EIN ZWEITES TOR

Die Straßen leerten sich bereits, als Matt nach Hause kam. Es war Sommer, und täglich strömten zahlreiche Touristen in die Stadt. Schon bald würde es in York mehr Besucher als Einwohner geben, aber das passierte in jedem Jahr.

Matt stand in der engen, mit Kopfsteinen gepflasterten Gasse und sah hoch zu der dreigeschossigen Wohnung über dem Souvenirladen. Hier war er eine Zeit lang glücklich gewesen. Bei Richard zu wohnen war komisch – der Reporter war mehr als zehn Jahre älter als er –, aber nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, war es irgendwie ganz gut gelaufen. Sie hatten einander gebraucht: Richard wusste, dass Matt ihm die Story geben konnte, die ihn berühmt machen würde, und Matt hatte niemanden, zu dem er sonst gehen konnte. Die Wohnung war gerade groß genug für zwei Menschen, und außerdem waren sie ohnehin den ganzen Tag nicht zu Hause. Am Wochenende gingen sie meistens wandern, schwimmen oder auf die Kartbahn. Matt versuchte, in Richard einen großen Bruder zu sehen.

Aber im Laufe der letzten Wochen hatte er sich immer unwohler gefühlt. Richard war nicht sein Bruder, und als die Erinnerung an ihr gemeinsam bestandenes Abenteuer zunehmend verblasste, schien es keinen vernünftigen Grund mehr zu geben, weiterhin zusammenzubleiben. Matt mochte Richard. Doch er konnte Richard keine Story liefern, mit der er eines Tages den Pulitzerpreis gewinnen würde. Matt fühlte sich Richard gegenüber wie ein Störfaktor, eine Karrierebremse. Deswegen hatte er vorgeschlagen, ins FED-Programm zurückzugehen. Bei einer normalen Familie irgendwo auf dem Land zu leben, konnte nicht allzu schlecht sein, egal, was Richard sagte.

Und es gab noch einen Grund, York zu verlassen. Matt fragte sich, ob die Schule schon bei Richard angerufen

und ihm gesagt hatte, was passiert war. Eigentlich gab es keinen Anlass dafür. Trotz Gavins Anschuldigungen hatte keiner der Lehrer ernsthaft geglaubt, dass er etwas mit der Explosion im Speisesaal zu tun hatte. Matt wusste es besser. Er hatte gespürt, wie die Kraft ihn durchströmte. Es war dieselbe Kraft gewesen, die in Omega Eins das Messer aufgehalten und die Fesseln gesprengt hatte, als er geopfert werden sollte. Aber diesmal war es anders gewesen. Diesmal hatte er seine Kraft gegen jemanden in seinem Alter gerichtet. Gavin war nicht sein Feind. Er war nur ein verzogener Junge.

Er konnte nicht länger in Forrest Hill bleiben. Noch eine Stichelei von Gavin, noch ein grässlicher Morgen mit Mr King – und was würde dann passieren? Matt hatte schon immer gewusst, dass er anders war. Er hatte etwas in sich, diese Kraft… Matt hatte sich Filme wie X-men und Spiderman im Kino angesehen und sich manchmal gefragt, wie es wohl wäre, ein Superheld zu sein und die Welt zu retten. Aber eine Sache unterschied ihn von den Leinwandfiguren: Matts Kraft war nutzlos, weil er nicht wusste, wie er sie einsetzen sollte. Und was noch schlimmer war, er konnte sie nicht kontrollieren. Wieder sah er das Blut aus Gavins Hand strömen und das Entsetzen in seinem Gesicht. Er hätte den Kronleuchter auch aus seiner Halterung reißen können – dann wäre Gavin davon erschlagen worden. Beinahe wäre das auch geschehen. Matt musste weg von Forrest Hill, weit weg, bevor ein schlimmeres Unheil passierte.

Hinter dem Fenster im ersten Stock bewegte sich etwas, und Matt sah Richard, der mit dem Rücken zum Fenster stand. Das war merkwürdig. Richard hatte zwar gesagt, dass er früher kommen würde, aber vor sieben Uhr war er eigentlich nie zu Hause. Der Herausgeber des Gipton Echo behielt ihn immer gern so lange wie möglich in der Redaktion – es könnte sich ja noch ein sensationeller Vorfall ereignen. Doch das passierte fast nie. Richard schien mit jemandem zu reden. Matt fand das ebenfalls ungewöhnlich, denn sie hatten äußerst selten Besuch.

Matt schloss die Tür auf und ging nach oben. Auf der Treppe hörte er die Stimme einer Frau. Er erkannte sie sofort. »In drei Tagen ist ein Treffen in London«, sagte sie. »Wir möchten, dass Sie kommen.«

»Sie wollen nicht mich. Sie wollen nur, dass Matt kommt.« »Wir wollen, dass Sie beide kommen.«

Matt stellte seine Schultasche ab, öffnete die Wohnzimmertür und ging hinein.

Susan Ashwood, die blinde Frau, die er in einem Vorort von Manchester kennen gelernt hatte, saß kerzengerade auf einem Stuhl und hatte die Hände vor sich gefaltet. Ihr Gesicht war blass, was durch die kurzen schwarzen Haare und die dunkle Brille noch betont wurde. Am Stuhl lehnte ein weißer Stock, doch sie war nicht allein gekommen.

Matt kannte auch den großen, dunkelhäutigen Mann, der ihr gegenüberstand. Er hieß Fabian und war jünger als Miss Ashwood, vielleicht Anfang dreißig. Matt war auch ihm schon begegnet. Er war es, der vorgeschlagen hatte, dass Matt bei Richard bleiben sollte, und der ihm einen Platz in Forrest Hill besorgt hatte. Wie üblich war Mr Fabian auffallend gut gekleidet, diesmal trug er einen hellgrauen Anzug mit Krawatte. Er setzte sich hin und schlug ein Bein über das andere.

Beide Besucher waren Mitglieder der Geheimorganisation, die sie Nexus nannten. Sie hatten von Anfang an beteuert, dass sie es als ihre Aufgabe ansahen, Matt zu helfen und ihn zu beschützen. Trotzdem war er nicht gerade begeistert, zwei von ihnen zu sehen.

Miss Ashwood hatte ihn wohl hereinkommen hören. »Matt«, sagte sie. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie konnte spüren, dass Matt den Raum betreten hatte.

»Was ist los?«, fragte Matt.

Richard ging vom Fenster weg. »Sie wollen was von dir.« »Das habe ich gehört. Warum?«

»Wie geht es dir, Matt? Wie ist die neue Schule?« Mr Fabian lächelte nervös. Er versuchte, freundlich zu klingen, aber Matt hatte schon beim Hereinkommen gespürt, was für eine angespannte Atmosphäre im Zimmer herrschte.

»Die Schule ist okay«, sagte Matt ohne jede Begeisterung. »Du siehst gut aus«, bemerkte der Besucher.

»Mir geht’s auch gut.« Matt setzte sich auf die Lehne der

Couch. »Warum sind Sie hier, Mr Fabian? Was wollen Sie von mir?«

»Ich denke, das weißt du…«

Mr Fabian verstummte, als fehlten ihm die Worte, um fortzufahren. Obwohl er Matts Leben verändert hatte, wusste Matt über ihn genauso wenig wie über die anderen Mitglieder des Nexus’.

»Als ich das erste Mal hier war, habe ich dich gewarnt«, sagte Mr Fabian. »Ich habe dir gesagt, dass wir an die Existenz eines zweiten Tores glauben. Du hast das erste im Wald von Lesser Malling zerstört, den Steinkreis, den man Raven’s Gate nannte. Aber das zweite ist auf der anderen Seite der Erde. Es ist in meinem Heimatland. In Peru.«

»Wo in Peru?«, fragte Richard.

»Das wissen wir nicht«, gab Mr Fabian zu.

»Wie sieht es aus?«, fragte Richard hartnäckig weiter.

»Das wissen wir auch nicht. Wir haben gehofft, dass wir nach allem, was hier in Yorkshire passiert ist, Zeit haben würden, das herauszufinden. Unglücklicherweise haben wir uns geirrt.«

»Das zweite Tor soll sich schon bald öffnen«, sagte Miss Ashwood. Aus ihrer Stimme war nicht der geringste Zweifel herauszuhören.

»Ich nehme an, dass Ihnen das gesagt wurde«, meinte Richard.

»Ja.« Miss Ashwood lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Von Geistern?«, fragte Richard mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja.« Susan Ashwood war ein Medium. Sie behauptete, mit Geistern reden zu können. »Glauben Sie mir immer noch nicht?«, fuhr sie fort. »Nach allem, was Sie gesehen und erlebt haben? Das erstaunt mich wirklich. Beim letzten Mal haben Sie nicht auf mich gehört. Diesmal müssen Sie es. Es kommt mir so vor, als wäre in der spirituellen Welt der Winter ausgebrochen. Alles ist kalt und dunkel. Ich habe das Flüstern der Angst gehört, und ich weiß, was es uns sagt. Das zweite Tor wird sich öffnen, und genau das müssen wir verhindern, sonst kehren die Alten zurück. Aus dem Grund möchten wir, dass Matt nach London kommt. Nur er hat die Macht, uns vor ihnen zu retten.«

»Matt geht zur Schule«, knurrte Richard. »Er kann nicht einfach in einen Zug steigen und sich eine Woche freinehmen.«

Matt sah aus dem Fenster. Es wurde schon dunkel. Richard schaltete das Licht ein. Licht und Dunkelheit.

Immer bekämpften sie einander. »Das kapier ich nicht«, sagte Matt. »Sie wissen nicht einmal, wo dieses Tor ist. Wie kann ich da helfen?«

»Wir sind nicht die Einzigen, die danach suchen«, antwortete Susan Ashwood. »Es hat eine merkwürdige Entwicklung gegeben, Matt. Du würdest es zweifellos als Zufall bezeichnen, aber ich glaube, auch diese Wendung war vorherbestimmt.«

Sie nickte Mr Fabian zu, der eine DVD hervorholte. »Darf ich Ihnen das vorspielen?«, fragte er höflichkeitshalber.

Richard deutete mit einer Hand in Richtung Fernseher. »Bedienen Sie sich.«

Mr Fabian legte die DVD ein und schaltete den Fernseher an.

Matt bemerkte, dass es um einen Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung ging. »Das haben wir letzte Woche aufgenommen«, erklärte Mr Fabian.

Die DVD begann mit der Einblendung eines in Leder gebundenen Buches, das auf einem Tisch lag. Es war offensichtlich sehr alt. Eine Hand kam ins Bild und begann, die dicken Seiten umzublättern.

Matt sah kunstvolle Zeichnungen und eine ungleichmäßige Schrift, die von einem Füller oder vielleicht sogar einer Feder stammte. Etwas Ähnliches hatte Matt schon in der Schule gesehen. Der Geschichtslehrer hatte ihnen Bilder von einem Gedichtband aus dem fünfzehnten Jahrhundert gezeigt, der in einer Burg gefunden worden war. Die Buchstaben waren derart sorgfältig gemalt gewesen, das jeder einzelne auf Matt wie ein kleines Kunstwerk gewirkt hatte.

»Manche Menschen bezeichnen dieses Buch schon jetzt als den Jahrhundertfund«, verkündete der Sprecher. »Es wurde vom heiligen Joseph von Córdoba geschrieben, einem spanischen Mönch, der 1532 mit Pizarro nach Peru reiste und den Untergang des Inkareichs miterlebte. Der heilige Joseph wurde später der verrückte Mönch von Córdoba genannt. Möglicherweise löst sein Tagebuch einige Rätsel.«

Die Kamera fuhr näher an die Seiten heran. Matt konnte einige der Worte erkennen, aber sie waren alle auf Spanisch geschrieben und sagten ihm nichts.

»Das Tagebuch enthält viele bemerkenswerte Prophezeiungen«, fuhr der Sprecher fort. »Obwohl es vor fast fünfhundert Jahren geschrieben wurde, beschreibt es im Detail das Aufkommen von Autos, Computern und sogar Satelliten im All. Auf einer der hinteren Seiten sagt es sogar eine Art Internet vorher, eingerichtet von der Kirche.«

Jetzt war auf dem Bildschirm eine spanische Stadt zu sehen, und Matt fiel besonders eine gewaltige Festung mit einem hohen Glockenturm auf. Umgeben war sie von schmalen Straßen und Märkten.

»Das Tagebuch wurde in der spanischen Stadt Córdoba gefunden. Man nimmt an, dass es auf dem Hof der damaligen Moschee vergraben wurde. Die Christen haben diese Mezquita in eine Kathedrale umgewandelt. Wahrscheinlich wurde das Buch bei Ausgrabungen gefunden. Danach ist es sicherlich mehrmals verkauft worden, bis es vom englischen Antiquitätenhändler William Morton auf einem Markt entdeckt wurde.«

Morton war um die fünfzig, hatte leichtes Übergewicht, silbergraues Haar und ein sonnengebräuntes Gesicht. Er schien einer von den Männern zu sein, die ihr Leben in vollen Zügen genossen.

»Ich wusste sofort, was es war«, sagte er. Sein Englisch klang sehr kultiviert. »Joseph von Córdoba war ein interessanter Bursche. Er ist mit Pizarro und den Konquistadoren – den spanischen Eroberern von Mittel- und Südamerika – gereist, als sie in Peru einfielen. Während er dort war, ist er über eine Art alternative Weltgeschichte gestolpert, in der Teufel und Dämonen eine signifikante Rolle spielen. Und er hat alles, was er darüber wusste, hier drin notiert.«

Er hielt das Tagebuch hoch.

»Viele behaupten ja, dass dieses Tagebuch nicht existiert«, fuhr er fort. »Es gibt sogar einige, die der Ansicht sind, dass der heilige Joseph nie existiert hat! Mir scheint, dass ich ihnen jetzt das Gegenteil bewiesen habe.«

»Sie haben vor, das Tagebuch zu verkaufen«, sagte der Sprecher.

»Ja, das stimmt. Und ich muss zugeben, dass ich schon ein oder zwei sehr interessante Angebote erhalten habe. Ein Geschäftsmann aus Südamerika – ich werde hier keine Namen nennen – hat bereits ein Gebot von mehr als einer halben Million Pfund abgegeben. Und auch in London gibt es einige Leute, die mich unbedingt treffen wollen. Wie es aussieht, wird es hier auf eine Auktion hinauslaufen…« Er leckte sich genüsslich die Lippen.

Die Kamera schwenkte wieder auf das Tagebuch. Weitere Seiten wurden umgeblättert.

»Wer es schafft, die vielen merkwürdigen Rätsel zu lösen, die oft unleserliche Handschrift und die Kritzeleien zu entziffern, dürfte eine ganz neue Mythologie entdecken«, leitete der Ansager das Ende des Berichts ein. »Der heilige Joseph hatte seine eigene, etwas verschrobene Sichtweise, und obwohl viele denken, dass er verrückt war, halten ihn andere für einen Visionär und ein Genie. Eines ist jedenfalls sicher: William Morton hat einen Glückstreffer gelandet. Für ihn ist dieses Buch eine wahre Goldgrube.«

Die Seiten wurden immer noch umgeblättert. Mr Fabian drückte die Pausetaste, und Matt holte tief Luft.

In der letzten Einstellung war die Kamera auf eine Seite gerichtet, die oben und unten mit winzigen Buchstaben voll geschrieben war. In der Mitte aber befand sich eine weiße Fläche mit einem merkwürdigen Symbol. Matt erkannte es sofort.

Er hatte es in Raven’s Gate gesehen. Es war in den Stein gemeißelt gewesen, auf dem er hatte geopfert werden sollen. Es war das Zeichen der Alten.

»Verstehst du es jetzt?«, fragte Mr Fabian und deutete auf das Symbol.

»Wir glauben, dass uns das Tagebuch verrät, wo das zweite Tor ist«, erklärte Susan Ashwood. »Vielleicht sagt es uns auch, wann und wie es sich öffnen wird. Aber du hast gehört, dass wir nicht die Einzigen sind, die sich dafür interessieren.«

»In der Sendung war von einem Geschäftsmann aus Südamerika die Rede«, sagte Matt. »Wissen Sie, wer damit gemeint war?«

»Wir wissen nicht einmal, in welchem Land er lebt, und William Morton verrät es uns nicht«, knurrte Mr Fabian.

»Und Sie sind die Leute aus London, die ihn treffen wollen«, stellte Richard fest.

»Ja, Mr Cole. Wir haben ihn sofort kontaktiert, als er seinen Fund publik gemacht hat.«

»Wir müssen dieses Tagebuch haben«, sagte Miss Ashwood. »Wir müssen das zweite Tor finden und es entweder zerstören oder dafür sorgen, dass es sich nie öffnet. Leider ist uns dieser Geschäftsmann – wer immer er auch ist – einen Schritt voraus. Seit diese DVD aufgenommen wurde, hat er sein Angebot vervierfacht. Er bietet William Morton jetzt zwei Millionen Pfund.«

»Sie könnten sicherlich mehr bieten«, meinte Richard. »Sie haben doch genug Geld.«

»Das haben wir dem Mann bei unserem letzten Gespräch auch gesagt«, berichtete Mr Fabian. »Wir haben angedeutet, dass er so ziemlich jeden Preis nennen könnte. Aber es ist nicht länger eine Frage des Geldes.«

»Er hat Angst«, sagte Miss Ashwood. »Anfangs begriffen wir nicht, wieso. Wir hatten den Eindruck, dass ihn der Interessent aus Südamerika unter Druck setzte. Wir dachten, dass er sich mit ihm schon auf einen Preis geeinigt hat und deshalb keine weiteren Verhandlungen führen dürfte. Aber dann haben wir gemerkt, dass wir mit dieser Vermutung falsch lagen.«

Sie verstummte.

»Er hat das Tagebuch gelesen«, sagte Matt.

»Allerdings. Er hat das Tagebuch seit fast einem Monat, und er hat reingelesen und dabei gemerkt, dass er genug Spanisch versteht, um zu begreifen, was drinsteht. Im Moment ist er in London. Wir haben jedoch keine Ahnung, wo, weil er sich weigert, es uns zu sagen. Er hat ein Haus in Putney, aber dort ist er nicht. Da hat es übrigens vor ein paar Tagen gebrannt – was durchaus mit dem Tagebuch zusammenhängen könnte. William Morton scheint jedenfalls untergetaucht zu sein.«

»Und wie nehmen Sie Kontakt zu ihm auf?«, fragte Richard.

»Das tun wir nicht«, sagte Susan Ashwood. »Er ruft uns an – per Handy. Wir haben versucht, die Anrufe zurückzuverfolgen, aber bisher ohne Erfolg. Bis vor kurzem sah es so aus, als würde er das Tagebuch an den südamerikanischen Geschäftsmann verkaufen und sich nicht einmal mit uns treffen. Aber gestern hat er doch wieder angerufen. Zufällig habe ich den Anruf entgegengenommen.« Miss Ashwood drehte den Kopf zu Matt. »Und ich habe dich erwähnt.«

»Mich?« Matt wusste nicht, was er sagen sollte. »Aber er kennt mich doch gar nicht…«

»Nein. Aber er weiß von den Fünf. Verstehst du? Er muss im Tagebuch etwas über euch gelesen haben, und die Tatsache, dass du einer von ihnen bist… er konnte es nicht fassen, als ich es ihm sagte. Aber wenigstens hat er eingewilligt, sich mit uns zu treffen. Er stellt allerdings eine Bedingung.«

»Er will, dass ich dabei bin«, sagte Matt.

»Er will dich zuerst treffen. Allein. Er hat uns einen Ort und eine Zeit genannt. Am Donnerstag, also in drei Tagen.«

»Wir bitten dich, dass du uns hilfst. Es sind doch nur ein paar Stunden«, sagte Mr Fabian. »Wenn William Morton dich sieht und dir glaubt, dass du einer der Fünf bist, verkauft er uns vielleicht das Tagebuch. Wer weiß, womöglich verschenkt er es sogar. Ich bin ziemlich sicher, dass er sich inzwischen wünscht, es nie gefunden zu haben. Er will es loswerden. Wir müssen ihm nur einen guten Grund nennen, es uns zu geben.« Er deutete auf Matt. »Du bist dieser Grund. Du brauchst dich nur mit ihm zu treffen. Sonst nichts.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann ergriff Matt das Wort.

»Sie sagen immer wieder, dass ich einer der Fünf bin«, stellte er fest. »Vielleicht haben Sie Recht. Ich verstehe das alles nicht, aber ich weiß, was in Lesser Malling passiert ist.« Er verstummte. »Ich will da nicht nochmal reingezogen werden«, fuhr er fort. »Das erste Mal hat mir gereicht. Jetzt möchte ich einfach mein Leben leben und in Ruhe gelassen werden. Sie sagen, dass es sich nur um ein Treffen in London handelt, aber ich weiß, dass es nicht dabei bleiben wird. Tut mir Leid, Sie werden William Morton ohne mich finden müssen. Warum bieten Sie ihm nicht einfach mehr Geld? Darum geht es ihm doch, oder?« »Matt – «, begann Susan Ashwood.

»Sie können mich nicht überreden. Ich bin mir sicher, dass Sie es auch ohne mich schaffen.«

Richard stand auf. »Ich fürchte, das war’s«, sagte er.

»Dass du hier bist, hast du dem Nexus zu verdanken«, fuhr Mr Fabian ihn an. Seine Augen wirkten noch dunkler als sonst. »Wir bezahlen deine Schule. Wir haben dir ermöglicht, hier zu bleiben. Vielleicht sollten wir diese Entscheidung noch einmal überdenken.«

»Wir brauchen Sie nicht!« Jetzt wurde auch Richard wütend.

»Natürlich.« Susan Ashwood erhob sich mühsam. »Mr Fabian hat kein Recht, Sie zu bedrohen. Wir kamen mit einer Bitte her, und wir haben eine Antwort bekommen. Matt, wir werden es wohl ohne dich schaffen müssen.« Sie streckte die Hand aus, und Mr Fabian reichte ihr den Arm. »Aber eines muss ich noch loswerden«, fuhr sie fort. Sie richtete ihre blinden Augen auf Matt, und die Traurigkeit in ihrer Stimme war echt. »Du hast eine Entscheidung getroffen, aber ich denke, dass du weniger Wahlmöglichkeiten hast, als du glaubst. Du bist eine Schlüsselfigur in der Prophezeiung, Matt. Über kurz oder lang wirst du das akzeptieren müssen.«

Sie gab Mr Fabian ein Zeichen, und die beiden verließen die Wohnung. Richard wartete, bis er die Haustür zuschlagen hörte, bevor er sich in einen Sessel fallen ließ.

»Ich bin froh, dass sie weg sind«, stellte er fest. »Ich finde übrigens, dass du dich richtig entschieden hast. Was für eine Unverschämtheit! Die wollten dich schon wieder in all das reinziehen! Na, das können sie vergessen.«

Matt sagte nichts.

»Du musst Hunger haben«, fuhr Richard fort. »Ich war einkaufen. In der Küche stehen drei prall gefüllte Tüten mit Lebensmitteln. Was hättest du gern?«

Matt brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. Richard hatte eingekauft? Nicht nur eine Packung Milch, sondern genug, um den ganzen Kühlschrank zu füllen? Das wäre das erste Mal. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wie überrascht er gewesen war, Richard zu Hause anzutreffen. »Was ist los? Wieso bist du so früh hier gewesen?«

Richard zuckte die Achseln. »Ich habe über das nachgedacht, was du heute Morgen gesagt hast. Über uns. Und mir ist klar geworden, dass du Recht hast. Ich kann mich nicht um dich kümmern, wenn ich jeden Tag nach Leeds muss. Also habe ich gekündigt…«

»Was?« Matt wusste, was Richard dieser Job bedeutet hatte. Er war völlig sprachlos.

»Ich wollte nicht, dass du wieder an diesem FED-Programm teilnimmst. Ich habe versprochen, mich um dich zu kümmern, und das werde ich von jetzt an auch tun. Ich kann mir genauso gut einen Job in York suchen.« Richard seufzte. »Außerdem war es doch gut, dass ich heute Abend hier war. Oder hätte es dir besser gefallen, mit den beiden vom Nexus allein zu sein?«

»Ist es wirklich in Ordnung, dass ich Nein gesagt habe?«, vergewisserte sich Matt.

»Klar. Wenn du William Morton nicht treffen willst, musst du es auch nicht tun. Du hast die Wahl, Matt.«

»Da ist Miss Ashwood aber anderer Meinung.«

»Sie hat keine Ahnung. Hier bist du sicher. Solange du in York bleibst, kann dir nichts passieren – von einer Lebensmittelvergiftung vielleicht mal abgesehen, denn ich werde jetzt kochen!«

 

Siebzig Meilen entfernt kam ein Mann namens Harry Shepherd gerade aus einer Autobahnraststätte. Er war ein paar Stunden zuvor in Felixstowe gestartet und auf dem Weg nach Sheffield. Als es dunkel wurde, hatte er angehalten, um etwas zu essen und eine Tasse Tee zu trinken. Als Fernfahrer war er verpflichtet, Pausen einzulegen. Außerdem mochte er diese Raststätte, denn hier gab es eine Bedienung, mit der er gern plauderte. Als er losfuhr, war es dunkel, und es hatte angefangen zu regnen. Er schaltete in den zweiten Gang und wollte wieder auf die Autobahn hinausfahren, als er sie entdeckte. Sie stand am Straßenrand und hielt den Daumen hochgereckt. Diese Geste war eindeutig: Sie suchte nach einer Mitfahrgelegenheit.

Leute, die per Anhalter fahren wollten, sah er nur noch selten. Es galt als zu gefährlich. Der Anhalter war eine Frau, und sie schien mittleren Alters zu sein. Sie trug einen Mantel, der nicht so aussah, als wäre er wasserdicht, und das nasse Haar hing ihr über den Kragen. Sie tat Harry Leid. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine Mutter, die allein in einer Einzimmerwohnung in Dublin lebte. Spontan nahm er den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse. Die Frau rannte auf die Beifahrertür zu.

Harry war klar, dass er gegen alle Regeln verstieß. Anhalter mitzunehmen, war streng verboten. Vor allem, wenn er Benzin transportierte. Aber eine Stimme in seinem Kopf forderte ihn auf, der Frau zu helfen. Er konnte es sich selbst nicht erklären.

Gwenda Davis sah, wie der Tankwagen zum Stehen kam. SHELL stand in großen Buchstaben auf dem silbernen Tank, der die Lichter der Raststätte reflektierte. Sie hätte schon längst weiter nördlich sein müssen. Es war ein Fehler gewesen, das Haus in der Eastfield Street ohne Geld zu verlassen. Sie hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, von jemandem mitgenommen zu werden. Ihr war klar, dass sie Rex McKenna enttäuschte. Sie hoffte nur, dass er nicht wütend auf sie war.

Aber jetzt hatte sie endlich Glück. Sie wischte sich den Regen aus den Augen und öffnete die Beifahrertür. Es war schwierig, in die Kabine zu klettern, aber sie schaffte es. Noch immer baumelte die Handtasche an ihrem Arm. Der Fahrer war ein Mann um die dreißig. Er hatte blonde Haare und ein albernes Schuljungengrinsen im Gesicht. Er trug einen Overall mit einem Firmenlogo auf der Brust.

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte er.

»Nach Norden«, sagte Gwenda.

»Bisschen spät, um so ganz allein noch unterwegs zu sein«, meinte Harry.

»Wohin fahren Sie?«, wollte Gwenda wissen.

»Sheffield.«

»Vielen Dank fürs Anhalten.« Gwenda schlug die Tür zu. »Ich dachte schon, ich würde die ganze Nacht hier stehen.« »Schnallen Sie sich an.« Der Mann lächelte. »Mein Name ist Harry.«

»Und meiner Gwenda.«

Gwenda tat, was er sagte. Sie sorgte aber auch dafür, dass der Sicherheitsgurt ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte. Sie hatte ihre Tasche mit der Axt neben sich, und beschloss, Harry damit niederzuschlagen, sobald sie langsamer wurden. Sie war zwar noch nie einen Tanklaster gefahren, aber mit Rex McKennas Hilfe würde sie auch das schaffen.

Immerhin hatte sie eine sehr gefährliche Waffe gegen Matt aufgetrieben: zehntausend Liter Benzin.