DIE LETZTEN DER INKA

»Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin«, sagte Richard. »Seit dieser Katastrophe in Lima habe ich geglaubt, ich würde dich nie wieder sehen, und ich habe mir die Schuld dafür gegeben. Aber hier waren alle sehr nett zu mir.«

Richard hatte Matt zu dem kleinen Steinhaus auf einer der oberen Terrassen mitgenommen, in dem er lebte. Sie saßen im großen Hauptzimmer, in dem zwei Betten und ein Sofa standen und auf dessen Steinfußboden ein bunter Teppich lag. An den Längsseiten waren merkwürdig geformte Fenster, unten schmaler als oben – wie abgeschnittene Dreiecke. Ähnliche Fenster hatte Matt auch in Cuzco gesehen. Sie hatten keine Glasscheiben, und gab es auch keinen Strom oder fließendes Wasser. Abends wurden Kerzen angezündet. Am anderen Ende der Stadt floss ein Bach, und dort befanden sich die Toiletten und Badehäuser.

Man hatte den beiden Essen gebracht: große Schüsseln voll locro, eine Art Eintopf aus Fleisch und Gemüse. Sie waren unter sich.

Pedro war bei Atoc geblieben und ruhte sich jetzt wahrscheinlich in einem der anderen Häuser aus. Matt war froh, etwas Zeit mit Richard verbringen zu können.

Matt erzählte seine Geschichte zuerst, beginnend mit Pedro und ihrer ersten Begegnung. Dann schilderte er seinen Aufenthalt in der Giftstadt bis zu den Ereignissen auf der hacienda, der Reise nach Cuzco, ihrer nächtlichen Flucht durch die Straßen und verwinkelten Gassen, ihrer Rettung durch Atoc und ihrer mühsamen Reise bis zu diesem Ort. Die beiden hatten einen Krug Wasser bekommen. Als Matt mit seinem Bericht fertig war, hatte Richard den ganzen Krug geleert.

»Also ist Pedro auch einer der Fünf«, stellte Richard fest.

»Ja.«

»Und du redest in deinen Träumen mit ihm.«

»Stimmt.«

Richard seufzte. »Weißt du, was mir wirklich zu schaffen

macht? Ich glaube dir! Noch vor einem halben Jahr hätte ich dir ins Gesicht gelacht, wenn du mir eine solche Story aufgetischt hättest.« Er überlegte kurz. »Hat Pedro denn… du weißt schon… besondere Kräfte?«

»Nein, er ist ein ganz normaler Junge. Und er will mit all dem nichts zu tun haben.«

Richards Geschichte war schneller erzählt.

Nachdem er in Lima gefasst worden war, hatte man ihn dort in ein Haus gebracht, wo er zum ersten Mal mit seinen Entführern geredet hatte. Inzwischen wusste Matt, wer sie waren. Einer von ihnen war Atoc, und ein anderer war Atocs jüngerer Bruder Micos gewesen.

»Ich war richtig froh, dass du entkommen warst«, sagte Richard. »Ich dachte, an mir wären sie ohnehin nicht interessiert und würden mich wieder laufen lassen. Aber dann haben sie mir erklärt, dass sie auf unserer Seite sind. Sie hatten versucht, uns abzufangen, bevor wir in die Falle laufen und von der bestochenen Polizei aufgegriffen werden konnten.«

Matt schauderte bei dem Gedanken daran.

»Atoc und die anderen wussten längst, dass wir nach Peru kommen würden. Sie hatten uns erwartet. Das Problem war nur, dass Diego Salamanda und seine Leute es auch wussten. Die Indios mussten versuchen, ihm zuvorzukommen. Und sie waren sehr um dich besorgt, nachdem du ihnen entwischt warst. Sie haben seitdem nach dir gesucht. In ganz Peru waren Indios unterwegs, um dich zu finden. Mich haben sie mit dem Auto zu einem Privatflugplatz gebracht, dann mit dem Flugzeug nach Cuzco und schließlich mit dem Hubschrauber mitten ins Nirgendwo. Im Wolkenwald haben mich die Stechmücken fast aufgefressen, und auf dem Weg in die Schlucht hätte ich mich beinahe übergeben. Hatte ich jemals erwähnt, dass ich Höhenangst habe?«

»Nein.«

»Nun, seitdem bin ich hier. Sie haben mich freundlich aufgenommen, und das Essen ist sehr gut. Aber wie gesagt, ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Ich konnte es kaum glauben, als sie mir gesagt haben, dass sie dich in Cuzco gefunden haben. Diesen Geheimgang hätte ich zu gern gesehen! Vielleicht kannst du ihn mir eines Tages zeigen. Vielleicht auf dem Rückweg…«

»Wer sind diese Leute, Richard? Sie behaupten, dieser Ort wäre die verlorene Stadt der Inka. Aber es gibt doch keine Inka mehr, oder?«

»Eigentlich gilt das Volk als ausgestorben«, bestätigte Richard. Er hob den Krug, stellte fest, dass er leer war, und setzte ihn wieder ab. »Es sind die Nachfahren der wenigen Inka, die die Ausrottung ihres Volkes überlebt haben. Und die Stadt ist sozusagen ihr geheimes Hauptquartier. Ist dir der Pfad aufgefallen, der in die Schlucht hinabführt? Irgendwie gelingt es den Inka, ihn verschwinden zu lassen. Und Flugzeuge können dieses Tal nicht überfliegen, weil über ihm gefährliche Luftströmungen herrschen. Von diesem Ort wissen nur die Menschen, die hier leben – und jetzt auch du, Pedro und ich.«

»Und sie wollen uns helfen«, fügte Matt hinzu.

»Stimmt. Die Indios stehen auf der einen Seite und Diego Salamanda auf der anderen. Wenigstens wissen wir diesmal, wer der Feind ist.«

»Warum halten sie ihn nicht einfach auf? Schließlich wissen sie, wer er ist und wo sie ihn finden können.«

»Was sollen sie deiner Meinung nach tun? Ihn töten?«

Matt zuckte mit den Achseln. »Klar, warum nicht?«

»Dazu müssten sie erst mal an ihn rankommen, und er wird gut beschützt.«

»Sie könnten sich an die Polizei wenden.«

»Die gehört Diego Salamanda doch schon. Er ist einer der mächtigsten Männer Perus. Ein millionenschwerer Tyrann, und wenn er seine Geschäfte niederlegen sollte, geht das halbe Land den Bach runter. Nachrichten, Telekommunikation, Software… Erst letzte Woche hat er einen fünfzig Millionen Dollar teuren Satelliten ins All geschossen, den er aus eigener Tasche bezahlt hat. Er spielt Schach mit dem Präsidenten. Und zwar übers Telefon, und Salamanda hat allein für diesen Zeitvertreib eine separate Telefonleitung eingerichtet.«

»Wenn der Typ so reich und mächtig ist, warum will er dann das Tor öffnen? Was hat er davon?«

»Keine Ahnung. Vielleicht können die Alten seinen Kopf schrumpfen lassen. Vielleicht haben sie ihm das ewige Leben versprochen. Warum wollten die gruseligen Gestalten von Lesser Malling Raven’s Gate öffnen? Wenn du mich fragst, sind das alles Bekloppte.«

Richard verstummte. Von draußen drang die Musik einer Panflöte zu ihnen ins Zimmer. Sie hatte etwas Unheimliches. Matt sah aus dem Fenster in die Schlucht. Er hatte ganz vergessen, wie hoch oben sie waren. Der Abgrund schien kein Ende zu nehmen.

»Du hast gesagt, die Indios hätten schon auf uns gewartet. Doch woher wussten sie, dass wir kommen?«, fragte Matt.

»Atoc hat versucht, es mir zu erklären. Ich würde dir gern sagen, dass sie es in der Zeitung gelesen haben, aber es ist ein bisschen komplizierter. Die Inka wissen fast alles, was in Peru vorgeht. Ihre Leute leben im ganzen Land verteilt. Aber es ist noch etwas anderes im Spiel – sie benutzen Magie.«

»Magie?«

»Unter ihnen sind Männer und Frauen, die sie amautas nennen. Das sind Seher… du weißt schon, Menschen wie Miss Ashwood. Sie wissen von den Alten. Und von der Prophezeiung, in der dir eine zentrale Rolle zukommt. Vielleicht triffst du nachher einen von ihnen. Er ist schon älter. Ich habe etwas Zeit mit ihm verbracht, und ich habe gehört, dass er ungefähr hundertzwölf Jahre alt ist.«

Matt brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. »Sie wussten, dass ich komme«, wiederholte er. »Aber das wusste Diego Salamanda auch. Was meinst du, wer könnte es ihm gesagt haben?«

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Ich fürchte, dass es jemand vom Nexus war.«

»Ja, das ergibt Sinn. Ich hatte Mr Fabian angerufen und wollte mich mit ihm treffen, aber die Polizei war vor ihm da.«

»Ich habe keine Ahnung, wer es war, aber für mich ist Assistant Commissioner Tarrant der Hauptverdächtige. Erinnerst du dich an ihn? Das war der Polizist, der uns die falschen Pässe gegeben hat. Damit hat der ganze Ärger angefangen. Diese Pässe haben uns zu Kriminellen gemacht – und sie waren seine Idee.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«

Richard dachte kurz nach. »Wir müssen den Indios hier vertrauen. An den Nexus können wir uns jedenfalls nicht mehr wenden, so viel ist klar«, sagte er.

Matt nickte und gähnte, denn er war plötzlich todmüde.

»Du solltest dich ein Stündchen aufs Ohr legen«, riet Richard. »Du musst total erschöpft sein. Und danach kannst du dich waschen und diese Klamotten ausziehen. Ich muss gestehen, dass ich dich in dieser Aufmachung kaum erkannt habe. Du siehst echt albern aus.«

»Vielen Dank!«

»Und dann kannst du mich deinem Freund Pedro vorstellen. Bei Sonnenuntergang werden wir alle auf dem großen Platz erwartet.« Richard lächelte. »Die Indios feiern eine Party, und wir sind eingeladen!«

 

Matt schlief bis zum Nachmittag. Als er aufwachte, brachte Richard ihn zum Badehaus – genau genommen waren es eine Reihe von Holzkabinen in einem Steinbau, durch dessen Wände ein nie endender Schwall Wasser strömte. Das Wasser war eiskalt, aber sauber. Die Farbe konnte es allerdings nicht abwaschen, und Matt kam genauso braun heraus, wie er hineingegangen war, aber zumindest fühlte er sich erfrischt.

Man hatte ihm neue Kleidung gegeben. Die Indios, die in Vilcabamba lebten, kombinierten traditionelle und moderne Kleidungsstücke – oben Ponchos und Strickmützen, unten Jeans und Turnschuhe. Als Matt gebadet hatte, bekam er einen neuen Poncho, diesmal einen dunkelroten mit einem grünen Muster am Rand. Merkwürdigerweise war es ihm kein bisschen peinlich, solche Sachen zu tragen. Vielleicht hatte er sich in den letzten Wochen derart verändert, dass er selbst nicht mehr wusste, wer er wirklich war.

Dann wurden er und Richard zu einem Gebäude am Stadtrand gebracht, das mindestens doppelt so groß war wie die anderen. Überall waren Indios damit beschäftigt, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. Sie stellten Tische auf, entzündeten Feuer und trugen Tabletts voller Essen und Getränke nach draußen. Die Sonne war leuchtend rot und versank bereits hinter den Bergen unter ihnen. Für Matt war es eine ganz neue Erfahrung, die Sonne aus dieser Perspektive zu sehen. Normalerweise sah er zu ihr auf, aber jetzt schien er über ihr zu sein und konnte zusehen, wie sie in der Tiefe verschwand.

Das Gebäude, das sie betraten, war ein Palast. Das erkannte Matt, ohne dass man es ihm sagen musste. An jeder Seite der Tür stand ein Wächter, der zeremoniell in eine Tunika gekleidet und mit einem goldenen Speer bewaffnet war. Weitere Wächter standen auf dem Gang, der ins Palastinnere führte. Im hinteren Teil des Raumes stand ein Thron, auf dem ein Mann in einem langen Gewand saß, der einen Kopfschmuck und Goldscheiben als Ohrringe trug. Er war nicht viel älter als Richard, aber er strahlte eine solche Zuversicht und Ernsthaftigkeit aus, dass er auf Matt alterslos wirkte. Matt blieb stehen und verbeugte sich vor ihm. Anscheinend hatten die Indios einen Anführer.

»Willkommen, Matteo«, sagte der Mann in perfektem Englisch. Er hatte denselben Akzent wie Atoc. Das lag daran, dass Quechua seine Muttersprache war, die Sprache, die die Indios gesprochen hatten, bevor die Spanier kamen. »Mein Name ist Huáscar, und ich bin froh, dich endlich kennen zu lernen. Darauf warte ich schon lange, und mein Volk hat noch länger darauf gewartet. Nehmt bitte Platz.«

Vor dem Thron standen vier niedrige Stühle. Richard und Matt setzten sich. Einen Moment später kamen Pedro und Atoc durch einen Seiteneingang herein. Pedro hatte auch neue Kleider bekommen. Sein Poncho war hellblau. Er verbeugte sich vor dem Anführer und setzte sich neben Matt. Der vierte Stuhl war für Atoc.

»Auch du bist willkommen, Pedro«, fuhr Huáscar fort. Matt und Richard zuliebe sprach er immer noch Englisch, aber Atoc flüsterte Pedro leise die Übersetzung ins Ohr. »Uns bleibt nur noch wenig Zeit, und wir haben viel zu besprechen.«

Er hob eine Hand, und Diener brachten ihnen vier gefüllte Kelche, die sie vor den Gästen auf den Boden stellten. Der Anführer der Inka trank nichts.

»Vor knapp fünfhundert Jahren«, begann er, »ist eines der mächtigsten Reiche, die es je gab, untergegangen. Alles, was mein Volk geschaffen hatte, wurde von Francisco Pizarro und seinen Männern zerstört. Unsere Städte wurden niedergebrannt, unser Gold gestohlen, unsere Tempel entweiht und meine Vorfahren gnadenlos abgeschlachtet. Damit begann für uns eine dunkle Zeit.

Heute ist der Ruhm des Inkareichs fast vergessen. Unsere Städte sind Ruinen, und die Überreste sind zu Touristenattraktionen verkommen. Unsere Kunst ist in Museen weggeschlossen. Nur dieser Ort, Vilcabamba, blieb unentdeckt. Hier können wir leben, wie wir es einst taten. Wir sind die Letzten der Inka.«

Er verstummte. Atoc flüsterte noch ein paar Sekunden weiter und hörte dann auf. Pedro nickte.

»Aber wir haben unsere Kraft nicht verloren.« Der Anführer der Inka sah Matt direkt in die Augen. »Du hast nur einen kleinen Teil unserer geheimen Welt gesehen, nur einen Bruchteil des Goldes, das wir vor den Spaniern verborgen hatten. Wir leben nicht ständig hier. Wir können uns nicht vor der modernen Welt verstecken. Aber wir sind aus vielen Ländern Südamerikas angereist, um dir zur Seite zu stehen. Und wenn es zum endgültigen Kampf kommt, kannst du auf uns zählen. Und dafür sind wir bereit zu kämpfen – doch unsere Feinde sind tödlicher, als es die Eroberer jemals waren. Die Alten.«

Wieder hob der Anführer die Hand. Sofort betrat ein Mann den Thronsaal. Er stützte sich beim Gehen auf einen Stock. Sein Poncho war so grau wie er selbst. Er war nur noch Haut und Knochen. Richard stieß Matt an. Das war der amauta, von dem er gesprochen hatte.

»Sag es ihnen«, verlangte Huáscar.

»Bevor die Sonne dreimal auf- und wieder untergegangen ist, werden die Alten durch das Tor brechen, das vor. Anbeginn der Zeiten in Peru errichtet wurde«, sagte der amauta. Er sprach Englisch, und seine Stimme war erstaunlich kräftig. »Ich habe die Zeichen im Himmel und auf dem Land gelesen. Die Vögel fliegen, wo sie nicht fliegen sollten. In der Nacht leuchten zu viele Sterne am Himmel. Eine furchtbare Katastrophe steht der Menschheit bevor, und vielleicht werden all unsere Hoffnungen zerschlagen. Ein Junge wird sich den Alten entgegenstellen, und allein wird er fallen. Vielleicht wird er sterben. Das kann ich nicht sagen.

Aber es wird nicht alles verloren sein. Fünf haben sie einst besiegt, und sie werden es wieder tun. So lautet die Prophezeiung. Dieser Junge ist einer der Fünf. Und dieser auch.« Er zeigte erst auf Matt, dann auf Pedro. »Die anderen werden folgen, und wenn die Fünf zusammen sind, werden sie die Kraft haben, die Alten zu bezwingen. Dann wird die letzte große Schlacht geschlagen.«

Er verstummte.

»Sie sagen, dass sich das Tor in drei Tagen öffnen wird«, murmelte Richard. »Wissen Sie denn, wo es ist?«

Huáscar schüttelte den Kopf. »Wir haben in ganz Peru danach gesucht, es aber nicht gefunden.«

»Und wie soll’s jetzt weitergehen?«, wollte Richard wissen. Statt einer Antwort gab der Anführer Atoc ein Zeichen, der ein Blatt Papier herausholte und es vor sie legte. Matt erkannte es sofort. Es war die Seite, die Pedro aus dem Fotokopierer genommen hatte. Matt hatte sie in der hinteren Hosentasche seiner Jeans gehabt und fragte sich, wann Atoc sie an sich genommen hatte.

»Das ist unser einziger Hinweis«, sagte Atoc.

»Was steht da?«, fragte Matt und deutete auf eine Art Strophe.

 

Wenn eines Nachts

der weiße Vogel vor Qolga

seine Schwingen ausbreitet

und über die Erde fliegt,

dann wird ein Licht erstrahlen.

Und es wird das Ende allen Lichtes sein.

 

Und darunter konnten sie die Worte INTI RAYMI und die gemalte Sonne ausmachen.

Während Atoc übersetzte, schwanden Matts Hoffnungen. Das Blatt Papier war für Salamanda so wichtig gewesen, dass er eine Kopie davon gemacht hatte. Aber warum barg die Botschaft mehr Fragen als Antworten? Er hatte erwartet, dass die sechs Zeilen ihm alles sagen würden, was er über das Tor wissen musste. Doch jetzt wusste er genauso viel wie vorher.

Der alte amauta schüttelte den Kopf. »Inti Raymi…«, murmelte er.

»Inti Raymi ist der wichtigste Tag im Kalender der Inka«, erklärte Huáscar. »Es bezeichnet die Sommersonnenwende, wenn die Sonne am weitesten südlich des Äquators steht. Das ist am vierundzwanzigsten Juni der Fall. Heute ist der einundzwanzigste.«

Ihnen blieben also noch drei Tage, wie es der Seher vorausgesagt hatte.

»Ist mit Qolga ein Ort gemeint?«, fragte Richard. »Wissen Sie, wo der liegt?«

Der amauta warf einen Blick auf seinen Herrscher, bevor er antwortete. »Qolga ist ein Nazca-Wort, und – «, sagte er.

»Über Nazca haben sie auf der hacienda gesprochen«, unterbrach Matt ihn aufgeregt. »Salamanda und seine Leute. Sie haben gesagt, dass sie in der Nazca-Wüste nach einer Plattform suchen.«

»Die Bilder auf dieser Seite deuten tatsächlich stark auf die Wüste hin«, bestätigte der Huáscar. »Aber sie liegt auf der anderen Seite von Peru. Unsere nächsten Schritte müssen wir uns genau überlegen. Vielleicht hat diese Seite Diego Salamanda verraten, was er wissen wollte. Doch dann können wir herausfinden, was für Informationen sie birgt. In Nazca lebt eine Professorin, die sich seit Jahren mit der Gegend beschäftigt hat. Wenn es überhaupt jemanden gibt, der all dem einen Sinn geben kann, ist sie es. Ich werde sie nachher gleich anrufen und bitten, uns zu helfen.«

»Haben Sie hier einen Telefonanschluss?«, fragte Richard.

Zum ersten Mal lächelte Huáscar. »Dies ist eine uralte Stadt«, sagte er. »Wir sind hier sehr abgeschieden, aber wir leben trotzdem im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir haben Mobiltelefone und sogar eine Internetverbindung über Satellit. Also halten Sie uns bitte nicht für ein primitives Volk.«

Er erhob sich.

»Und dieses Volk möchte euch sehen«, sagte er. »Die Tatsache, dass zwei der Fünf in unserer Mitte sind, ist ein Grund zum Feiern – egal, was die Zukunft bringen mag.« Er hob die Hände. »Lasst das Fest beginnen.«

 

Es war inzwischen dunkel geworden, und unzählige Sterne standen am Himmel. Die ganze Stadt war voller Lichter und Musik, wobei die hohen Töne der Panflöten über das dumpfere Trommeln hinweghallten. Mehrere Lagerfeuer waren entzündet worden, Schweine wurden am Spieß gebraten, Hühner und Lämmer schmorten in Tontöpfen, in Kesseln brodelte Eintopf. Es duftete überall nach Köstlichkeiten, und aus den Feuern stiegen knisternde Funken auf.

Auf dem Festplatz waren mindestens fünfhundert Menschen versammelt – Männer, Frauen und Kinder. Andere sahen dem Spektakel von den höher gelegenen Terrassen aus zu. Viele der Indios waren zeremoniell gekleidet: Sie trugen Kopfschmuck aus Gold und Federn, leuchtende Gewänder, glänzende Schilde und Schwerter, Goldkragen und Armbänder, und filigran gearbeiteten Goldschmuck in Form von Pumas, Kriegern und Göttern. Es wurde getanzt. Viele aßen und tranken. Und alle wollten Matt und Pedro sehen, sie begrüßen und ihnen die Hand schütteln.

Die beiden saßen mit Richard an einem Tisch. Matt hatte Richard und Pedro miteinander bekannt gemacht, bevor das Fest begann.

»Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Pedro«, hatte Richard gesagt. »Vielen Dank, dass du dich um Matt gekümmert hast.« Pedro hatte genickt, obwohl Matt nicht sicher war, ob er Richard verstanden hatte.

Es wurde spät. Die Musik wurde lauter, und die Getränke flossen in Strömen. Matt beobachtete, wie Richard einen Kelch Wein nach dem anderen leerte. Warum sollten sie diese Stunden auch nicht genießen? Für eine Nacht waren sie in Sicherheit und unter Freunden. Matt dachte daran, was der Seher gesagt hatte. Das Tor würde sich in drei Tagen öffnen. Ein Junge würde sich den Alten entgegenstellen, und allein würde er fallen. Würde er das sein? Oder Pedro? Oder hatte der amauta jemand anderen gemeint? Was immer auch geschehen würde, Matt wusste genau, dass dies seine letzte Gelegenheit war, etwas Spaß zu haben, bevor er wieder den Gefahren ins Auge sehen musste, die draußen lauerten. Richard hatte ihm schon gesagt, dass sie am nächsten Tag abreisen würden.

Plötzlich brach die Musik ab, die Menschenmenge verstummte, und der Anführer trat auf die Terrasse vor seinem Palast. Er sprach wieder Englisch, und obwohl er seine Stimme nicht hob, waren seine Worte gut zu verstehen.

»Dies ist die Entstehungsgeschichte unserer Welt«, verkündete er. »Sie wurde von einer Generation zur nächsten weitergegeben.«

Er hielt inne. Irgendwo schrie ein Baby, bis seine Mutter es beruhigen konnte.

»Unseren Vorfahren zufolge gab es vor langer Zeit nur Dunkelheit. Das Land war kahl, und die Menschen lebten wie Tiere. Doch dann schickte der Sonnengott Inti seinen Sohn hinab zur Erde, um die Menschen zu lehren, wie man Felder anlegt und Häuser baut.

Manco Cápac landete auf der Sonneninsel im Titicacasee und wurde zum ersten Inka. Er reiste durch Südamerika, bis er in ein Tal in der Nähe von Cuzco kam. Hier stieß er einen goldenen Stab in den Boden, denn dies war der Ort, an dem er das Inkareich gründen wollte.

Viele Jahre lang regierte er weise, bis er in den Himmel zurückkehrte. Damals wurde nur ein einziges Abbild von ihm geschaffen. Es wurde in eine große Scheibe aus Gold eingraviert. Dieser Schatz, der uns so viel bedeutet, trägt den Namen Die Sonne von Inti. Als die Eroberer kamen, wurde sie versteckt und ist seitdem nicht mehr gesehen worden, obwohl viele versucht haben, sie zu finden.«

Er hob eine Hand. Auf der anderen Seite des Platzes setzten sich zwei Männer in Bewegung, die Fackeln trugen. Ihnen folgten acht weitere Indios, die eine gewaltige Sänfte schleppten. Darauf stand etwas Flaches, Rundes, das mit einem Tuch abgedeckt war. In der ganzen Stadt herrschte Stille, und alle beobachteten andächtig die Prozession. Die Träger setzten die Sänfte vor dem Tisch ab, an dem Matt und Pedro saßen.

»Warum wir heute feiern?«, rief der Anführer. »Schaut euch Manco Cápac an, und ihr werdet es verstehen.«

Das Tuch wurde heruntergezogen.

Einen Moment lang war Matt von der goldenen Scheibe geblendet und konnte nichts sehen. Sie schien von selbst zu leuchten und war fast so groß wie er. Sie war der Sonne nachempfunden, umgeben von goldenen Flammen. Matt blinzelte. Jetzt konnte er allmählich das Gesicht erkennen, das in das Gold eingraviert war. Was er sah, war schier unmöglich. Dieses Bild war hunderte von Jahren alt. Er hörte Richard neben sich nach Luft schnappen, und auf der anderen Tischseite sprang Pedro auf und wich entsetzt und ungläubig zurück.

Zwei identische Gesichter.

Es bestand kein Zweifel.

Die Scheibe zeigte ein Bild von Manco Cápac, dem Gründer des Inkareichs. Und gleichzeitig war es ein Bild von Pedro.