NACHT IN DER WÜSTE
Sie fuhren hinaus, als die Sonne unterging. Professorin Chambers saß am Steuer, Richard und Matt waren neben ihr. Atoc und Pedro saßen auf dem Rücksitz des Jeeps mit dem Stoffverdeck. Es war ganz schön unbequem. Der Geländewagen hatte eine so harte Federung, dass sie jede Unebenheit der Straße spürten.
Obwohl das Verdeck geschlossen war, drangen Staubwolken in den Wagen, die das Atmen erschwerten. Der Motor war ohrenbetäubend laut und ließ die Sitze vibrieren. Matt wurde durchgeschüttelt wie in einer übergroßen Waschmaschine.
»Ich wäre lieber tagsüber losgefahren«, rief die Professorin. »Aber alles in allem scheint unsere Zeit ein wenig knapp zu sein. Außerdem erleichtert es wahrscheinlich die Suche, wenn nicht alle zehn Minuten eine Flugzeugladung Touristen über unsere Köpfe hinwegdonnert.«
»Gibt es denn keine Wachleute?«, fragte Richard.
»Eigentlich schon. Aber es sind nur wenige, und der Wachmann, der dort draußen Dienst hat, schläft bestimmt. Außerdem habe ich einen speziellen Pass, der mir das Betreten der Wüste erlaubt… was man von señor Salamanda nicht sagen kann! Wenn ich ihn oder seine Leute dabei erwischen würde, wie sie auf den Linien herumtrampeln, dann würde ich ihm den Kopf abreißen. Und dabei wäre es mir vollkommen egal, für wie wichtig er sich hält.«
Matt warf einen Blick zu Pedro, der aus dem Fenster starrte, obwohl es draußen kaum etwas zu sehen gab. »Alles okay?«, fragte er.
Pedro nickte.
»Ihr solltet etwas schlafen«, sagte die Professorin. »Es könnte eine lange Nacht werden.«
Zwei Stunden später hielt sie an und sah auf ihre Karte. Die Sonne war mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden, aber am Himmel war immer noch ein rosiger Schein zu sehen. Die Professorin legte den Allradantrieb ein und drehte am Lenkrad. Sofort begann der Jeep, wie wild auf- und abzuspringen. Sie hatten die Straße verlassen und holperten nun über den felsigen Wüstenboden.
Sie fuhren eine weitere Stunde. Die Professorin schaute noch ein paarmal auf die Karte, aber sie wusste auch so recht gut, wohin sie wollte. Schließlich besuchte sie dieses Gebiet seit dreißig Jahren und kannte so ziemlich jeden Meter davon. Endlich hielt sie an.
»Das letzte Stück können wir zu Fuß gehen«, sagte sie. »Hinten liegen Spaten, Wasserflaschen, Sandwiches und – das Wichtigste von allem – Schokolade. Die peruanische Schokolade ist übrigens fantastisch. Kein Vergleich mit den mickrigen kleinen Riegeln, die man in England kriegt.«
Matt stieg aus.
Er nahm an, dass das große Rechteck irgendwo vor ihm lag, aber er konnte es nicht sehen. Dass es so schnell dunkel wurde, machte die Sache nicht gerade leichter. Jetzt verstand er, warum die Nazca-Linien derart lange unentdeckt geblieben waren. Vom Boden aus sah man nichts außer einer flachen, leeren Ebene. Er fühlte sich wie eine Ameise, die über eine Tischplatte kroch.
»Seht mal!«, rief Professorin Chambers.
Sie schaltete die Taschenlampe ein und richtete sie auf den Boden. Da waren Reifenspuren – ziemlich frische, wie Matt vermutete. Andererseits war die Wüste wahrscheinlich so ähnlich wie die Mondoberfläche, und Spuren blieben für immer. Die Professorin folgte den Reifenspuren ein Stück weit und schwenkte die Taschenlampe herum. Zwei Autos waren an diesem Ort gewesen, und man sah, wo sie angehalten hatten. Es waren zahlreiche Fußspuren zu erkennen. Offenbar waren mehrere Personen ausgestiegen.
»Das wird leichter, als ich dachte«, murmelte Professorin Chambers.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Richard.
»Das Gedicht sagt uns, dass wir vor Qolga suchen sollen. Wir sind jetzt vor Qolga. Und irgendwo in der Nähe muss… irgendetwas zu finden sein. Wie ich bereits erwähnte, muss es unter der Oberfläche verborgen sein, denn sonst hätte ich es längst gesehen. Ich habe damit gerechnet, dass wir die halbe Nacht graben müssen, aber das ist nicht der Fall. Wir brauchen nur den Fußspuren zu folgen. Señor Salamanda ist dümmer als ich dachte.«
Sie folgten den Fußspuren und kamen nach zweihundert Metern an eine Stelle, an der offensichtlich gegraben worden war. Die Erde war locker, und im Schein der Taschenlampe hatte sie eine andere Farbe.
»Hier ist es!«, sagte Richard.
»Ja.« Professorin Chambers gab ihm die Lampe. »Ihr vier könnt anfangen zu graben. Ich gehe zurück zum Jeep.«
»Wozu?«, wollte Matt wissen.
»Dumme Frage. Um Tee zu machen!«
Sie hatten vier Spaten zur Verfügung, und sie machten sich sogleich an die Arbeit. Es war mittlerweile dunkel, und man erkannte kaum noch etwas. Für Matt sahen die anderen aus wie Schatten. Nachdem er nur ein paar Minuten gegraben hatte, war seine Kehle voller Staub. Die feinen Körner brannten in den Augen und bedeckten seine Haare. Er spürte, wie der Schweiß schlammige Spuren über sein Gesicht zog. Pedro hatte das Graben aufgegeben und hielt für sie die Taschenlampe.
Aber die schon einmal umgegrabene Erde ließ sich leicht wegschaufeln. Schon nach wenigen Minuten hatten sie einen Graben von einem halben Meter Tiefe ausgehoben. Die Professorin war inzwischen mit dem Picknickkorb und einem kleinen Gaskocher wiedergekommen. Matt hörte das Zischen des Gases und dann das Geräusch, als die Flamme entzündet wurde. Der Professorin war es anscheinend egal, ob sie gesehen wurden. Andererseits war der kleine Kocher nur ein winziger Lichtfleck in der riesigen Leere der Wüste, und es war nicht anzunehmen, dass tatsächlich ein Wachmann in der Nähe war.
Atocs Spaten knallte auf etwas Hartes. »Hier muss etwas sein«, sagte er.
Richard und Matt hörten auf zu graben und gingen zu ihm. Er war auf eine Fläche gestoßen, die aus Ziegeln zu sein schien.
»Vorsichtig!«, rief Professorin Chambers. Hatte sie Angst vor dem, was sie finden würden? Oder wollte sie nur verhindern, dass Atoc womöglich etwas beschädigte, was von archäologischem Interesse war?
Hastig scharrten die vier mit den Seitenkanten ihrer Spaten die Erde weg. Professorin Chambers hielt die Lampe hoch, und es stellte sich heraus, dass sie eine Plattform aus Ziegelsteinen gefunden hatten, die in der Mitte mit einem Muster verziert war.
Professorin Chambers blickte genau hin und runzelte die Stirn. »Ich nehme an, das ist das Zeichen, von dem ihr mir erzählt habt«, meinte sie. »Das Zeichen der Alten.«
»Ja«, flüsterte Matt. Er schauderte. Plötzlich war ihm nicht mehr heiß. »Das ist ihr Zeichen.«
»Aber worauf wurde es gezeichnet?«, fragte Richard.
»Auf eine Plattform. Ungefähr fünf mal fünf Meter, würde ich sagen. Die Ziegel sind aus Andesit. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber dieses Zeichen! Pfeile und gewellte Linien – das ist eindeutig böse!« Die Professorin schüttelte den Kopf.
Pedro stellte eine Frage, die Atoc übersetzte. »Wofür ist die Plattform?«
»Wissen Sie es?«, fragte Matt die Professorin.
»Ich habe zumindest eine Vermutung.« Professorin Chambers ließ den Lichtkegel der Lampe noch einmal über die Plattform wandern. »Lasst uns Tee trinken, bevor wir das Loch wieder zuschaufeln«, sagte sie. »Und während wir eine Pause machen, können wir reden.«
Sie kehrten zum Gaskocher zurück. Professorin Chambers füllte fünf Becher mit heißem, süßem Tee aus Minzblättern, die sie in ihrem Garten gepflückt hatte. Abgesehen vom Zischen des Kochers herrschte in der endlosen Weite der Wüste absolute Stille.
»Ich werde versuchen, es verständlich zu erklären«, begann sie. »Ich habe euch schon vom Rätsel der Nazca-Linien erzählt. Und jetzt werdet ihr hören, zu welcher Lösung dieses Rätsels ich gekommen bin. Ich habe darüber vor einiger Zeit ein Buch geschrieben, aber nur wenige Leute haben mir geglaubt.« Sie verstummte einen Moment lang. »Vielleicht hat Diego Salamanda es gelesen. Und vielleicht bin ich deshalb zum Teil für das verantwortlich, was gerade geschieht.
Wie ich bereits sagte, habe ich die Linien schon fast mein ganzes Leben lang studiert. Ich war von Anfang an fasziniert von ihnen, und damals dachte ich noch, dass es an ihrer Perfektion liegt… ihrer Schönheit. Aber im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Ich kann nicht erklären, wie es passiert ist, aber irgendwann fing ich an zu glauben… dass etwas Böses an ihnen ist. Die Bilder der Tiere sind wundervoll, das will ich nicht abstreiten. Aber für die Menschen, die vor zweitausend Jahren gelebt haben, müssen sie Furcht einflößend gewesen sein. Riesige Spinnen, monströse Wale. Selbst der Affe ist grotesk mit seinen spindeldünnen Armen. An einer Hand hat er nur vier Finger. Was meint ihr, warum die Leute, die ihn gemacht haben, ihm einen Finger zu wenig gegeben haben?«
»Vielleicht konnten sie nicht zählen«, meinte Richard.
»Nein, das war es nicht. Aber in früheren Gesellschaften waren Missbildungen etwas, vor dem die Menschen Angst hatten. Vielleicht sollten all die Wüstentiere genau das bewirken, den Menschen Angst zu machen.«
Sie holte eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an. Vor dem schwarzen Nachthimmel schimmerte der Rauch silbern.
»Die meisten Forscher sind sich mittlerweile einig, dass die Nazca-Linien etwas mit den Sternen zu tun haben«, fuhr sie fort. »Vor langer Zeit habe ich Astronomie studiert, und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Linien nichts anderes sind als eine riesige Sternkarte.
Und so könnte sie funktionieren: Zu bestimmten Zeiten des Jahres zeigt eine der Linien auf einen Stern. Wenn man also auf einer der Linien steht und direkt vor sich einen Stern am Horizont erscheinen sieht, weiß man, welcher Tag ist und ob es somit an der Zeit ist, zum Beispiel das Getreide auszusäen. Aber später fing ich an, mehr darüber nachzudenken. Was würde passieren, wenn es einen Moment gäbe – vielleicht nur ein paar Minuten alle tausend Jahre –, in dem alle Linien auf alle sichtbaren Sterne zeigen? Also, das wäre…« Sie hielt inne. »Langweile ich dich, Matthew?«
Matt starrte nach oben. Seine Augen suchten den Nachthimmel ab. Anfangs hatte er zugehört, aber dann hatte ihn etwas abgelenkt. Doch er wusste nicht, was es war. Es gab keine Geräusche in der Wüste. Hatte er es sich nur eingebildet? Nein, da war es wieder, ein leises Flattern wie eine Fahne im Wind. Er lauschte angestrengt, aber es war schon wieder vorbei.
»Hörst du überhaupt zu?«, fragte Professorin Chambers.
Matt sah sie an. »Ja natürlich.«
»Gut. Jetzt wird es nämlich etwas kompliziert. Wie gesagt, habe ich mich gefragt, ob es möglich ist, dass die Linien auf alle Sterne zeigen. Aber wie würde man das herausfinden? Nun, man könnte sich in der Wüste auf den Rücken legen und ein Foto vom Nachthimmel machen. Dann bekäme man ein riesiges Blatt Papier mit lauter kleinen Punkten. Dann müsste man in ein Flugzeug steigen und die Linien von oben fotografieren. Ich war auf der Suche nach dem Zeitpunkt, an dem die Punkte auf dem ersten Bild genau auf die Linien im zweiten treffen… Natürlich würde so etwas nicht sehr oft passieren. Vielleicht sogar nie. Wenn man sie von der Erde aus betrachtet, scheinen sich die Sterne zu bewegen. Der Grund dafür ist natürlich, dass es die Erde selbst ist, die sich bewegt – sie dreht sich um ihre eigene Achse. Deswegen hat es den Anschein, als wären die Sterne nie exakt am selben Ort.
Und die Erde dreht sich nicht nur um sich selbst, sie kreist auch um die Sonne. Und dabei schwankt sie ein wenig. Astronomen nennen dieses Schwanken Präzession. Das alles läuft darauf hinaus, dass die Erde nur alle sechsundzwanzigtausend Jahre in exakt derselben Position ist.
Und wie ich anfangs sagte, habe ich den Verdacht, dass die Nazca-Linien als eine Art Warnung dienen sollen – das habe ich auch in meinem Buch geschrieben. Nehmen wir mal an, dass ihr einziger Zweck darin besteht, den Moment in sechsundzwanzigtausend Jahren aufzuzeichnen, an dem sie genau auf die Sterne ausgerichtet sind – und dieser Moment wäre etwas so Schlimmes wie das Ende der Welt. Das würde erklären, warum die Bilder so Furcht einflößend sind. Und dann gäbe es auch einen Grund dafür, dass sie gemacht wurden.«
»Und Sie glauben, dass die Linien übermorgen Nacht auf die Sterne ausgerichtet sein werden?«, fragte Richard.
»Bisher konnte ich meine Theorie nicht überprüfen, weil ich keine Beobachtungsplattform hatte. Immerhin ist diese Wüste fünfhundert Quadratkilometer groß! Ich hätte genau wissen müssen, wo ich mich aufstellen muss, um die Sterne in ihrer richtigen Position zu sehen.«
»Und das wissen Sie jetzt.« Richard schaute die Professorin fragend an.
»Allerdings…«
Plötzlich sprang Pedro auf.
»Pedro?« Joanna Chambers richtete ihren Blick auf den Jungen. »Cuál es el?«
Matt erhob sich ebenfalls. »Ich habe gerade eben etwas gehört«, sagte er.
Der Gaskocher brannte noch, und die kleine Flamme warf einen blauen Schein auf den Boden. Der Jeep stand, wo die Professorin ihn abgestellt hatte. Die Nacht war kühl geworden, und es wehte eine leichte Brise. Matt sah zum Himmel auf, zu dem Sternenmeer. Einen Moment lang glaubte er, zwei winzige grüne Lichter zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Es gab keine grünen Sterne.
»Das hast du dir eingebildet«, sagte Richard. »Hier draußen ist nichts.«
Unwillig setzten sich Matt und Pedro wieder hin. Sie konnten nicht wegfahren, solange sie ihre Spuren nicht verwischt hatten, und im Augenblick hatten sie noch keine Lust zu arbeiten.
»Die Plattform markiert die genaue Position, an der man sich aufstellen muss, um die Ausrichtung der Sterne zu sehen«, fuhr die Professorin fort. »Das steht auch in dem Gedicht, das du mir gezeigt hast:… vor Qolga wird ein Licht erstrahlen…«
» Und es wird das Ende allen Lichtes sein«, zitierte Matt die letzte Zeile.
Professorin Chambers nickte ernst. »Da hast du es wieder. Wir befinden uns vor Qolga. Und wir kennen auch die Zeit. In genau zwei Tagen. Inti Raymi.«
»Dann wird sich das Tor öffnen.« Matt schauderte.
»Aber wir wissen immer noch nicht, wo das Tor ist«, gab Richard zu bedenken. »Es gibt keine Steinkreise in der Wüste.«
»Wie kommen Sie darauf, dass es ein Steinkreis sein muss?«, fragte Joanna Chambers.
Plötzlich schrie Atoc auf und zeigte nach oben. Da waren sie wieder – zwei grüne Lichter, die über ihnen in der Luft funkelten und schnell näher kamen. Matt starrte in die Dunkelheit. Hinter den Lichtern war etwas Großes, Klobiges. Er konnte Flügel erkennen.
Ein widerwärtiges Kreischen ertönte. Matt warf sich flach auf den Boden, als ein riesiger Vogel auf ihn herabstürzte und die stahlharten Krallen nach seinem Gesicht griffen. Er spürte einen brennenden Schmerz in der Schulter und hörte, wie sein T-Shirt unter dem Angriff der Klauen zerriss. Dann drehte der Vogel wieder ab. In der Wüste herrschte eine unheimliche Stille, die nur vom Schlagen der Flügel unterbrochen wurde.
Matt rollte sich auf die Seite und stand benommen auf.
»Cuál era el?«, fragte Pedro.
»Das war ein Kondor«, sagte Professorin Chambers. »Aber das ist unmöglich. In diesem Teil von Peru leben diese Vögel nicht.«
Matt musste wieder daran denken, was der amauta in der verlorenen Stadt gesagt hatte.
»Die Vögel fliegen, wo sie nicht fliegen sollten.«
Kondore. In der Nazca-Wüste. Bei Nacht.
»Er kommt zurück!«, schrie Richard.
Wieder waren ein Schrei und das Schlagen der Flügel zu hören. Alle wichen entsetzt zur Seite, als der riesige Vogel erneut auf sie herabstürzte. Seine grünen Augen funkelten. Der Vogel war schwarz und grau und hatte eine dicke Halskrause aus weißen Federn, der Rest des Gefieders hing an ihm herunter wie ein zerlumpter Mantel. Der gebogene Schnabel war scharf wie ein Dolch, und er hatte seine messerscharfen Krallen nach ihnen ausgestreckt. Einen Moment lang war er direkt zwischen ihnen, und sie konnten den Luftzug seiner Flügel spüren. Es stank nach verrottetem Fleisch. Dann schwang sich der Kondor wieder in die Lüfte und verschwand in der Dunkelheit.
Richard schnappte sich den Gaskocher, als wäre es eine Waffe, obwohl er wusste, dass er mit der kleinen Flamme nicht viel ausrichten konnte. »In den Jeep!«, brüllte er. »Wir müssen hier weg!«
»Pass auf!«, schrie Matt.
Ein zweiter Vogel stieß herab und zielte auf Richard. Der Reporter ließ sich auf die Knie fallen, und die Klauen verfehlten seinen Kopf nur um wenige Zentimeter. Die gewaltigen Flügel schlugen durch die Luft und brachten die Flamme zum Tanzen. Wie der andere Vogel stank auch dieser nach Tod und Verwesung.
»In den Jeep!«, brüllte Richard noch einmal.
Ein dritter Kondor stürzte vom Himmel herab, dann ein vierter und ein fünfter. Plötzlich schienen die kreischenden Bestien überall zu sein. Atoc schrie. Einer war auf seiner Schulter gelandet. Matt sah wie gelähmt zu, als der Vogel den Kopf drehte und begann, Atoc Haut und Fleisch vom Hals zu reißen. Atoc versuchte, ihn wegzuschlagen, doch die Bestie ließ nicht locker. Blut strömte aus seinem Hals und durchtränkte sein Hemd. Matt rannte los. Er schnappte sich einen Spaten und schwang ihn mit aller Kraft. Das Spatenblatt knallte gegen den Vogel, nur Millimeter von Atocs Kopf entfernt. Der Vogel fiel zu Boden. Sein Genick war gebrochen, aber er wollte einfach nicht sterben. Er zappelte herum, und seine Flügel schlugen nutzlos. Sein Schnabel war rot von Atocs Blut.
»Matteo!«
Es war Pedro, der geschrien hatte. Ein weiterer Vogel war auf seinem Rücken gelandet und benutzte seine Krallen wie Ankerhaken. Das Biest hackte wieder und wieder auf Pedros Kopf ein, und jedes Mal verschwand der Schnabel in seinen Haaren. Pedro fuchtelte hilflos mit den Armen.
Richard rettete ihn. Mit einer Hand riss er den Vogel von Pedros Rücken, und mit der anderen Hand rammte er dem Kondor den Gaskocher ins Gefieder. Die blaue Flamme berührte die Federn, und der Vogel ging rasend schnell in Flammen auf. Er kreischte und kreischte, bis er auf dem Boden zusammenbrach, ein letztes Mal zuckte und dann stilllag.
Der Kocher war ausgegangen.
»Bist du okay?«, schrie Richard.
Pedro berührte seinen Hinterkopf. Als er die Hand wegnahm, hatte er Blut an den Fingern.
»Wir müssen zum Jeep…«
Professorin Chambers war schon dort. Bis jetzt war sie nicht angegriffen worden. Hektisch zerrte sie den Schlüssel aus der Tasche und warf sich auf den Fahrersitz. Als sie die Hand ausstreckte, um die Tür zuzuschlagen, kam ein weiterer Kondor herabgestürzt und peilte ihre Hand an. Sie schlug ihm die Tür vor dem Schnabel zu, rammte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.
Richard, Pedro und Matt waren jetzt alle mit Spaten bewaffnet. Sie blieben dicht zusammen, schlugen immer wieder nach den Kondoren und bewegten sich dabei langsam auf den Jeep zu. Matt stützte Atoc, der benommen war und die Hand auf seine Halswunde presste. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch. Der Motor brüllte auf, und der Jeep kam neben ihnen zum Stehen. Matt half Atoc auf den Vordersitz. Aus dem Augenwinkel sah er Richard mit dem Spaten zuschlagen. Er hörte ein Kreischen und den Aufprall eines weiteren Kondors auf dem Boden.
Irgendwie schafften es die drei ins Auto.
»Das ist unglaublich!«, rief Professorin Chambers.
»Bringen Sie uns hier weg!«, schrie Richard. »Wir können später darüber reden.«
Die Professorin trat energisch aufs Gaspedal, und die Räder des Jeeps drehten durch. Einen schrecklichen Moment lang dachte Matt, sie hätten sich festgefahren. Doch dann griffen die Räder, und sie schossen vorwärts.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Richard Atoc.
Der junge Mann nickte. »Es ist nicht so schlimm.«
»Ich habe Verbandszeug zu Hause«, sagte Professorin Chambers.
Der Jeep raste über die Ebene und ließ eine Staubwolke hinter sich zurück. Der letzte Kondor sah ihm nach und segelte dann zurück in die Dunkelheit, aus der er gekommen war.