStation 2 lag in einer Ecke auf dem Fußboden. Das Zimmer war unordentlich, aber es war sein Zimmer. Es war genauso, wie es sein sollte. Alles war in Ordnung. Er war aus der Albtraumwelt zurückgekehrt.

Matt lag im Bett, döste vor sich hin und lauschte dem Verkehr des frühen Morgens. Zuerst kam der Milchwagen, eine Weile später waren Lieferwagen zu hören, und dann setzte der Berufsverkehr ein. Um sieben Uhr klingelte im Zimmer unter ihm Richards Wecker. Richard Cole war der Reporter, der die Wohnung gemietet hatte. Matt hörte, wie er aufstand und barfuß ins Badezimmer tappte. Dann das Rauschen der Dusche. Es sagte Matt, dass es auch für ihn an der Zeit war aufzustehen. Er warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett.

Sein Blick fiel auf den großen Spiegel in der Ecke, und er musterte einen Moment lang, was er da sah: einen vierzehnjährigen Jungen in grauem T-Shirt und Boxershorts. Schwarze Haare. Bisher hatte er sie immer sehr kurz getragen, doch in letzter Zeit hatte er sie wachsen lassen. Blaue Augen. Matt war gut in Form, mit breiten Schultern und deutlich sichtbaren Muskeln. Er wuchs schnell. Richard war so klug gewesen, ihm seine Schuluniform eine Nummer zu groß zu kaufen – aber als Matt die Hose anzog, stellte er fest, dass sie ihm schon bald zu kurz sein würde.

Eine halbe Stunde später kam er mit seinen Schulsachen in die Küche. Richard räumte gerade das Geschirr zusammen, das sie am Abend zuvor stehen gelassen hatten. Er sah aus, als hätte er kein Auge zugetan. Seine Sachen waren zerknittert, und er war unrasiert. Sein blondes Haar klebte nass an seinem Kopf, und seine Augen waren halb geschlossen.

»Was willst du zum Frühstück?«, fragte er.

»Was haben wir denn?«

Richard unterdrückte ein Gähnen. »Also, Brot und Eier haben wir leider nicht.« Er öffnete einen Schrank. »Hier sind ein paar Cornflakes, aber das reicht wohl nicht.«

»Ist Milch da?«

Richard nahm die Milchpackung aus dem Kühlschrank, schnupperte daran und kippte den Inhalt ins Spülbecken. »Die ist sauer«, erklärte er. Dann hob er verlegen die Hände. »Ich weiß, ich weiß. Ich habe gesagt, ich würde einkaufen gehen und hab’s mal wieder vergessen.«

»Das macht doch nichts.«

»Natürlich macht es was.« In einem plötzlichen Wutanfall knallte Richard die Kühlschranktür zu. Er war sauer auf sich selbst. »Schließlich habe ich versprochen, mich um dich zu kümmern…«

Matt setzte sich an den Küchentisch. »Das ist nicht deine Schuld«, sagte er, »sondern meine.«

»Matt – «, begann Richard.

»Nein. Wir können es ruhig zugeben. Es funktioniert nicht.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Richard.

»Doch! Du willst mich eigentlich gar nicht hier behalten. Die Wahrheit ist, dass du York am liebsten verlassen würdest. Das ist okay, Richard. Wenn ich du wäre, würde es mir auch nicht passen, jemanden wie mich an der Backe zu haben.«

Richard sah auf seine Uhr. »Wir können das jetzt nicht ausdiskutieren«, sagte er, »sonst kommst du zu spät zur Schule.«

»Ich will nicht in die Schule«, erwiderte Matt. »Ich habe darüber nachgedacht.« Er holte tief Luft. »Ich will zurück ins FEDProgramm.«

Richard starrte, ihn entgeistert an. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

FED stand für Freiheit, Erziehung, Disziplin. Es war ein von der Regierung gefördertes Programm für jugendliche Straftäter, und Matt hatte daran teilgenommen, als er Richard kennen gelernt hatte.

»Ich denke, das macht alles einfacher«, sagte er.

»Als du das letzte Mal am FED-Programm teilgenommen hast, haben sie dich in ein Dorf voller Hexen gesteckt. Deine Pflegemutter, Mrs Deverill, hielt dich wie einen Sklaven. Zu wem, glaubst du, werden sie dich das nächste Mal schicken? Zu Vampiren oder einer Kannibalenfamilie.«

»Vielleicht komme ich zu einer ganz normalen Familie, die sich um mich kümmert.«

»Ich kann mich doch um dich kümmern.«

»Du kannst dich nicht einmal um dich selbst kümmern!« Das hatte Matt nicht sagen wollen, aber es war ihm einfach herausgerutscht. »Du arbeitest jetzt in Leeds«, fuhr er hastig fort. »Du sitzt jeden Tag stundenlang im Auto. Deswegen ist auch nie was Essbares im Haus. Und du bist abends immer total erschöpft. Du bleibst doch nur wegen mir hier. Und das ist nicht fair.«

Was Matt sagte, stimmte. Richard hatte seinen Job bei der Greater Malling Gazette verloren, doch nach ein paar Wochen hatte er eine neue Anstellung beim Gipton Echo gefunden, dessen Redaktion am Stadtrand von Leeds lag. Eine große Verbesserung war das nicht. Er schrieb weiterhin für den Lokalteil. Am Tag zuvor hatte er über ein neues Fischrestaurant, eine Müllkippe und ein von der Schließung bedrohtes Seniorenheim berichten müssen. Matthew wusste, dass Richard auch an einem Buch arbeitete, in dem er über ihr gemeinsam bestandenes Abenteuer schrieb – die Ereignisse, die zur Zerstörung des Atomkraftwerkes Omega Eins und dem Verschwinden eines ganzen Dorfes in Yorkshire geführt hatten. Aber er hatte die Story nicht an die Presse verkaufen können. Warum sollte das bei Buchverlagen anders sein?

»Ich will jetzt nicht darüber reden«, sagte Richard. »Es ist noch zu früh am Morgen. Lass es uns heute Abend besprechen. Ich werde auch ausnahmsweise nicht so spät kommen, und wir können essen gehen. Oder wir bestellen uns was nach Hause.«

»Ja, von mir aus.« Matt griff nach seinen Büchern.

»Was ist mit Frühstück?«

»Ich gehe zu McDonald’s.«

 

Forrest Hill war eine Privatschule mitten im Nirgendwo zwischen York und Harrogate. Obwohl Matt Richard nichts darüber gesagt hatte, war sie der Hauptgrund dafür, dass er den Norden von England verlassen wollte. Er hasste diese Schule. Obwohl bald Sommerferien sein würden, war er nicht sicher, ob er es noch so lange dort aushalten konnte.

Von außen wirkte sie einladend. Sie hatte einen viereckigen Hof, umgeben von Gebäuden mit Bogengängen und Außentreppen, und es gab sogar eine Kapelle mit Buntglasfenstern und Wasserspeiern. Einige Bauten der Schule waren dreihundert Jahre alt, aber es gab auch zahlreiche neue Gebäude. Die Schule hatte ein Theater, einen Fachtrakt für Naturwissenschaften und eine zweistöckige Bibliothek. Die Neubauten waren erst in den letzten zwei oder drei Jahren errichtet worden.

Zum Schulgelände gehörten mehrere Tennisplätze, ein Schwimmbad und Sportfelder. Sie lag in einem Tal, und von allen Seiten führten Straßen zum Schulgelände. Als Matt sie zum ersten Mal gesehen hatte, kam sie ihm eher wie eine Universität vor. Erst als die dreizehn- bis achtzehnjährigen Jungen an ihm vorbeiliefen, die in ihren schicken blauen Jacketts und den grauen Hosen in ihre Klassen marschierten, hatte er begriffen, dass es tatsächlich eine Schule war.

Doch Welten trennten diese Schule von der, die Matt in Ipswich besucht hatte. Hier war alles so sauber und ordentlich. Kein Pommesgestank aus der Schulküche, keine Graffitis, keine abblätternde Farbe oder Fußballtore, deren Netze in Fetzen hingen. Hier gab es tausende von Büchern in der Bibliothek, und die Computer waren die neuesten Modelle. Und die Schuluniform machte den Unterschied besonders deutlich: Als Matt sie zum ersten Mal angezogen hatte, war es ihm vorgekommen, als hätte man ihn in ein albernes Kostüm gesteckt. Das Jackett lag schwer auf seinen Schultern und kniff unter den Armen. Und der grau-grün gestreifte Schlips war einfach lächerlich. Er wollte kein Geschäftsmann werden, warum musste er sich dann so kleiden? Wenn er sich im Spiegel betrachtete, hatte er das Gefühl, einem Fremden gegenüberzustehen.

Es war nicht Richards Idee gewesen, ihn hierher zu schicken. Der Nexus – die geheime Organisation, die über sein Leben zu bestimmen schien – hatte die Schule vorgeschlagen. Doch Matt hatte in den letzten zwei Jahren nichts gelernt. Er lag in jedem Fach weit zurück. Ihn mitten im Sommerhalbjahr in eine öffentliche Schule zu schicken, wäre problematisch gewesen. Aber eine Privatschule würde nicht zu viele Fragen stellen und ihn vielleicht auch so fördern, wie er es brauchte. Der Nexus zahlte das Schulgeld. Es schien eine gute Idee zu sein.

Aber es war von Anfang an schief gegangen.

Die meisten Lehrer von Forrest Hill waren in Ordnung, aber die anderen machten den Unterricht zur Hölle. Matt hatte nur ein paar Tage gebraucht, um sich gleich zwei Lehrer zu Feinden zu machen: Mr King, den Englischlehrer, und Mr O’Shaughnessy, der Französisch unterrichtete und außerdem noch der stellvertretende Schulleiter war. Die beiden waren um die dreißig, aber sie benahmen sich, als wären sie viel älter. Am ersten Tag hatte Mr King Matt angefahren, weil er auf dem Schulhof Kaugummi gekaut hatte. Und am zweiten hatte Mr O’Shaughnessy ihm mit schriller Stimme einen zehnminütigen Vortrag gehalten, weil sein Hemd aus der Hose gerutscht war. Und danach schienen beide jede Gelegenheit zu nutzen, auf ihm herumzuhacken.

Aber das eigentliche Problem waren die anderen Schüler. Matt konnte sich normalerweise durchsetzen. In seiner alten Schule hatte es eine Menge fieser Typen gegeben, denen es Spaß gemacht hatte, andere zu quälen. Matt war klar gewesen, dass es eine Weile dauern würde, bis er in Forrest Hill neue Freunde fände – vor allem, weil die anderen Jungen so anders waren als er. Und doch war er überrascht gewesen, wie wenige sich von ihnen bereit zeigten, ihm eine Chance zu geben.

Natürlich kannten sich alle anderen. Die Jungen in seinem Alter gingen schon seit mehreren Jahren auf diese Schule und hatten längst Freundschaften geschlossen. Sie hatten eine eingespielte Lebensweise, und Matt wurde als Eindringling betrachtet. Und – was noch schlimmer war – er kam aus einer ganz anderen Welt. Von einer öffentlichen Schule und dazu noch einer, die nicht in Yorkshire stand. Die meisten der Jungen waren lediglich misstrauisch und hielten Abstand zu ihm, doch es gab einen, der es auf Matt abgesehen hatte.

Sein Name war Gavin Taylor. Er war in Matts Klasse, und er herrschte über den gesamten Jahrgang.

Gavin war nicht einmal sehr groß. Er war schlank, trug die Nase hoch, und sein blondes, stets fettiges Haar reichte bis zu den Schultern. Er achtete sehr darauf, dass sein Schlips immer schief hing, und schlurfte mit den Händen in den Hosentaschen herum – eine Haltung, die Lehrer und Schüler gleichermaßen warnte, ihm bloß nicht in die Quere zu kommen. Angeblich war er einer der reichsten Jungen der Schule. Sein Vater hatte eine Internetfirma, die Gebrauchtwagen in ganz England verkaufte. Und Gavin hatte vier oder fünf Freunde, die riesig waren. Sie folgten ihm durch die Schule wie Leibwächter.

Es war Gavin, der entschieden hatte, dass Matt an seiner Schule nichts zu suchen hatte. Es verachtete Matt nicht wegen dem, was er über ihn wusste, sondern wegen dem, was er nicht wusste. Matt war am Ende des Schuljahres aus dem Nirgendwo aufgetaucht. Er weigerte sich zu sagen, warum er seine bisherige Schule verlassen hatte, was mit seinen Eltern passiert war oder was er die letzten zwei Monate gemacht hatte. Gavin hatte die ersten paar Wochen immer wieder gestichelt und gelästert, in der Hoffnung, dass Matt etwas ausplaudern würde. Die Tatsache, dass Matt keine Angst vor ihm hatte und sich weigerte, ihm irgendetwas zu erzählen, ärgerte ihn nur noch mehr.

Doch was dann passierte, machte alles noch schlimmer. Gavin hörte zufällig, wie die Schulsekretärin in ihrem Büro telefonierte. Und dabei erfuhr er, dass Matt Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt hatte. Und er hatte keine Kohle. Irgendeine Wohlfahrtsorganisation in London bezahlte sein Schulgeld. Nur Minuten später wusste die ganze Schule Bescheid, und Matts Schicksal war besiegelt. Er war bloß ein Versager. Matt gehörte nicht zu ihnen und würde es auch nie.

Vielleicht gab es ein paar Jungen, denen seine Vorgeschichte egal gewesen wäre, weil aber alle vor Gavin kuschten, stand Matt ohne einen einzigen Freund da. Richard hatte er davon nichts erzählt. Er gehörte nicht zu denen, die sich beklagten. Als seine Eltern starben und man ihn zu seiner Tante Gwenda Davis geschickt hatte, ja sogar, als man ihn wie einen Sklaven in Hive Hall gehalten hatte, war es ihm gelungen, einen Schutzwall um sich zu errichten. Aber diese Schule war Tag für Tag schwerer zu ertragen. Matt wusste genau, dass er früher oder später ausflippen würde.

Der Bus setzte ihn wie gewöhnlich um kurz vor acht ab. Der Schultag begann immer damit, dass sich alle in der Kapelle versammelten. Dann sangen sechshundertfünfzig Schuljungen, die noch halb schliefen, schleppend ein Kirchenlied, und der Schulleiter oder einer der Lehrer verlas ein paar Ankündigungen. Matt versuchte, nicht aufzufallen. Er dachte über das nach, was er am Morgen zu Richard gesagt hatte. Er war fest entschlossen zu gehen. Es reichte ihm.

Die ersten beiden Stunden waren nicht so schlimm. Der Mathe- und der Geschichtslehrer waren jung und mitfühlend. Beide ließen nicht zu, dass die anderen auf Matt herumhackten. Die Pause verbrachte Matt in der Bibliothek, um dort noch schnell ein paar Hausaufgaben zu machen. Danach hatte er eine Stunde bei dem Nachhilfelehrer, der mit ihm Rechtschreibung und Grammatik übte. Doch in der letzten Stunde vor der Mittagspause hatte er Englisch, und Mr King war schlecht gelaunt.

»Freeman, steh bitte auf!«

Matt erhob sich zögernd. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Gavin einen anderen Jungen anstieß und grinste. Matt bemühte sich, keine Miene zu verziehen.

Mr King kam auf ihn zu. Der Englischlehrer hatte Haarausfall. Er versuchte zwar, ihn zu tarnen, indem er die roten Strähnen quer über seinen Kopf kämmte, aber die Kopfhaut schimmerte unübersehbar durch. Er hielt eine eselsohrige Ausgabe von Oliver Twist in der Hand, dem Buch, das sie gerade lasen. Außerdem hatte er einen Stapel Arbeitshefte dabei.

»Hast du die Kapitel von Oliver Twist gelesen, die ich euch aufgegeben hatte?«, fragte er.

»Ich habe es versucht«, antwortete Matt. Ihm gefiel die Geschichte, aber er fand die Sprache ziemlich altmodisch, sie erschwerte das Verständnis des Textes. Warum musste Charles Dickens so viele Beschreibungen verwenden?

»Du hast es versucht?«, höhnte Mr King. »Das soll wohl heißen, dass du sie nicht gelesen hast.«

»Doch, hab ich – «, begann Matt.

»Unterbrich mich nicht, Freeman. Dein Aufsatz war der schlechteste von allen. Du hast nur zwei von zwanzig möglichen Punkten. Und du kannst nicht einmal Fagin richtig schreiben! FA-Y-G-I-N! In Fagin ist kein Y, Freeman! Hättest du die Kapitel gelesen, wüsstest du das!«

Gavin kicherte hörbar, und Matt spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen.

»Du wirst die Kapitel nochmal lesen und den Test wiederholen, und in Zukunft würde ich es begrüßen, wenn du mich nicht mehr anlügst.« Er warf Matts Heft vor ihn auf den Tisch, als wäre es etwas Ekliges.

Die Stunde zog sich in die Länge. Nach der Mittagspause hatten sie Sport. Normalerweise machte ihm Sport Spaß, denn er war fit und flink, aber auch auf dem Sportplatz gehörte er nicht dazu. In diesem Schuljahr wurde Kricket gespielt, und es hatte Matt kein bisschen gewundert, als man ihn ans hintere Ende des Feldes schickte – so weit weg von den anderen Spielern, wie es nur ging.

Mittagessen gab es in einem der Neubauten. Dort war eine Selbstbedienungstheke mit warmen und kalten Gerichten aufgebaut, und unter der Decke, an der ein moderner Kronleuchter hing, standen fünfzig lange Tische. Die Schüler durften sitzen, wo sie wollten, aber normalerweise blieben die Klassen zusammen. Das Klappern von Geschirr und Besteck und der Lärm hunderter Stimmen hallten durch den Raum. Alle aßen zur selben Zeit, und die großen Glasfenster schienen den Geräuschpegel aufzufangen und zurückzuwerfen.

Matt hatte Hunger. Er hatte morgens den Bus gerade noch erwischt und keine Zeit mehr gehabt, bei McDonald’s zu frühstücken. Und am Abend zuvor war in Richards Küche auch nicht viel Essbares zu finden gewesen. Das einzig Gute in Forrest Hill war für Matt das Essen, und er lud sich eine große Portion Braten, Salat, Eiscreme und Fruchtsaft auf sein Tablett. Dann suchte er sich einen freien Platz. Nach fünf Wochen an dieser Schule hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass ihn jemand an seinen Tisch rufen würde.

Er entdeckte einen freien Platz und steuerte darauf zu. Da er das Tablett vor sich hatte, sah er den Fuß nicht, der sich ihm in den Weg streckte. Hilflos stolperte er darüber. Das Tablett, zwei Teller, ein Glas, Messer, Gabel und Löffel flogen ihm aus den Händen und landeten mit ohrenbetäubendem Geschepper auf dem Boden. Matt ereilte dasselbe Schicksal. Er konnte nichts dagegen tun und fiel genau in das, was eigentlich sein Mittagessen hätte sein sollen. Plötzlich war Totenstille im Speisesaal. Matt brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, dass ihn alle anstarrten.

Es war nicht Gavin Taylor gewesen, der ihm ein Bein gestellt hatte, sondern einer seiner Freunde. Aber Matt war überzeugt, dass es Gavins Idee gewesen war. Er konnte den Typen sehen, wie er ein paar Tische weiter mit einem Glas in der Hand aufstand und dämlich grinste. Matt kniete auf dem Boden. Eiscreme klebte an seinem Hemd, der Fruchtsaft hatte sich auf seiner Uniform und dem Boden verteilt.

Und dann fing Gavin an zu lachen.

Das war das Zeichen für alle anderen, es ebenfalls zu tun. Matt hatte das Gefühl, von der ganzen Schule ausgelacht zu werden. Mr O’Shaughnessy kam auf ihn zu. Warum musste ausgerechnet der an diesem Tag Aufsicht haben?

»Was bist du doch für ein Tölpel, Freeman!« Die Worte schienen aus weiter Entfernung zu kommen. »Ist dir etwas passiert?«

Matt schaute auf und sah das hämische Grinsen von Gavin. Er spürte, wie ihn die Wut durchströmte – aber es war nicht nur Wut, sondern noch etwas anderes. Er hätte es nicht stoppen können, selbst wenn er gewollt hätte. Es war, als wäre Matt zu einer Art Trichter geworden, und in seinem Körper loderte es. Er konnte den Brandgeruch sogar riechen.

Der Kronleuchter explodierte.

Es war ein hässliches Ding, ein Gewirr aus stählernen Armen und Glühbirnen. Und es hing direkt über Gavin. Und während Matt den Kronleuchter anstarrte, platzte eine Glühbirne nach der anderen, und jedes Mal knallte es wie ein Pistolenschuss. Scherben regneten herunter und prasselten auf die Tische. Gavin sah nach oben und schrie auf, als ihn ein Splitter im Gesicht traf. Noch mehr Scherben fielen auf ihn herab. Rauch lag in der Luft. Jetzt lachte keiner mehr. Im ganzen Raum herrschte schockiertes Schweigen.

Dann explodierte auch das Glas, das Gavin in der Hand hielt. Gavin kreischte. Seine Handfläche war aufgeritzt. Er sah erst seine Hand an, dann Matt. Gavin öffnete den Mund, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Worte herauskamen.

»Das war er!«, schrie Gavin. »Matt hat das getan!« Er zitterte am ganzen Körper.

Der stellvertretende Schulleiter stand hilflos da. Er sah fassungslos aus und schien nicht zu wissen, was er tun sollte. So etwas war in Forrest Hill noch nie passiert. Damit hatte er keine Erfahrung.

»Das war er!«, schrie Gavin wieder.

»Sei nicht albern«, wies ihn Mr O’Shaughnessy zurecht. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Freeman war nicht einmal in deiner Nähe.«

Gavin war blass geworden. Das hätte am Schmerz oder am Anblick des Blutes liegen können, das aus der Schnittwunde an seiner Hand floss, doch Matt wusste es besser: Gavin hatte Angst vor ihm.

Mr O’Shaughnessy schien sich gefasst zu haben, denn er übernahm jetzt wieder das Kommando. »Jemand muss die Schulschwester holen!«, befahl er. »Und wir werden diesen Raum verlassen. Hier liegt überall Glas herum…« Die Schüler hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Sie wussten nicht, wie alles passiert war. Aber sie wollten auf keinen Fall im Speisesaal sein, wenn die ganze Decke einstürzte. In diesem Moment hatten sie Matt vollkommen vergessen, und deshalb bemerkte keiner, dass Matt bereits verschwunden war.