DER SCHWAN

»Ich habe mich geirrt«, sagte Professorin Chambers. »Das verstehe ich nicht. Aber ich habe es mehrmals nachgerechnet.« »Was meinen Sie?«, fragte Richard.

»Die Sterne! Ich war so sicher, dass ich Recht habe. Aber ich habe sie mir angesehen, die Rechnung geht einfach nicht auf.«

Es war elf Uhr am Vormittag des nächsten Tages. Sie saßen im Garten, wo Matt, Pedro und Richard gerade ein spätes Frühstück genossen hatten. Alle drei fühlten sich ein wenig schuldig, weil sie wussten, dass die Professorin die ganze Nacht durchgearbeitet hatte – auch wenn sie kein bisschen müde aussah. Atoc war noch im Bett und erholte sich. Ein Arzt hatte seine Halswunde genäht und ihm eine Tetanusspritze und Penicillin verabreicht. Er hatte immer noch Schmerzen, aber er würde wieder gesund werden.

Pedro hatte mehr Glück gehabt. Der Schädel ist der stabilste Teil des menschlichen Körpers, und das hatte ihn vor der Attacke des Kondors geschützt. Ihm fehlten nur ein paar Haarbüschel, und er hatte auch eine Tetanusspritze bekommen, aber davon abgesehen ging es ihm ganz gut.

Matt hatte in der Nacht zuvor im Schlaf mit ihm gesprochen.

»Wo sind die Kondore hergekommen?«, hatte Pedro gefragt.

»Von den Alten«, hatte Matt geantwortet. »Sie haben die Gegend vor Qolga beschützt. Schon als wir ankamen, wusste ich, dass dort etwas nicht stimmte.«

»Es war kalt«, hatte Pedro gesagt.

»Ja. Kurz bevor sich eine Katastrophe ereignet, ist mir immer kalt.«

»Mir auch.«

Das Festland kam näher. Sie würden schon bald mit dem Boot anlegen.

»Der Seher… er hat gesagt, dass einer von uns getötet werden würde«, hatte Pedro gemurmelt.

»Es hat nur vorausgesagt, dass ein Junge fallen würde.«

»Du oder ich?«

»Keine Ahnung.« Matt zuckte die Achseln.

»Er hat auch prophezeit, dass einer von uns auf sich allein gestellt sein würde. Matteo, das werde ich nicht zulassen. Ich werde bei dir bleiben.«

Matt hatte geseufzt. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber ich habe das Gefühl, dass alles längst entschieden wurde.«

»Nein, Matteo. Für mich trifft niemand Entscheidungen. Wir sind es, die entscheiden.«

 

Matt wurde von der Professorin aus seinen Erinnerungen gerissen, die eine Reihe Computerausdrucke auf dem Frühstückstisch ausbreitete.

Es war ein warmer Sommertag. Die Vögel zwitscherten. Ein Gärtner mähte den Rasen. Und sie saßen zusammen und redeten über das Ende der Welt.

»Meine Berechnungen beruhen auf der Position der Plattform und der Position der Sterne an Inti Raymi«, fuhr Professorin Chambers fort. »Ihr erinnert euch, was ich gesagt habe? Meine Idee…?«

»Sie haben gesagt, die Sterne würden sich auf die Linien ausrichten«, antwortete Richard.

»Ich sagte auch, dass dies nur alle sechsundzwanzigtausend Jahre passiert. Und das Erstaunliche daran ist, dass es morgen Nacht fast so weit sein wird. Das ist wirklich unglaublich. Es ist genau das, was ich seit dreißig Jahren behaupte. Aber ein Stern fehlt. Ich habe mehrmals nachgerechnet, aber es stimmt. Ein Stern wird nicht zu sehen sein.«

»Welcher?«, fragte Matt.

»Cygnus. Er besteht eigentlich aus sieben Sternen und ist auch unter dem Namen Kreuz des Nordens bekannt. Er ist siebzigtausendmal heller als die Sonne, aber viel weiter weg als sie.

Alle anderen Sterne werden morgen Nacht am richtigen Ort sein. Aber von der Plattform aus wird Cygnus nicht zu erkennen sein. Er wird etwa dreißig Grad vom Kurs abgewichen sein und vom Mond verdeckt werden, anstatt zwischen den beiden Bergspitzen zu leuchten.«

»Das war’s dann also«, rief Richard aus. »Salamanda hat vollkommen grundlos das Tagebuch gestohlen und versucht, Matt umzubringen. Es spielt keine Rolle, wie reich und mächtig er ist. Nicht einmal er kann einen Stern verschieben.«

»Zu viele Sterne«, sagte Matt plötzlich.

»Was?« Richard schaute ihn fragend an.

»Das hat der alte Mann gesagt. Die Vögel fliegen, wo sie nicht fliegen sollten, und in der Nacht leuchten zu viele Sterne am Himmel. Dadurch wusste er, dass sich das Tor öffnen wird.«

»Also, mit dem ersten Teil hat er jedenfalls Recht gehabt«, gab Richard zu.

»Aber warum hat er gesagt, dass es zu viele sein würden? Professorin Chambers hat uns doch gerade erklärt, dass einer fehlt!«

Niemand antwortete darauf. Der Gärtner, ein fröhlicher Mann mit einem Strohhut, war mit dem Rasenmähen fertig. Jetzt verschwand er zwischen den Büschen, und sie konnten das Schnappen der Heckenschere hören.

»Der heilige Joseph von Córdoba hat vorausgesagt, dass sich das zweite Tor an Inti Raymi öffnen würde«, sagte Richard. Die Professorin beugte sich zu Pedro hinüber und übersetzte leise für ihn. »Vielleicht war er mit den Eroberern hier. Irgendwie hat er das Rätsel der Linien entschlüsselt, und das hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Diego Salamanda hat das Tagebuch gestohlen, weil er das Rätsel ebenfalls lösen wollte. Und er hat nicht aufgegeben! Er hat Matt durch ganz Peru gejagt, weil er Angst vor ihm hat. Es muss etwas geben, was er weiß, und wir nicht.«

»Qué hacia el pájaro en su sueño?«, fragte Pedro.

»Er fragt, was mit dem Vogel aus deinem Traum ist«, übersetzte die Professorin. »Was meint er damit?«, fügte sie hinzu.

»Ich wollte es Ihnen erzählen«, sagte Matt, »aber ich habe es nicht getan, weil ich nicht wusste, ob es etwas zu bedeuten hat. Ich hatte nämlich Albträume von einem Schwan.«

»Ich bin so dämlich!« Die Professorin schloss einen Moment lang die Augen. »Cygnus«, sagte sie. »Das ist lateinisch…«

Alle sahen sie an.

»… für Schwan«, beendete Richard den Satz für sie.

Die Professorin hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu mahnen. Matt konnte fast sehen, wie sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Ihre blauen Augen hatten nie lebhafter ausgesehen. Schließlich schaute sie auf.

»Hört mal«, sagte sie. »Ich dachte, die Linien wären eine Warnung, aber vielleicht ist das nur zum Teil richtig. Stellen wir uns vor, sie wären mehr als das. Du bist nach Peru gekommen, um nach einem Tor zu suchen. Wir wissen immer noch nicht, wo es ist. Aber wenn es geschlossen ist, muss es etwas geben, was es geschlossen hält.«

»Sie meinen… eine Art Schloss?«, vergewisserte sich Matt.

»Genau. Und wenn das stimmt, könnte es doch auch eine Art Kombinationsschloss sein.«

»Das kapier ich nicht«, sagte Matt.

»Es ist ganz einfach. Denk dir die Nazca-Linien als Zeitschloss. Sie halten das Tor geschlossen – dafür wurden sie gemacht. Nur wenn die Sterne richtig stehen, wird sich das Tor öffnen und die Alten freilassen. So funktioniert es.«

»Aber der Zweck des Tores ist doch, dass es sich nie öffnet«, sagte Richard.

»Stimmt«, bestätigte die Professorin. »Deshalb haben die Torhüter auch dafür gesorgt, dass die Sterne nie richtig stehen. Aber in zwei Nächten ist die Sternenkonstellation fast perfekt. Es wird nur einer fehlen – «

»Und Salamanda wird ihn ersetzen!«, unterbrach Matt sie. »Als ich in seinem Haus war, habe ich ihn belauscht.« Jetzt fiel ihm alles wieder ein. »Er hat etwas über einen silbernen Schwan gesagt. Und Koordinaten genannt. Er drang darauf, dass der Schwan rechtzeitig in Position sein müsste.«

Matt verstummte. Plötzlich war ihm alles klar.

»Ein Satellit«, sagte er.

»Allerdings«, bestätigte die Professorin. »Diego Salamanda hat erst vor einer Woche einen neuen Satelliten gestartet. Es hat in den Zeitungen gestanden. Und er wird ihn in genau die Position bringen, an der Cygnus eigentlich sein müsste. Der Satellit wird das Muster vervollständigen. Das Zeitschloss wird aktiviert. Und dann…«

»Dann wird das Tor aufgehen«, sagte Matt.

»Wir können ihn aufhalten!«, rief Richard.

Die Professorin schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, wie. Der Satellit ist schon im All. Salamanda wird ihn mit einem Sender steuern. Wenn wir die Frequenz kennen würden, könnten wir versuchen, sie zu blockieren, aber dazu brauchen wir die richtige Ausrüstung, und ich habe keine Ahnung, wie wir das schaffen könnten. Außerdem steht der Sender wahrscheinlich auf dem Firmengelände in Paracas, und da kommen wir niemals rein.«

»Wo ist Paracas?«, fragte Matt.

»Gar nicht mal so weit weg. Es liegt an der Küste, ungefähr fünfhundert Kilometer nördlich von hier.«

»Können wir hinfahren und es uns ansehen?«, wollte Matt wissen.

»Ja, aber ich bin schon ein paarmal daran vorbeigekommen, Matt, und ich kann dir versichern, um dort einzudringen, brauchst du die Unterstützung einer kleinen Armee.«

 

Salamandas Forschungs- und Telekommunikations-Zentrum in Paracas lag ein paar Kilometer von der Küste entfernt – eine hochtechnisierte Anlage mitten in der Wüste. Umgeben war sie nicht von einem, sondern von zwei Zäunen. Der erste war zehn Meter hoch, und obendrauf waren mehrere Reihen Stacheldraht. Am zweiten hingen leuchtend gelbe Schilder, die potenzielle Eindringlinge in drei Sprachen warnten. Der Außenzaun war elektrisch geladen. Der Raum zwischen den beiden Zäunen wurde Tag und Nacht von Wächtern mit Hunden kontrolliert. Zusätzlich standen an zwei Ecken Wachtürme mit Blick über die Wüste. Die einzige Zufahrt war ein elektrisches Tor. Dahinter befanden sich das Wachhäuschen und eine Schranke, die erst angehoben wurde, nachdem jeder Passagier kontrolliert worden war.

Die Anlage selbst bestand aus einer Ansammlung von niedrigen, hässlichen Bauten aus roten Steinen und Scheiben aus Spiegelglas. Die Wissenschaftler und Angestellten konnten zwar hinausschauen, aber niemand konnte hineinsehen. Überragt wurde das Ganze von einem Sendemast auf einem Metallgestell, dessen Satellitenschüsseln ins All gerichtet waren. Das daran angrenzende Gebäude war das modernste. Es hatte eine Glaskuppel in der Mitte des Daches, aber kein einziges Fenster. Vermutlich war es der Kontrollraum.

In der Nähe des Zaunes standen drei Reihen gleich aussehender, einfacher weißer Häuser. Matt vermutete, dass dort die Angestellten wohnten. Die Häuser waren um einen zentralen betonierten Platz errichtet worden, auf dem gegessen und Ball gespielt wurde. Sogar ein Fernseher auf einem Metallgestell stand dort und davor einige Holzbänke. Wahrscheinlich versammelten sich die Arbeiter abends draußen, um fernzusehen.

Ein paar von ihnen liefen über das Firmengelände. Sie trugen graue Overalls mit dem Kürzel SNI in Rot auf den Ärmeln. Matt hatte auch Leute in weißen Kitteln gesehen, von denen er annahm, dass es sich um Wissenschaftler handelte, sowie Männer in Anzügen. Elektrowagen, kaum größer als Golfkarren, fuhren zwischen den Gebäuden herum. Es gab auch einen Hubschrauberlandeplatz, auf dem ein kleiner schwarzer Helikopter stand. Bewaffnete Wächter in militärisch anmutenden Uniformen kontrollierten das gesamte Gelände, und Überwachungskameras drehten sich jedes Mal mit, wenn jemand vorbeiging.

Matt, Pedro, Richard und Atoc lagen in einiger Entfernung hinter einer Sanddüne und beobachteten die Anlage durch ein Fernglas, das Professorin Chambers ihnen geliehen hatte. Sie selbst wartete in Paracas. Atoc hatte einen Verband um den Hals und bewegte sich langsam, aber er hatte darauf bestanden, sie auf dieser Reise zu begleiten.

»Was meint ihr?«, fragte Richard.

»Die Professorin hat Recht«, sagte Matt. »Um da reinzukommen, braucht man wirklich eine kleine Armee.«

»Ja«, stimmte Atoc zu. »Und wir haben eine.«

 

Sie kamen bei Sonnenuntergang und waren Matts Ruf gefolgt. Es hatte sie vierundzwanzig Stunden gekostet, Peru zu durchqueren, mit dem Auto und dem Zug, aber jetzt waren sie da und versammelten sich am Strand von Paracas.

Das Indioheer war rund fünfzig Mann stark. Alle trugen dunkle Jeans und schwarze Hemden. Ihre Kleidung war modern, ihre Waffen und Rüstungen hingegen stammten noch von ihren Vorfahren. Auch wenn es sich dabei um tödliche Waffen handelte, fand Matt diese Zusammenstellung äußerst verwunderlich.

Einige der Indios trugen gepolsterte Baumwolljacken, andere Helme aus schwarzem Holz, das hart wie Eisen war. Mehrere hatten mit Hirschhaut bezogene Schilde dabei, und viele waren mit Keulen bewaffnet, an deren Ende ein sternförmiger Stein befestigt war. Ein Schlag damit konnte einen Schädel spalten oder ein Bein brechen.

Die Kämpfer hatten auch andere Waffen mitgebracht. Matt sah Speere, Steinschleudern und Hellebarden – eine Kombination aus Speer, Haken und Beil an einem langen Stiel. Ein paar hatten auch eine bola dabei, Kupferbälle, die an Lederbändern hingen. Richtig geworfen würden sie sich um den Hals des Opfers wickeln und es erwürgen.

Professorin Chambers hatte die Ankunft der Krieger mit stummem Erstaunen beobachtet. Die Männer sahen sich alle recht ähnlich – mehr indianisch als peruanisch. Und ihre Waffen waren unverkennbar. Sie setzte sich fassungslos auf einen Stein und fächelte sich Luft zu. Eine Krabbe kroch auf sie zu, und sie schob sie mit dem Fuß weg.

Rund fünfzig Männer standen schweigend am Strand. Hinter ihnen brachen sich die Wellen. Zwei Pelikane, die auf einem zerbrochenen Anleger saßen, musterten sie misstrauisch. Ein Flamingo geriet in Panik und ergriff die Flucht. Es war sonst niemand zu sehen. Vielleicht wussten die Menschen, was hier vor sich ging. Vielleicht waren sie gewarnt worden, sich fern zu halten.

Atoc hatte den Männern gesagt, was zu tun war. Er hatte mit ihnen in seiner eigenen Sprache gesprochen. Dann sah er Matt an. »Wir sind bereit«, sagte er. »Du bleibst hier bei Pedro, der Professorin und deinem Freund. Wir kommen zurück, wenn die Arbeit getan ist.«

»Nein.« Matt war von seiner energischen Widerrede selbst überrascht. Noch vor ein paar Wochen hatte er nicht einmal nach Peru reisen wollen. Aber seitdem hatte sich alles geändert. Er konnte nicht zulassen, dass die Indios seinen Kampf ausfochten. »Ich komme mit, Atoc. Ich habe diese Sache begonnen, und ich will dabei sein, wenn wir sie zu Ende führen.«

»Yo también«, sagte Pedro.

Einen Moment lang zögerte Atoc. Doch dann sah er etwas in Matts Augen, was vorher nicht da gewesen war, und er nickte langsam. »Wir werden dir gehorchen«, sagte er. »Denn es stimmt, was der amauta gesagt hat. Du wurdest geschickt, um zu führen…«

»Dann werde ich auch mitkommen«, sagte Richard. Matt drehte sich zu ihm um. »Das musst du nicht, Richard. Du kannst bei der Professorin bleiben.«

»So leicht wirst du mich nicht los.« Richard seufzte. »Ich habe es dir doch schon in York gesagt – mein Job ist es, auf dich aufzupassen, und genau das werde ich tun. Von mir aus bis zum bitteren Ende.«

»Dann lasst uns aufbrechen«, sagte Matt.

Er hob die Hand, und von diesem Augenblick an hatte er das Kommando über ein Heer, das zusammengekommen war, um seinen Befehlen zu gehorchen.

Salamandas Zentrum lag vor ihnen.

Gemeinsam zogen sie in die Schlacht.

Es war die Nacht von Inti Raymi.