IM KONTROLLZENTRUM
Es war schon dunkel, als die Krieger in einer langen Reihe vor dem Forschungszentrum auftauchten. Matt konnte nicht fassen, dass er tatsächlich dabei mitmachte. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte das Heer der Inka gnadenlos und unaufhaltsam Südamerika erobert. Und jetzt zogen ihre Nachkommen wieder in den Krieg, und das nur, weil er sie gerufen hatte. Pedro war in ihrer Mitte, neben Atoc. Er schien keine Angst zu haben. Ein Außenstehender hätte sogar vermutet, dass er der Befehlshaber war. Das war nicht mehr der Betteljunge, den Matt in Lima kennen gelernt hatte. Mit jeder Minute wurde Pedro Manco Cápac ähnlicher, dem ersten Inkaherrscher, dessen Abbild auf der goldenen Scheibe zu sehen gewesen war.
Der Stacheldrahtzaun ragte vor ihnen auf. Atoc gab ein Zeichen und senkte seine Handfläche Richtung Sand. Sofort ließen sich alle auf die Knie fallen. Es war zehn Uhr abends, aber im Forschungszentrum war noch Betrieb. In vielen der Gebäude brannte Licht, und gelegentlich kamen Elektrowagen vorbei, deren Motoren surrten wie übergroße Moskitos.
Atoc deutete auf den Sendemast und sprach leise in seiner eigenen Sprache. Die Geste verriet Matt, was er sagte. Der Mast war das Hauptangriffsziel. Wenn der Sender außer Gefecht war, würde Salamanda seinen Satelliten – den Silberschwan – nicht länger kontrollieren können. Matt warf einen Blick zum Himmel. Die ersten Sterne waren schon sichtbar. Er sah sie über den Bergen funkeln. Aber einer von ihnen war unecht, ein teuflischer Eindringling, der sich zwischen sie schlich, um eine tödliche Kombination zu vervollständigen. Welcher von ihnen war es? Matt glaubte zu sehen, dass sich eines der Lichtpünktchen schneller bewegte als die anderen, aber sicher war er nicht. Er wusste nur, dass der Schwan irgendwo dort oben war, genau wie in seinem Traum. Und wenn sie ihn nicht aufhielten, würde er bald in Position sein.
Zwei der Krieger schlichen vorwärts und ließen sich näher am Zaun auf ein Knie sinken. Beide trugen einen Speer – einen drei Meter langen Holzstab, dessen Spitze im Feuer gehärtet war. Schweigend warteten sie. Atoc sah sich noch einmal um, dann nickte er. Die beiden Indios rannten ein paar Schritte, dann warfen sie ihre Speere. Ihre Kraft und Zielgenauigkeit faszinierten Matt. Die Speere flogen durch die Dunkelheit, ihre Flugbahn verlief aufwärts. Es waren zwei gedämpfte Aufschläge zu hören, und die beiden Wächter, die auf jeweils einem Turm gestanden hatten, brachen lautlos zusammen. Einer verschwand außer Sicht. Der andere kippte vorwärts und hing mit seinem Oberkörper über der Brüstung. Der Speer hatte ihn durchbohrt.
Der Angriff hatte begonnen, aber sie mussten irgendwie aufs Gelände gelangen, und das bedeutete, dass sie durch das elektrische Tor mussten. Atoc gab wieder ein Zeichen, und ein flacher Lastwagen mit einer Plane über der Ladefläche rollte auf die Sicherheitsschranke zu. Der Fahrer, der gelangweilt und unrasiert aussah, lehnte sich aus dem Fenster und drückte auf die Hupe, als hätte er es eilig, endlich Feierabend zu machen. Drei bewaffnete Wächter kamen heraus, um mit ihm zu reden. Sie sahen misstrauisch aus. Matt nahm an, dass man ihnen eingeschärft hatte, niemanden ins Forschungszentrum einzulassen. Nicht in dieser Nacht. Die ganze Anlage würde in erhöhter Alarmbereitschaft sein.
»Quién es usted? Qué desea?«
Die Worte klangen gedämpft und weit weg. Der Fahrer murmelte etwas, aber so leise, dass sich einer der Wachmänner ins Fahrerhaus beugen musste, um ihn zu verstehen. Das war ein Fehler. Matt sah eine Hand hervorschießen und den Wachmann am Hals packen. Zur selben Zeit wurde die Plane zurückgeschlagen, und zwei Personen sprangen heraus. Beide schwangen ihre Keulen mit dem sternförmigen Ende. Eine Sekunde später waren alle drei Wachen außer Gefecht gesetzt. Der Fahrer winkte Atoc zu.
»Es geht los«, flüsterte Richard.
Matt nickte. Es schien gewagt, mit diesen uralten Waffen ein modernes Forschungszentrum anzugreifen, aber bis jetzt hatten sich die Keulen und Speere als wirksam erwiesen.
Die Männer erhoben sich vom Wüstenboden und rückten vor. Zur selben Zeit eilten die Männer vom Lastwagen ins Wachhaus. Die Schranke hob sich, und das elektrische Tor glitt auf, um sie einzulassen. Matts Mund war trocken. Es kam ihm fast zu einfach vor. Passte denn niemand auf die Anlage auf? Aber die Wachen auf den Türmen waren tot, und außerdem trugen die Indios dunkle Kleidung. Sie waren still und fast unsichtbar.
Pedro war der Erste, der die Anlage stürmte. Ihm folgten Atoc und die anderen, die sich auf die Straßen und Wege verteilten und an den nächstbesten Mauern Schutz suchten. Es war niemand zu sehen. Nur die Lichter in den Fenstern und das entfernte Summen von Maschinen erinnerte sie daran, dass sie nicht allein waren. Richard und Matt waren unter den Letzten, die das Forschungszentrum betraten. Damit hatten sie den besten Blick auf das, was als Nächstes passierte.
Eine Gruppe von vier Kriegern rannte auf den Sendemast zu und begann, daran hochzuklettern. Atoc und die anderen gaben ihnen Deckung und passten auf, dass niemand kam. Aber es hatte immer noch keiner von Salamandas Leuten gemerkt, dass sie angegriffen wurden. Letzten Endes war es ein Toter, der sie verriet. Es war der Wachmann auf dem Turm, der vom Speer getroffen worden war. Ganz plötzlich kippte er nach vorn, fiel durch die Luft und landete mit ohrenbetäubendem Getöse auf einem Blechdach. Keiner bewegte sich. Keiner wagte, auch nur zu atmen. War es möglich, dass niemand den Lärm gehört hatte?
Eine Sirene heulte los und zerriss die Stille der Nacht. Gleichzeitig sprangen Suchscheinwerfer an, und was eben noch ein paar Schatten und kaum sichtbare Figuren gewesen waren, erstarrte jetzt in gleißendem Licht. Jeder einzelne Indio war im Lichtkegel gefangen. Matt und Richard, die gerade eine asphaltierte Fläche überquert hatten, waren in der ungünstigsten Position. Türen flogen krachend auf, und die Wachmannschaft stürmte heraus. Ein Maschinengewehr begann zu rattern. Splitter wurden aus den Wänden gerissen. Eine ganze Gruppe Indios wurde vom Kugelhagel getroffen. Richard packte Matt und zog ihn mit sich hinter einen Stapel Benzinfässer. Natürlich war ihm bewusst, dass es äußerst gefährlich war, sich bei einer Schießerei hinter Benzinfässern zu verschanzen. Aber er nahm an, dass Salamandas Männer nicht so verrückt waren, in ihre Richtung zu feuern.
Die Indios verteilten sich, um Deckung zu suchen. Weitere Schüsse fielen. Auch auf den Dächern waren Wachleute. Die Tür des größten Gebäudes ging auf, und ein Mann mit einer Pistole kam heraus. Das Chaos um ihn herum schien ihn nicht zu beeindrucken, denn er zielte sorgfältig und drückte ab. Einer der Kletterer, die schon die Hälfte des Sendemastes erklommen hatten, schrie auf und stürzte in die Tiefe. Matt lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Er kannte den Mann, der gerade geschossen hatte. Es war Captain Rodriguez, der Polizist, der ihn in Lima brutal zusammengetreten hatte. Er zog sich in die offene Tür zurück und bellte jemandem hinter sich Befehle zu. Was hatte ein ranghoher Polizist hier zu suchen? Dass er für Salamanda arbeitete, war klar. Aber anscheinend hatte er seine normalen Pflichten aufgegeben, um fortan nur noch die Anlage seines Bosses zu bewachen.
Etwas funkelte im grellen Licht, ein Speer flog an Rodriguez vorbei und bohrte sich neben ihm in die Tür. Rodriguez lachte und gab noch einen Schuss ab. Matt sah etwas über die freie Fläche vor einem Gebäude wirbeln – drei Kupferkugeln, die mit Schnüren zusammengebunden waren. Sie verschwanden in der Dunkelheit, und einen Augenblick später taumelte ein Wachmann vom Dach. Die Schnüre hatten sich um seinen Hals geschlungen, und er krachte vor Captain Rodriguez auf den Boden und blieb zuckend liegen.
Das Maschinengewehrfeuer schien kein Ende zu nehmen. Die Wächter waren überall, und es kamen immer mehr aus den Gebäuden. Matt war der Verzweiflung nahe. Die Indios waren Salamandas Männern zahlenmäßig unterlegen. Und wo war Pedro? Inzwischen bedauerte er, die Indios begleitet zu haben. Er konnte ihnen nicht helfen. Er konnte nicht das Geringste tun. Oder vielleicht doch? Matt und Richard befanden sich vor einem kleinen Gebäude, an dessen Tür ein Schädel mit gekreuzten Knochen zu sehen war. Darunter stand das Wort, das er auch auf dem Flughafen gesehen hatte. Peligro. Gefahr. Drinnen summten irgendwelche Maschinen.
»Richard!«, rief er.
Richard begriff, was Matt vorhatte. Er holte aus, setzte seine ganze Kraft ein und schaffte es, die Tür einzutreten. Matt rannte ins Gebäude. Es war voller Maschinen und Starkstromsicherungen. An jeder war ein silberner Hebel, der nach oben zeigte. Richard und Matt begannen sofort, die Hebel umzulegen. Wenn sie die Stromversorgung der Anlage lahm legen konnten, unterbrach das vielleicht auch das Signal, das in den Weltraum gesendet wurde.
Es ertönten ein Summen und ein elektrisches Knistern. Die Sirene verstummte, und die Anlage lag wieder im Dunkeln. Richard und Matt hatten es geschafft, das Sicherheitssystem abzuschalten. Das gab den Indios den Vorteil, den sie brauchten. Als Bergbewohner waren sie an die Dunkelheit gewöhnt, und jetzt nutzten sie sie dazu, von einem Versteck zum anderen zu huschen und sich dabei Salamandas Männer einzeln vorzunehmen.
»Lass uns reingehen«, sagte Matt. Ohne auf Richards Antwort zu warten, verließ er den Generatorenraum, rannte unter dem Sendemast durch und in das Gebäude auf der anderen Seite.
Hier war das Kontrollzentrum untergebracht. Es stand direkt neben dem Sendemast mit den vielen Satellitenschüsseln, die durch dicke Kabel mit dem Gebäude verbunden waren. Matt wusste nicht, was er vorfinden würde. Er war unbewaffnet und sich bewusst, welches Risiko er einging. Aber er konnte nicht nur zusehen, wie die Indios für ihn kämpften. Er hoffte noch immer, dass sie die Umlaufbahn des Satelliten vielleicht ändern konnten, wenn es ihnen gelang, die Steuerung dafür zu finden. Wahrscheinlich würden sie auch auf Salamanda treffen. Bisher hatte er sich nicht blicken lassen, aber er war bestimmt vor Ort. Dies sollte schließlich die Nacht seines Triumphs sein. Da würde er sicher nicht zu Hause bleiben.
So lautlos wie möglich schlich Matt in den großen Raum in der Mitte des Gebäudes. Er sah hoch und betrachtete die Glaskuppel, die er schon von draußen gesehen hatte. Auf einer Seite davon sah er den Sendemast aufragen.
Alle Wände waren mit Plasmabildschirmen bedeckt. Einige zeigten Digitalzahlen an und andere Bilder, die wie LiveAufnahmen des Nachthimmels aussahen. Darunter standen Computer, und an der Arbeitsplatte, die rund um den Raum führte, waren mindestens zwanzig Plätze. In der Mitte waren Tische und Stühle, die wie in einem Klassenzimmer angeordnet waren. Sie waren mit Karten und anderen Papieren bedeckt, von denen auch einige auf dem Fußboden lagen. Offenbar waren die Wissenschaftler in Panik geraten, als die Schießerei begann. Sie mussten das Kontrollzentrum fluchtartig verlassen haben. Nur ein Mann war geblieben. Er saß allein an einem der Tische und schrieb fieberhaft etwas auf. Als Matt näher kam, drehte er sich langsam um.
Es war Mr Fabian.
Einen Moment lang sagte keiner von ihnen etwas. Dann brach Mr Fabian das Schweigen. »Matthew!«, rief er.
»Mr Cole! Was machen Sie denn hier?«
»Ich glaube, diese Frage sollten wir Ihnen stellen«, entgegnete Richard.
Eigentlich war diese Frage überflüssig, Matt hatte sich bereits alles zusammengereimt. Ein Fahrer – Alberto – war geschickt worden, um sie am Flughafen abzuholen und im Hotel Europa der Polizei auszuliefern. Er hatte bisher angenommen, dass der Fahrer für Captain Rodriguez gearbeitet hatte. Aber in Wirklichkeit hatte Mr Fabian ihn geschickt. Und Matts Anruf aus Cuzco hätte ihn und Pedro fast das Leben gekostet. In dem Augenblick, in dem er Fabian gesagt hatte, wo er war, war diese Information auch schon an Salamanda und die Polizei weitergeleitet worden.
Er war der Verräter. Von Anfang an.
Mr Fabian schien geschrumpft zu sein, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Er trug zwar wie gewöhnlich einen teuren Anzug, aber diesmal ohne Krawatte. Seine Kleidung hing an ihm herunter, und er war unrasiert. Außerdem hatte er getrunken. Auf dem Tisch stand eine halb leere Flasche, und seine Augen waren glasig. Er starrte Richard und Matt an und blinzelte nervös – eher verlegen als ängstlich oder überrascht.
»Sie…!« Richard fehlten die Worte.
Mr Fabian sah sich um. »Wo sind denn alle hin?«, fragte er. »Vor ein paar Minuten war der Raum noch voller Leute.« »Wann haben Sie angefangen, für Diego Salamanda zu arbeiten?«, fragte Matt.
»Oh, schon vor langer Zeit. Noch vor Raven’s Gate. Er ist mein Verleger. Er hat zwei meiner Bücher herausgebracht und wollte mich dann persönlich kennen lernen. Er sagte, dass ihn einige der Dinge, über die ich schreibe, sehr interessieren würden: die Frühgeschichte und die Nazca-Ebene. Der Nexus war damals ebenfalls an mir interessiert. Sie haben mich gebeten, bei ihnen mitzumachen. Aber ich hatte meine Wahl schon getroffen…«
»Warum?«
»Weil ich auf der Seite des Siegers sein will. Die Welt verändert sich. Alles wird sich verändern. Und da muss man sich die Frage stellen, ob man den Rest seines Lebens im Elend verbringen und leiden oder doch lieber auf der Gewinnerseite stehen will. Señor Salamanda hat mich davon überzeugt, dass der Nexus keine Chance hat. Es ist doch immer vorhergesagt worden, dass die Alten wiederkehren werden – also macht es keinen Sinn, dagegen anzukämpfen.«
»Sie haben ihm das Tagebuch gegeben.« Richard schaute den Verräter voller Verachtung an.
»Ich habe ihn über das Treffen in der Kirche St. Meredith’s informiert. Und ich habe ihm gesagt, wo du bist, als du aus Cuzco angerufen hast. Bitte entschuldige. Ich wollte nicht, dass dir etwas passiert, aber hier ging es um alles oder nichts.«
Mr Fabian stand auf, nahm einen Schluck aus der Flasche und ging zu einem der größten Bildschirme. Der war Matt schon beim Hereinkommen aufgefallen. Er schien Radarsignale zu übertragen. Schwarz auf weiß waren ungefähr hundert Punkte zu sehen, die sich nicht bewegten. Nur ein einziger Punkt in der linken oberen Ecke kroch langsam vorwärts und verschob sich alle paar Minuten ungefähr einen Zentimeter.
»Das ist er«, sagte Mr Fabian. »Cygnus, der Schwan. Man muss señor Salamandas Genialität einfach bewundern. Das ist wirklich ein Kerl mit einem Kopf auf den Schultern!« Er lachte kurz über seinen eigenen Witz. »Er benutzt den künstlichen Stern, um das Tor zu öffnen.« Am unteren Rand des Bildschirmes lief die Zeit mit. Die Zahlen 22:19:58 waren zu sehen, und sie wechselten schnell, als die Sekunden verstrichen. »In weniger als zwei Stunden wird er in Position sein, und es gibt absolut nichts, was ihr dagegen tun könnt«, murmelte er. »Dann wird alles vorbei sein…«
»Wir können ihn immer noch aufhalten«, sagte Matt.
»Nein, weil – «
Doch bevor er noch mehr sagen konnte, wurde die Tür so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand krachte, und ein Mann taumelte in den Raum. Es war Captain Rodriguez. Anscheinend kam er direkt aus dem Kampfgetümmel, denn sein Gesicht war blass und von seiner Stirn lief der Schweiß. Er hatte eine Waffe in der Hand. Mit der anderen Hand hielt er sich den Arm. Offensichtlich war er verwundet worden, denn Blut sickerte durch den Ärmel seiner Uniformjacke. Matt hatte keine Ahnung, ob er gekommen war, um sich zu verstecken oder um nach ihm zu suchen. Er hatte ihn gefunden, das war alles, was zählte.
»Du!«, stieß Captain Rodriguez mit einer Mischung aus Hass und Belustigung hervor. Er richtete die Waffe auf Matt.
Matt sagte nichts. Er stand nur ein paar Meter von ihm entfernt. Das Auftauchen von Captain Rodriguez hatte alles verändert. Er und Richard waren wehrlos. Mr Fabian würde ihnen nicht helfen, und außer ihm war niemand anwesend. Was sollte er tun? Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Er hatte den Kronleuchter in Forrest Hill explodieren lassen und kurz darauf das Glas in Gavin Taylors Hand zum Springen gebracht.
Würde ihm etwas Vergleichbares auch jetzt gelingen?
»Du bist mir in Lima entwischt«, unterbrach Captain Rodriguez Matts Gedanken. »Und in Cuzco noch einmal. Aber ein drittes Mal wird es nicht geben – weil es hier endet.«
»Lassen Sie ihn in Ruhe!« Es war Richard, der gesprochen hatte, und einen Moment lang richtete sich die Waffe auf ihn. Wenn er versuchte, sich auf Captain Rodriguez zu stürzen, würde der ihn erschießen und ihm vermutlich mit Genuss beim Sterben zusehen, bevor er Matt erledigte.
»Sie sind der Reporter?« Irgendwie hatte der Polizist ihn erkannt. »Wollen Sie als Erster sterben oder als Zweiter? Sagen Sie es ruhig, es lässt sich alles arrangieren.«
Matt versuchte verzweifelt, sich auf die Waffe zu konzentrieren. Warum konnte er es nicht? Welchen Sinn hatte seine innere Kraft, wenn er nicht wusste, wie er sie einsetzen sollte? Es hätte einfach sein müssen: Ein einziger Energiestoß, und die Waffe wäre bis ans Ende des Raumes geflogen. Genau wie der Mann, der sie in der Hand hielt.
Aber es passierte nicht.
Captain Rodriguez zielte auf sein Herz. Matt glaubte zu sehen, wie sich der Zeigefinger des Polizisten um den Abzug schloss. Doch dann trat Mr Fabian in die Schusslinie.
»Sie müssen ihn nicht töten«, sagte er.
»Aus dem Weg!«, befahl der Polizist.
Mr Fabian ging auf ihn zu. »Nein, nein, nein«, sagte er. »Das muss wirklich nicht sein. Sie brauchen niemanden zu erschießen. Wir haben gewonnen! Es läuft alles so, wie es sich señor Salamanda gewünscht hat. In einer Stunde werden die Alten da sein, und die Welt wird uns gehören. Tut mir Leid, Captain Rodriguez. Es ist mir egal, was Sie sagen. Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie Sie ein Kind erschießen.«
»Aus dem Weg!«, brüllte Captain Rodriguez.
»Nein!« Mr Fabian war bei ihm angekommen. Er schwankte – vom Trinken oder vor Erschöpfung. Aber er hatte sich zwischen den Polizisten und Matt gestellt, und seine Hand lag auf Captain Rodriguez’ Arm. »Señor Salamanda hat mir versprochen, dass dem Jungen nichts geschieht«, sagte er.
»Dann hat er gelogen!« Captain Rodriguez lachte kurz auf und drückte ab. Matt zuckte zusammen. Mr Fabian wurde zurückgeworfen, blieb aber irgendwie auf den Beinen. Er sah an sich herab. Blut sprudelte aus ihm heraus. Sein Hemd und seine Hose waren bereits damit getränkt. Dann brach er ganz plötzlich zusammen wie eine Marionette, deren Schnüre blitzschnell durchgetrennt worden waren.
Captain Rodriguez zielte zum zweiten Mal auf Matt.
Und dann gab es eine Explosion, viel lauter als ein Schuss.
Die Indios hatten den Sendemast gesprengt. Anscheinend waren sie nicht nur mit den Waffen ihrer Vorfahren in den Kampf gezogen. Einer von ihnen musste auch Sprengstoff mitgebracht haben. Durch die Glaskuppel konnte Matt genau beobachten, was als Nächstes geschah. Ein greller Lichtblitz zuckte auf, als der Mast in zwei Teile zersprang. Flammen schlugen hoch. Und dann löste sich die obere Hälfte des Mastes von der unteren. Sie kippte mitsamt drei der Satellitenschüsseln zur Seite. Und plötzlich kam das Oberteil des Mastes, so spitz wie ein Speer, genau auf sie zu. Matt und Richard hechteten in dem Augenblick zur Seite, als die Spitze die Glaskuppel durchbrach. Captain Rodriguez jedoch hatte sich nur auf Matt konzentriert. Er hatte nicht mitbekommen, was um ihn herum passiert war.
Eine halbe Tonne Stahlgerüst, Kabel und Satellitenschüsseln krachte in den Kontrollraum. Captain Rodriguez stand direkt unter der Glaskuppel. Ihm blieb nicht einmal mehr Zeit zum Schreien, als ihn die Mastspitze unter sich begrub. Matt hatte sich auf den Boden geworfen und schlitterte davon. Es kam ihm vor, als wäre der ganze Raum explodiert. Der Lärm war ohrenbetäubend. Hunderte von Splittern prasselten auf seine Schultern und auf seinen Rücken.
Es roch nach Feuer. Alles war dunkel geworden.
Dann kehrte Stille ein.
Zittrig versuchte er aufzustehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Einen Moment lang war er vor Angst wie gelähmt. War sein Bein unter dem Gewicht des Mastes zerquetscht worden?
»Richard!«, schrie er.
»Hier drüben!« Es hörte sich an, als wäre Richard weit weg.
Langsam rappelte Matt sich auf. Seinem Bein fehlte nichts. Er hatte nur ein paar Kratzer abbekommen. Auch Richard kam wieder auf die Beine. Er war mit Glasscherben übersät. Sie hingen in seinen Haaren und auf seinen Schultern, und er hatte eine Schnittwunde an der Stirn. Aber davon abgesehen fehlte ihm nichts.
Dann wurde die Tür aufgestoßen und Pedro kam angerannt. Er hatte seine Steinschleuder in der Hand und eine Wildheit im Gesicht, wie Matt sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Atoc war bei ihm. Matt stellte erleichtert fest, dass die beiden unverletzt waren.
»Es ist vorbei«, sagte Atoc. »Salamandas Leute sind geflohen. Der Mast ist zerstört. Von hier aus können sie nichts mehr senden.«
»Dann haben wir es geschafft!«, jubelte Matt.
»Wir haben gewonnen.« Atoc lächelte müde.
»Ihr irrt euch…«
Die Stimme kam aus dem Chaos. Matt sah an der Leiche von Captain Rodriguez vorbei und entdeckte Mr Fabian, der mühsam versuchte, sich aufzurichten. Er war sehr blass, und fast sein ganzer Anzug war blutgetränkt.
»Ich habe versucht, es dir zu erklären«, keuchte Mr Fabian. Er sprach mit ihm wie mit einem Kleinkind. Die Worte kamen sehr langsam. »Du hast von Anfang an falsch gelegen. Der Schwan…« Er holte mühsam Atem. »Zuerst haben sie ihn von hier aus gesteuert. Aber als er in Reichweite kam, hat Diego Salamanda die Steuerung selbst übernommen.«
»Wo ist er?«, stieß Matt hervor.
»In der Nähe von Qolga. Er hat ein fahrbares Labor. Er kontrolliert den Schwan. Sieh doch…«
Wie durch ein Wunder war der Plasmabildschirm mit den Sternen unversehrt geblieben. Die schwarzen Punkte waren noch zu sehen. Und der einzelne Punkt bewegte sich weiterhin. Er war jetzt bis in die Mitte des Bildschirmes gewandert. Schon bald würde er den unteren Rand erreicht haben. Die Digitaluhr zeigte 22:24:00 an. Ihnen blieben noch sechsundneunzig Minuten bis Mitternacht.
»Tut mir Leid«, schnaufte Mr Fabian. »Aber ich hab’s dir gleich gesagt. Du hattest gar keine Chance.«
Sein Kopf fiel zur Seite, und Matt wusste, dass er gestorben war.
»Was meint er damit?«, fragte Atoc.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Matt. »Der Teufel Salamanda ist in der Wüste. Er kontrolliert den Satelliten.« Matt zeigte auf den Bildschirm. Der Punkt hatte dort nur noch einen halben Meter zurückzulegen. Wie viele Kilometer waren das übertragen auf das Weltall? Matt konnte sich vorstellen, wie der todbringende Stern immer näher an sein Ziel zwischen den Bergspitzen heranrückte.
»Wir müssen ihn doch irgendwie aufhalten können«, sagte Richard. »Sonst war alles umsonst…«
»Wie weit ist Qolga von hier entfernt?«, fragte Matt.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ein paar hundert Kilometer. Mehr bestimmt nicht«, schätzte Atoc. »Und draußen steht ein Hubschrauber…«
Als Richard, Matt, Pedro und Atoc aus dem Kontrollraum stürmten, erwartete sie draußen eine schaurige Stille. Es war die Stille des Todes. Überall lagen Tote, einige von ihnen waren Indios, aber die meisten gehörten zu Salamandas Leuten. Brandgeruch durchzog die Luft. Die Überreste des gesprengten Sendemastes waren von einer Rauchwolke umgeben. Sie wichen Steinbrocken und Metallsplittern aus, die den Boden übersäten. Die Mauern waren von Einschusslöchern durchsiebt. Die gesamte Beleuchtung war ausgefallen, aber die Indios hatten Öllampen geholt und untersuchten in ihrem Schein die Toten und Verwundeten.
Die vier eilten zum Hubschrauberlandeplatz. Dort stellten sie dann fest, wie klein der Helikopter war. Die Zündschlüssel steckten, und Atoc wusste auch, wie man ihn flog, aber die Maschine bot nur Platz für einen Passagier. Doch wer würde mitfliegen? Sie hatten keine Zeit für Diskussionen.
»Ich gehe«, sagte Matt.
»Matt – «, begann Richard.
»Das ist mein Kampf, Richard. Ich habe ihn begonnen, und deshalb fliege ich mit Atoc.«
Pedro trat vor. Er hatte immer noch seine Schleuder in der Hand. Für Richard sah er damit aus wie David, der gegen Goliath antreten wollte.
Matt nickte. »Wir passen beide in den Sitz«, sagte er. »Pedro hat Recht. Er muss auch mitkommen.«
»Aber ihr seid doch noch Kinder!«, schrie Richard. Seine Stimme war heiser. Wahrscheinlich hatte er zu viel Rauch eingeatmet. »Allein könnt ihr das nicht schaffen!«
»Es muss so sein, Richard. Der amauta hat es vorhergesagt und hat wohl Recht gehabt.«
»Wir haben keine Zeit mehr«, drängte Atoc.
Es war zwanzig vor elf. Der Satellit würde bald in Position sein. Richard nickte. Matt und Pedro stiegen in den Hubschrauber.
Es dauerte fast fünf Minuten, bis der Motor auf Hochtouren lief. Endlich wirbelten die Rotoren den Sand auf, und der Hubschrauber wurde von einer Staubwolke verdeckt. Richard hielt sich einen Arm vors Gesicht. Er konnte kaum atmen.
Als der Hubschrauber abhob, riskierte Richard einen Blick und sah Matt und Pedro, die sich zusammen auf den Sitz gequetscht hatten. Matt wirkte ernster und entschlossener, als Richard ihn je erlebt hatte. Der Hubschrauber flog über den Zaun.
Ihnen blieb nur noch eine gute Stunde.