HOTEL EUROPA
Matt schreckte aus dem Schlaf. Er stöhnte leise und rollte sich enger zusammen, noch nicht bereit, der Realität ins Auge sehen. Er war total erschöpft und fühlte sich wie ausgehöhlt. Vielleicht lag es an der Zeitverschiebung. Aber wahrscheinlich war es eher der Schock über das, was am Tag zuvor passiert war. Seine Arme und Schultern schmerzten, und sein Mund war trocken.
Doch was hatte ihn geweckt? Ach ja – die Hand in seiner Tasche. Zu allem Überfluss wurde er jetzt auch noch ausgeraubt.
Er machte die Augen auf und sah einen dunkelhaarigen Jungen, der sich über ihn beugte. Der Junge fuhr erschrocken zusammen. Matt schrie ihn an und schubste ihn weg. Der Junge, der neben ihm gehockt hatte, verlor dadurch das Gleichgewicht und fiel hintenüber. Matt sprang auf.
»Was soll das?«, schrie er. »Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!«
Der Junge sagte keinen Ton. Kein Wunder – wahrscheinlich sprach er kein Wort Englisch. Matt sah auf ihn hinab und hatte das Gefühl, ihn irgendwoher zu kennen. Es kam ihm vor, als wären sie sich vor langer Zeit begegnet. Aber dann fiel es ihm wieder ein. Matt war im Auto gewesen, auf der Fahrt vom Flughafen. Es war der Junge, der mit den Bällen jongliert und sie verflucht hatte.
»No bacía nada. Sola intentaba ayudarte!«, sagte der Junge.
Er schien seine Unschuld beteuern zu wollen, aber Matt nahm ihm das nicht ab. Seine Augen – dunkelbraun und misstrauisch – sagten das Gegenteil, und seine Haltung erinnerte Matt an ein in die Enge getriebenes Tier, das jeden Moment angreifen konnte. Der Junge war nur Haut und Knochen. Er trug ein T-Shirt mit einem Werbeaufdruck für ein Produkt, das Inca Cola hieß, aber die Schrift war verblichen und der Stoff so abgenutzt, dass er Löcher hatte. Seine Jeans war starr vor Dreck, und eine Schnur um den Bauch verhinderte, dass sie runterrutschte. An den Füßen hatte er Sandalen aus schwarzem Gummi.
Der Junge stand auf und klopfte sich ab, als könnte er damit den Schmutz an seinem ganzen Körper loswerden. Dann sah er Matt vorwurfsvoll an.
»No he tomada nada.« Er zeigte seine leeren Hände zum Beweis. Er hatte tatsächlich nichts genommen.
Matt kontrollierte seine Taschen. Er hatte zehn Pfund aus England mitgebracht, und glücklicherweise steckten sie in seiner Hosentasche. Auch der Pass war noch in seiner Jacke. Das war wenigstens etwas. Der Junge sah ihn immer noch an, als wäre sein Stolz verletzt. Aber Matt war sicher, dass er, wenn er nur dreißig Sekunden länger geschlafen hätte, mit leeren Taschen aufgewacht wäre.
Er sah sich um. Er hatte zusammengesunken an einer niedrigen Steinmauer gelehnt, über sich ein zerrissenes Plakat, das ein Mobiltelefon bewarb. Das Ödland, das er überquert hatte, lag vor ihm, und hinter ihm war eine Reihe halb fertig gebauter Häuser. Sie sahen aus, als hätte man sie mit einem Messer in zwei Teile geschnitten. Drähte und Metallstäbe ragten dort auf, wo eigentlich die Dächer sein müssten. Das Gebiet wurde von hässlichen Bogenlampen beleuchtet. Noch herrschte Dunkelheit, aber es krochen schon die ersten grauen Strahlen des Morgenlichtes über den Himmel. Matt wollte auf seine Uhr sehen. Sie war nicht da. Der Junge trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Du weißt nicht zufällig, wie spät es ist?«, fragte Matt.
Der Junge streckte seinen rechten Arm aus. Matts Uhr war an dessen Handgelenk.
Es war fünf Uhr morgens. Matt hatte sie bereits am Flughafen auf die lokale Zeit umgestellt.
Er versuchte nicht einmal, sich seine Uhr zurückzuholen, und war ein wenig erstaunt, dass der Junge nicht weggerannt war und ihn seinem Schicksal überlassen hatte. Vielleicht war er neugierig auf den Touristen, der sich verirrt hatte. Noch dazu einer in seinem Alter. Vielleicht hoffte er auch, Geld zu bekommen. Nun, womöglich war er ganz nützlich – auch wenn er ein Dieb war. Immerhin war er Peruaner. Er kannte die Stadt.
Matt dachte nach.
Er musste Kontakt zum Nexus aufnehmen – vor allem zu Mr Fabian, der sicher schon nach ihm suchte. Das Problem war, dass niemand auf den Gedanken gekommen war, dass er und Richard getrennt werden konnten. Richard hatte Geld und Kreditkarten. Er hatte Telefonnummern, unter denen Mr Fabian Tag und Nacht zu erreichen war. Aber leider hatte er sie Matt nicht genannt.
Abgesehen von seinen zehn Pfund hatte Matt nichts. Wenn er herausfand, wie die Auskunft funktionierte, konnte er vielleicht die Nummer von Susan Ashwood erfragen… Aber auf Spanisch war das sicher sehr kompliziert. Und die Polizei? Sie um Hilfe zu bitten war naheliegend. Doch Matt bezweifelte, dass der peruanische Junge besonders scharf darauf war, ihm den Weg zur nächsten Polizeiwache zu zeigen. Vielleicht sollte er versuchen, Barranco zu finden, den Vorort, in dem Mr Fabian lebte. Weit entfernt war er bestimmt nicht.
Dann fiel Matt wieder ein, was ihr Fahrer Alberto gesagt hatte. Der Mann vom Nexus erwartete sie in einem Hotel. Wie hieß es doch gleich? Matt brauchte einen Moment, um seine grauen Zellen in Schwung zu bringen. Das Hotel Europa. Ja, das war es. Das Hotel Europa in Miraflores.
Der Junge wartete immer noch darauf, dass er etwas sagte. Matt tippte sich auf die Brust. »Matt«, sagte er. Diesem Jungen brauchte er keinen falschen Namen zu nennen.
Der Junge nickte. »Pedro.«
So hieß er also. Merkwürdig war nur, dass Matt seinen Namen schon gewusst hatte, bevor er ihn aussprach. Konnte er ihn gehört haben, als er noch schlief?
»Kennst du das Hotel Europa in Miraflores?«, fragte er. Pedro sah ihn verständnislos an.
Matt probierte es noch einmal, langsam und deutlich. »Ho-tel Eu-ro-pa.« Er zeigte auf sich.
»Hotel Europa?« Jetzt hatte Pedro es kapiert. »Sí…«
»Kannst du mir den Weg zeigen?« Matt deutete in Richtung Straße. »Verstehst du?«
Pedro hatte ihn verstanden. Aber er antwortete nicht. Matt sah die Zweifel in seinem Blick. Warum sollte er diesem ausländischen Jungen helfen?
Matt holte die zehn Pfund aus der Tasche. »Das kriegst du, wenn du mich hinbringst. Das ist viel Geld.«
Pedros Augen richteten sich auf die Banknote wie Laserstrahlen. Das war es, was er gesucht hatte. Er nickte. »Hotel Europa«, wiederholte er.
»Vamos.«
Die beiden machten sich auf den Weg.
Sie brauchten eine Stunde bis zum Hotel, einem modernen Bauwerk mit zwölf Stockwerken. Die Einfahrt führte kreisförmig am Eingang vorbei, an dem ein uniformierter Angestellter stand, um die frühmorgens ankommenden Gäste zu begrüßen.
Miraflores war einer der exklusivsten Stadtteile von Lima. Die Straßen waren ruhig und verliefen zwischen gepflegten Rasenflächen, auf denen vereinzelte Palmen und Springbrunnen standen. Es gab auch eine überdachte Ladenstraße mit teuren Geschäften und Restaurants, die ebenso gut nach London gepasst hätten. Der ganze Stadtteil lag auf einer Art Klippe. Weit unten bildete die See einen riesigen Halbkreis, und wer über das Wasser blickte, konnte den Rest der Stadt erahnen, der sich jetzt unter einer Dunstglocke verbarg.
HOTEL EUROPA. Eine Welle der Erleichterung durchflutete Matt, als er den Namen in großen weißen Buchstaben über der Eingangshalle sah. Und er bemerkte noch etwas. Anfangs war es ihm nicht aufgefallen, aber vor dem Hotel parkten zwei Polizeiwagen. Matt war sich absolut sicher, dass sie seinetwegen dort standen. Mr Fabian musste auf ihn und Richard gewartet haben, und als sie nicht aufgetaucht waren, hatte er Alarm geschlagen.
Matt setzte sich in Bewegung, doch Pedro hielt ihn am Arm fest.
»Ach ja.« Matt holte die Zehnpfundnote heraus und hielt sie dem Jungen hin. »Da, für dich. Und danke.«
»No!« Pedro sah verängstigt aus. Er zeigte auf die beiden Polizeiwagen und stieß ein Wort aus, das in fast allen Sprachen ähnlich klingt. »Policía!«
»Das ist schon in Ordnung, Pedro. Ich will mit ihnen sprechen.«
Aber Pedro war besorgt. Er schüttelte den Kopf und schien nicht gewillt, Matt gehen zu lassen.
Matt machte sich los und steckte sein Geld wieder ein. »Man sieht sich«, meinte er, obwohl er ziemlich sicher war, dass sie sich nie wieder sehen würden.
Er ging zur Einfahrt und ins Hotel. Der Türsteher warf einen kurzen Blick auf ihn und entschied dann, ihn einzulassen. Er war ein Kind, und er war schmutzig – aber er war offensichtlich Europäer oder Amerikaner. Insgeheim war Matt überzeugt, dass der Mann Pedro nicht einmal in die Nähe des Hotels gelassen hätte.
Matt betrat die Empfangshalle. Sie war riesig, und überall standen Ledersofas, antike Tischchen und gigantische Topfpflanzen. Spiegel verkleideten die Wände. Matt war noch nicht oft in einem Luxushotel gewesen, und schon gar nicht allein. Er fühlte sich unbehaglich in diesem riesigen Raum. Das Hotel Europa war der richtige Ort für reiche Touristen und Geschäftsleute, aber er war keines von beidem. Zwei förmlich gekleidete Frauen standen hinter dem Empfangstresen aus Marmor und sahen ihn mit einem Ausdruck aufgesetzter Höflichkeit an, als er auf sie zuging.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er.
»Ja?« Die jüngere der beiden Empfangsdamen hörte sich überrascht an, als gehörte Helfen nicht zu ihrer Job-Beschreibung.
»Mein Name ist…« Matt zögerte. Welchen Namen sollte er nennen? Er entschied, gar keinen anzugeben. »Ich war hier mit jemandem verabredet.«
»Mit wem, bitte?«
»Sein Name ist Mr Fabian.«
Die Empfangsdame tippte etwas in einen Computer ein, dessen Tastatur unter dem Tresen verborgen war. Ihre Nägel klickerten über die Tasten. Einen Moment später schaute sie wieder auf. »Es tut mir Leid. Hier wohnt kein Mr Fabian.«
»Vielleicht ist er kein Hotelgast.« Matt versuchte, nicht ungeduldig zu klingen. »Ich bin gestern erst angekommen. Ich war auf dem Weg hierher, um ihn zu treffen, aber ich wurde aufgehalten.«
»Woher kommen Sie?«
»Aus England.« Matt holte seinen Pass heraus.
Die Frau schlug den Pass auf und betrachtete den Namen unter dem Foto. »Paul Carter?« Sie sah ihn merkwürdig an, als hätte sie damit gerechnet, dass er kommen würde. Die andere Frau nahm einen Telefonhörer in die Hand und wählte eine Nummer. »Wo ist Ihr Bruder?«, fragte sie.
»Mein Bruder?« Matt begriff, dass sie Richard meinte. Er hatte also Recht. Sie wurden erwartet. »Ich weiß es nicht. Wo ist Mr Fabian?«
»Mr Fabian ist nicht hier.«
Die Frau neben ihr hatte jemanden am Apparat. Sie sagte etwas auf Spanisch und legte den Hörer dann wieder auf.
Eine Seitentür öffnete sich.
Vier Männer kamen heraus und marschierten auf Matt zu. Irgendwie hatte die Art, wie sie auf ihn zueilten, etwas Bedrohliches. Sie hätten auch aus einer Kneipe kommen können, angetrunken und gewaltbereit. Hätte Matt nicht die Polizeiwagen vor der Tür gesehen, dann hätte er die Männer für Soldaten gehalten. Sie trugen graue Hosen, die in den Stiefeln steckten, dunkelgrüne Jacken mit Reißverschluss und Schirmmützen. Ihr Anführer war ein riesiger Kerl mit einem dicken Bauch, einem buschigen Schnurrbart und pockennarbiger Haut. Er hatte schwarze Haare. Gab es in Peru überhaupt jemanden mit einer anderen Haarfarbe? Er hatte den Körperbau eines Schwergewichtsboxers. Seine Hände waren riesig. Alles an ihm wirkte brutal und übergroß, und Matt musste sich wieder ins Gedächtnis rufen, dass er kein Verbrechen begangen hatte, sondern die Hilfe der Polizei benötigte.
»Du bist Paul Carter?«, fragte der Polizist. Schon an diesen vier Worten merkte Matt, dass der Mann gut Englisch sprach. Er hatte zwar einen starken spanischen Akzent, aber seine Worte hatten einen gewissen Rhythmus. Und seine Stimme war erstaunlich sanft.
»Ja.«
»Mein Name ist Captain Rodriguez. Ich habe dich erwartet. Wo ist dein Freund…« Er lächelte höhnisch. »Ich meine Robert Carter.«
»Er ist nicht hier.«
»Wo ist er?«, fragte der Mann mit Nachdruck.
Matt wurde immer nervöser. Der Polizist hatte Richard seinen Freund genannt, nicht seinen Bruder – was er offiziell sein sollte. Außerdem hatte er die Namen ausgesprochen, als wüsste er längst, dass sie falsch waren. Pedro hatte ihn gewarnt, nicht ins Hotel zu gehen. Hätte Matt doch auf ihn gehört. So viel Feindseligkeit hatte er jedenfalls nicht erwartet. Der ranghöchste Polizist stand direkt vor ihm, und die anderen hatten ihn umstellt. Sie behandelten ihn nicht wie jemanden, der Hilfe brauchte, sondern wie einen gesuchten Verbrecher.
»Hat Mr Fabian Sie gerufen?«, fragte Matt.
»Mr Fabian? Wer ist Mr Fabian?«
»Hören Sie… ich wurde gestern Abend überfallen. Ich brauche Hilfe.«
»Dein Name ist Paul Carter?«
»Ja.« Matt brachte die Lüge kaum über seine Lippen. Der Polizist wusste, wer er war. Er hatte die Frage nur gestellt, um ihn auf die Probe zu stellen. Er griff sich Matts Pass und drehte ihn so angewidert um, als wäre er eine tote Ratte. Langsam schlug er ihn auf.
»Woher hast du das?«
»Das ist mein Reisepass.« Matt geriet in Panik.
»Dieser Pass ist eine Fälschung«, sagte der Polizist mit wütender Stimme.
»Nein…« Matt fühlte sich hilflos.
»Sag mir deinen richtigen Namen.«
»Den habe ich doch schon gesagt. Ich bin Paul Carter. Haben Sie mir nicht zugehört? Ich wurde gestern Abend überfallen. Die Männer waren bewaffnet. Sie müssen Mr Fabian Bescheid geben…«
Die beiden Empfangsdamen sahen die ganze Zeit zu, und ihre Augen waren vor Angst geweitet. Einer der Polizisten fuhr sie auf Spanisch an, und beide ergriffen die Flucht. Ein anderer stellte sich an die Eingangstür, um sicherzugehen, dass niemand von draußen hereinsah. Es war immer noch früh am Morgen. Die Hotelgäste schliefen. Es gab keine Zeugen für das, was als Nächstes passierte.
Der Mann, der sich als Captain Rodriguez vorgestellt hatte, schlug zu. Matt hatte kaum Zeit, die riesige Faust zu sehen, die von der Seite auf seinen Oberkörper zielte und ihn von den Füßen riss. Hätte er in den letzten zwölf Stunden etwas gegessen, dann hätte er sich jetzt übergeben müssen. Aber auch so rang er nach Luft, als er rücklings auf dem Boden aufschlug. Schwärze breitete sich vor seinen Augen aus. Es kostete ihn seine ganze Willenskraft, wieder richtig zu atmen. Er spürte den kalten Marmor an seiner Wange. Er half, die Schwärze zu vertreiben.
»Du lügst mich an«, sagte Captain Rodriguez, und Matt wusste, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Die Polizisten waren über ihn informiert. Sie hatten hier im Hotel auf ihn gewartet – vielleicht schon die ganze Nacht. »Hältst du mich für einen Idioten? Glaubst du, dass die Polizei von Peru deinen Respekt nicht verdient?«
»Nein…« Matt versuchte zu sprechen, aber er bekam immer noch nicht richtig Luft, und außerdem hatte er furchtbare Schmerzen. Er konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Trotzdem zwang er sich zum Sprechen. »Ich möchte…«, begann er. Er war britischer Staatsbürger. So durften sie nicht mit ihm umgehen, egal, was er ihrer Meinung nach getan hatte.
Captain Rodriguez holte fast beiläufig mit dem Fuß aus, und Matt schrie auf, als ihn der Tritt in die Rippen traf. Eine neue Welle des Schmerzes raste durch seinen Körper und er fragte sich, ob sie ihn hier, in diesem Luxushotel, umbringen wollten.
»Was möchtest du?«, quälte Captain Rodriguez ihn, indem er seine Stimme nachmachte. »Du möchtest gestehen? Das ist eine gute Idee, mein Freundchen. Sag mir endlich, wer du wirklich bist und was du hier willst. Sofort!«
Er holte wieder aus. Diesmal sah Matt den Stiefel kommen und schaffte es, sich wegzurollen. Er rollte immer weiter von seinem Peiniger weg, was die anderen Polizisten zum Lachen brachte.
Captain Rodriguez folgte ihm mit langsamen Schritten.
»Du hättest nicht herkommen sollen, Freundchen«, triumphierte er.
»Ich habe nichts getan.«
»Du hast keine Papiere. Keine Nationalität. Du bist illegal eingereist.« Der ranghohe Polizist bückte sich und packte Matts Haare. Er riss so grob daran, dass Matt aufschrie. Er spürte, wie ihm die Tränen übers Gesicht liefen. »Vielleicht bist du ein Terrorist. Du bist zwar jung, aber es gibt andere, die noch jünger sind. Bist du jetzt bereit, die Wahrheit zu sagen?«
Matt nickte. Was hätte er sonst tun sollen?
»Wo ist Richard Cole?«, fragte Captain Rodriguez.
Das Theaterspielen war also vorbei. Der Polizist halte gewusst, wer sie waren – und zwar von Anfang an.
»Wo ist er?« Der Mann zerrte noch stärker an seinen Haaren.
»Ich weiß es nicht!«, schrie Matt. Es fühlte sich an, als würde der Kerl ihm die Kopfhaut vom Schädel reißen. Blut lief aus seiner Nase und am Mundwinkel vorbei. »Er hat gesagt, dass wir uns hier treffen würden! Ich habe keine Ahnung, wo er hingegangen ist!« Das war nicht ganz die Wahrheit, aber das spielte keine Rolle. Matt musste irgendetwas sagen, damit er nicht weiter gequält wurde.
Er hörte ein Klingeln, dann ging die Fahrstuhltür auf. Ein Geschäftsmann erschien, wohl auf dem Weg zu einem frühen Termin. Er trat aus dem Lift und sah die vier Polizisten und den Jungen, der zwischen ihnen am Boden lag. Niemand sagte ein Wort. Der Geschäftsmann schluckte. Dann machte er kehrt und verschwand wieder im Fahrstuhl. Matt konnte sich vorstellen, dass er erst wieder Luft holen würde, wenn er sicher in seinem Zimmer angekommen war.
Aber wenigstens hatte Captain Rodriguez seine Haare losgelassen. Matt blieb liegen, wo er war – auf dem Fußboden ausgestreckt wie eine von diesen Umrisszeichnungen, die Polizisten immer machten, wenn eine Leiche gefunden wurde.
Captain Rodriguez hockte sich vor ihn und nahm sein Kinn in die Hand. Es sah fast so aus, als würde ein Vater seinen verletzten Sohn trösten, doch jedes seiner Worte war voller Verachtung. »Du bist wirklich ein dummes Kind«, murmelte er. »Du bist ohne Einladung in mein Land gekommen, und niemand kann dir helfen. Du bist wirklich Paul Carter. Jemand, der nicht existiert. Niemand weiß, dass du hier bist, und niemand wird merken, wenn du verschwindest. Genau das wird passieren, mein Freund. Wir haben hier Orte, die niemand kennt. Weit entfernte Gefängnisse, aus denen keiner jemals lebend herauskommt. Es wäre eine Leichtigkeit, dich umzubringen. Ich könnte dich jetzt töten und danach in Ruhe frühstücken, ohne je wieder einen Gedanken an dich zu verschwenden. Aber das ist nicht mein Auftrag, Matthew Freeman. Du wirst in einer Betonzelle unter der Erde lebendig begraben werden, und du wirst dort verrotten. Nie wieder wird jemand von dir hören.«
Er hob Matts Kopf ein wenig höher, sodass seine Lippen fast an Matts Ohr waren. Und dann folgten seine letzten Worte, die nur ein hasserfülltes Flüstern waren: »Diego Salamanda lässt dich grüßen.«
Er zog seine Hand abrupt zurück, und ein weiterer Schmerz durchzuckte Matts Körper, als sein Kopf auf den Marmorboden knallte.
Captain Rodriguez musste seinen Männern ein Zeichen gegeben haben. Die drei anderen Polizisten rissen ihn vom Boden hoch und schleiften ihn zur Tür. Matt versuchte nicht einmal, sich zu wehren. Er fühlte seine Füße, die mit den Zehen nach unten über den Boden scharrten. Alles war verschwommen. Zwar konnte er den Empfangstresen sehen und auch Captain Rodriguez, der davor stand, aber nur unscharf. Er wurde aus dem Hotel geschleppt. Der Türsteher war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich genauso schnell verzogen wie der Geschäftsmann aus dem Fahrstuhl. Matt fielen die beiden Polizeiwagen wieder ein, die draußen standen. Sie hatten auf ihn gewartet! Und er war völlig naiv in die Falle getappt!
Sie zerrten ihn zum ersten Wagen, und einer der Polizisten suchte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Matt wurde jetzt nur von zwei Polizisten gehalten. Hatte er noch genug Kraft, um sich loszureißen? Wahrscheinlich nicht. Sie hielten ihn zu fest. Was war mit seiner inneren Kraft? Matt dachte kurz an den explodierenden Kronleuchter in Forrest Hill. Es kam ihm vor, als wäre das Jahre her.
Er fragte sich, ob ihm jetzt etwas Ähnliches gelingen würde. Er brauchte nur seine Kraft anzuschalten, wie einen Motor. Dann könnte er den Polizeiwagen in die Luft sprengen, und die Polizisten würden davongewirbelt werden wie Puppen im Wind. Aber so einfach war das nicht. Es gab keinen Schalter, den er umlegen konnte. Welche Kräfte er auch besaß – er konnte sie immer noch nicht kontrollieren.
Doch plötzlich schrie einer der Polizisten auf und ließ ihn los. Matt sah, wie ihm Blut übers Gesicht lief. Hatte er das gemacht? Matt war so geschockt, dass er es einen Moment lang glaubte. Doch seinen Augen entging der faustgroße Stein nicht, der durch die Luft flog. Der zweite Polizist stolperte rückwärts und presste sich die Hand ins Gesicht. Matt war frei. Er fiel gegen den Wagen, blickte die Straße hinunter.
Pedro. Er hatte eine Steinschleuder aus einem schwarzen Material – Gummi oder Leder. Und er hatte sie schon zweimal mit atemberaubender Präzision eingesetzt und damit beide Polizisten getroffen. Aber ein dritter war noch unverletzt. Matt schrie eine Warnung, als der Mann zu seinem Halfter griff und seine Waffe zog.
Doch bevor er sie auf Schusshöhe gebracht hatte, setzte Pedro seine Schleuder ein weiteres Mal ein. Ein Stein flog durch die Luft und traf den Polizisten über dem Auge. Er fluchte und ließ seine Pistole fallen.
»Matt!« Pedro rief seinen Namen.
Matt sah zum Hoteleingang. Captain Rodriguez war aufgetaucht, alarmiert durch die Schreie seiner Männer. Er hatte seine Waffe in der Hand. Mit einem Blick erkannte er, was passiert war. Seine Männer waren verletzt. Der englische Junge aber war frei und lehnte an dem Wagen, mit dem er weggebracht werden sollte. Ein zweiter Junge war ihm mit seiner Steinschleuder offensichtlich zu Hilfe gekommen. Rodriguez zielte auf diesen Jungen.
Matt hechtete vorwärts und schnappte sich die heruntergefallene Pistole. Blitzschnell drehte er sich auf den Bauch und feuerte sechs Schüsse in Richtung Hotel ab. Er hatte keine Ahnung, ob er Captain Rodriguez getroffen hatte, aber er sah, wie der Polizist hinter einem geparkten Auto in Deckung ging. Hinter ihm zerplatzten die Glastüren des Hotels. Sofort ging eine Alarmanlage los. Matt ließ die Waffe fallen und kam schwankend auf die Beine.
Der erste Polizist, den Pedro getroffen hatte, erholte sich wieder. Matt warf ihm einen Blick zu, sammelte seine letzten Kräfte und holte mit dem Fuß aus. Er landete einen Volltreffer. Seine Zehenspitze traf den Mann genau zwischen die Beine, und der Polizist brach ohne den geringsten Laut zusammen.
Der nächste Stein flog vorbei. Einer der anderen Männer wurde zum zweiten Mal getroffen und torkelte gegen den Wagen. Der dritte Polizist war in Deckung gekrochen.
»Matt!«, rief Pedro wieder.
Noch mehr Ermunterung brauchte Matt nicht. Geduckt stolperte er vorwärts. Pedro wartete auf ihn, die Steinschleuder schussbereit, für den Fall, dass sie jemand verfolgte. Doch das tat niemand.
Pedro streckte die Hand aus und ergriff Matts Arm, und gemeinsam rannten sie davon, so schnell sie konnten. Die Alarmsirene schrillte immer noch. Der Lärm wurde durch das Sirenengeheul herbeigerufener Polizeiwagen verstärkt, die Sekunden später vor dem Hotel hielten. Captain Rodriguez war inzwischen wieder aufgetaucht, und sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Doch die Verstärkung kam zu spät. Die Straße war leer. Die beiden Jungen waren längst verschwunden.