DIEGO SALAMANDA
Ica war ein kleines, geschäftiges Städtchen voller Staub und Verkehr. Als Matt aus dem Bus stieg, stellte er als Erstes fest, dass alle Häuser einen weißgelben Anstrich hatten. Es erinnerte ihn an eine Filmkulisse – vielleicht aus einem alten Western. Aber das hier war das reale Leben. Das bewiesen die Müllhaufen, die Wäsche, die auf Leinen über den Dächern flatterte, und die Graffitibilder an vielen Wänden. Überall hingen Werbeplakate für Nike und Coca-Cola und für Politiker und ihre Parteien. Auf Bänken saßen alte Männer und Frauen und blinzelten in die Sonne, Taxis überquerten den Marktplatz in einem wahnwitzigen Tempo, und Geldwechsler in grünen Jacken verfolgten die Touristen, die alles mit ihren Digitalkameras fotografierten. Wahrscheinlich hatten diese mehr gekostet, als die Einheimischen in einem Jahr verdienten.
Sebastian war mit den beiden Jungen auf den Marktplatz gegangen. Er kaufte ihnen Reis mit Gemüse und setzte sich zu ihnen auf den Bordstein, als sie hungrig das Essen hinunterschlangen.
»Ich mag diese Provinzkäffer nicht«, sagte er. »Lima ist zwar ein Dreckloch… aber da weiß man wenigstens, wo man ist und mit wem man es zu tun hat. Doch was diese Leute vom Land denken, ist mir ein Rätsel. Vielleicht denken sie gar nicht, es sind ja nur ungebildete Indios.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Matt.
»Was wir jetzt machen? Ich kann dir sagen, was ich jetzt mache, Matteo.« Sebastian zündete sich eine Zigarre an. Matt fiel auf, dass er ihn fast nie ohne eine Zigarre im Mund gesehen hatte. »Ich fahre nach Ayacucho. Wenn ihr es lebend bis dahin schafft, kommt zum Marktplatz. Dort werden Leute sein, die nach euch Ausschau halten. Sie werden euch zu mir bringen.«
»Ich dachte, Sie helfen uns, zur hacienda zu gelangen.«
Sebastian lachte abschätzig. »Ich habe dir schon genug geholfen. Außerdem hänge ich an meinem Leben. Ich zeige dir, wo sie ist, aber dann seid ihr auf euch allein gestellt.«
Nachdem sie aufgegessen hatten, ging er mit ihnen über eine Brücke bis an den Ortsrand des Städtchens. Auf dem Weg sprach er mit Pedro. Er schien ihm Ratschläge zu geben. Allmählich blieben die Häuser hinter ihnen zurück, und sie kamen an einen Sandweg, der von der Hauptstraße abzweigte.
»Nehmt diesen Weg. Bis zur hacienda sind es acht Kilometer«, sagte er. »Ich hoffe, dass du deinen Freund dort findest, Matteo, aber wie ich schon sagte, bezweifle ich es. Vielleicht sehen wir uns in Ayacucho wieder, obwohl ich auch das bezweifle. Aber ich hoffe es.«
»Ich dachte, Sie mögen mich nicht«, sagte Matt.
»Pedro meint, dass ich dich falsch eingeschätzt habe, dass du nicht so bist wie die anderen reichen Kinder aus dem Westen, die alles haben und nie an Leute wie uns denken.« Er zuckte die Achseln. »Außerdem bist du ein Feind der Polizei, und das reicht, um dich zu meinem Freund zu machen.«
Er griff in die Tasche und holte einen Stoffbeutel heraus.
»Ich habe etwas Geld für euch. Es sind hundert Soles. Das ist viel… umgerechnet fast zwanzig Pfund. Und bevor du mir dankst – es gehört Pedro. Er war es, der es gestohlen hat. Vielleicht hält es euch beide am Leben.«
Pedro sagte etwas auf Spanisch. Sebastian ging zu ihm und sprach lange auf ihn ein. Als er fertig war, strich er dem Jungen übers Haar. Plötzlich sah er traurig aus.
»Ich hatte mal einen Sohn«, sagte er. Sebastian schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken daran vertreiben. »Ihr wisst, wo ihr mich findet.«
Dann drehte er sich um und ging fort.
Matt sah Pedro an, der ihm zunickte. Sie konnten zwar immer noch nicht miteinander sprechen, aber sie schienen sich zunehmend besser zu verstehen. Gemeinsam gingen sie weiter.
Der breite Sandweg, den Sebastian ihnen gezeigt hatte, verlief zwischen Feldern hindurch, auf denen Mais und Rüben wuchsen. Auf den Weiden standen Rinder und fraßen das grobe, stachlig aussehende Gras. Die beiden Jungen hielten sich auf Sebastians Rat hin dicht am Wegrand, um blitzschnell in Deckung gehen zu können, falls sich ein Auto näherte. Einmal kam ein Lastwagen angerattert, und die beiden warfen sich unter einen niedrigen Busch, wo sie blieben, bis nur noch die Staubwolke des Lasters zu sehen war. Der Nachmittag war glühend heiß. Pedro hatte zwei Plastikflaschen aus einer Mülltonne geholt und sie mit Leitungswasser gefüllt, aber Matt bezweifelte, dass das ausreichen würde. Seine Flasche war außerdem undicht – er spürte, wie ihm das Wasser in die Hosentasche lief. Am liebsten hätte er sofort alles ausgetrunken.
Als der Laster außer Sicht war, standen sie auf und trotteten schweigend weiter. Matt hätte gern geredet – es gab immer noch so vieles, was er nicht begriff –, und es kam ihm verrückt vor, dass sie sich nur verständigen konnten, wenn sie beide schliefen. Sie waren zwei der Fünf. Er fragte sich, aus welchen Ländern die anderen drei wohl kamen. Die beiden Jungen und das Mädchen, die er am Strand gesehen hatte, waren hellhäutig und blond gewesen, aber sie konnten Russen, Skandinavier oder Marsmenschen sein. Und was würde passieren, wenn sie sich schließlich trafen? Würde das das Ende des Abenteuers sein oder der Anfang von etwas viel Schlimmerem?
So viele Fragen, doch Matt konnte nur schweigend weitergehen, während die Sonne auf seine Schultern brannte. Er hatte sich immer noch nicht an seinen Geruch gewöhnt, an den neuen Haarschnitt oder an die klebrige dunkle Tönung, die seine gesamte Haut bedeckte. Außerdem brachten ihn die schlecht sitzenden Gummisandalen dauernd zum Stolpern. Das Schlimmste aber war die Sorge um Richard. Er musste sich eingestehen, dass Sebastian wahrscheinlich Recht hatte. Die Chance, dass Richard auf der hacienda war, stand ungefähr eins zu einer Million. Aber Matt musste dem einzigen Hinweis nachgehen, den er hatte, denn er wusste nicht, wo er sonst suchen sollte.
Pedro blieb stehen und trank ein paar Schlucke Wasser. Matt tat es ihm nach und fragte sich, ob das peruanische Leitungswasser ihn krank machen würde. Pedro war natürlich daran gewöhnt. Er trank es schon sein ganzes Leben lang. Das Wasser war warm und schmeckte metallisch, aber Matt war das egal. Er musste sich erneut dazu zwingen, nicht alles auf einmal auszutrinken.
Für Pedro waren acht Kilometer wohl nicht viel, für ihn aber schon, vor allem bei dieser Hitze und in Sandalen, die ihn ständig ins Straucheln brachten. Ein Auto kam, diesmal aus der anderen Richtung, und die beiden mussten wieder in Deckung springen. Welche Sicherheitsvorkehrungen würden sie auf der hacienda erwarten? Sebastian hatte zwar nichts gesagt, aber ein so reicher und mächtiger Mann wie Diego Salamanda hatte sicher Wachpersonal.
Die Sonne ging allmählich unter, und eine kühle Brise kam auf. Matt taten die Beine weh, und er hatte nur noch ein paar Schlucke Wasser in seiner Flasche, als sie um eine Kurve kamen und Pedro plötzlich warnend die Hand hob. Sie hasteten zurück in ein Gebüsch und duckten sich. Direkt vor ihnen lag ein Haus – doch es war nicht nur ein Haus, sondern ein ganzer Komplex mit Scheunen, Lagerräumen, Stallungen und erstaunlicherweise auch einer Kirche aus weißem Stein mit einem hohen Glockenturm. Zu diesem Grundstück hatte sie der breite Sandweg hingeführt – und er endete hier. Zwei Steinsäulen und ein verschnörkeltes Eisentor bildeten den Eingang. Das Tor stand offen, aber sehr einladend wirkte es trotzdem nicht auf Matt.
Vorsichtig schlich er vorwärts und spähte um einen der Torpfosten. Alle Gebäude waren um einen Innenhof voller Blumen erbaut, in dessen Mitte ein kunstvoller Springbrunnen stand. Daneben wuchs eine riesige Akazie, die mit ihrer ausladenden Krone einen natürlichen Sonnenschutz darstellte. Vor einer der Scheunen stand ein Traktor. Ein weiß gekleideter Mann kam mit einer Schubkarre aus der Scheune. Abgesehen vom beruhigenden Plätschern des Springbrunnens war alles still.
»Matteo«, flüsterte Pedro. Er berührte Matts Arm und zeigte auf das Landgut.
Matt schaute in die Ferne und entdeckte einen Wachturm am äußersten Ende der Anlage. Genau in diesem Augenblick erschien ein Mann, der ein Gewehr auf dem Rücken hatte. Er blieb kurz stehen, zündete sich eine Zigarette an und ging weiter. Matt hatte also Recht gehabt. Diese hacienda lag zwar mitten im Nirgendwo, aber Diego Salamanda überließ nichts dem Zufall. Die Farm war bewacht, und Matt war klar, dass es noch weitere Sicherheitsvorkehrungen gab.
»Qué hacemos ahora?«, fragte Pedro.
»Wir warten.« Es war eindeutig, was Pedro gemeint hatte. Er wollte wissen, was sie jetzt vorhatten. Die Sonne verschwand bereits hinter den hohen Palmen, die neben dem Haus wuchsen. Bis es ganz dunkel war, würde es noch etwa eine Stunde dauern, aber die Schatten wurden schon merklich länger. Das würde helfen. Zwei dunkelhäutige Jungen in dunkler Kleidung. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, unbemerkt auf das Gelände zu gelangen.
Das Haus schien nicht bewacht zu sein. Drei breite Stufen führten auf eine Veranda, die ums ganze Haus herumführte. Auf dem Innenhof war niemand, und auch auf dem Wachturm bewegte sich nichts. Überwachungskameras? Matt hatte keine gesehen, außerdem bestand immer die Möglichkeit, dass sie bei diesem schwachen Licht ohnehin nicht funktionierten. Der Gedanke, dass Richard auf dieser Farm sein konnte – vielleicht nur wenige Meter von ihm entfernt – trieb ihn vorwärts. Er stieß Pedro an, und sie rannten geduckt durch das offene Tor, über eine Ecke des Innenhofes an die Seite des Hauses.
Niemand sah sie. Niemand schlug Alarm. Matt blieb atemlos stehen und drückte sich eng an die Wand unter der Veranda. Pedro war direkt neben ihm. Sehr glücklich sah er nicht aus. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Es ist Wahnsinn, was wir hier machen, und ich will nichts damit zu tun haben.« Aber er blieb trotzdem, und Matt war ihm dankbar, dass er nicht allein gehen musste.
Wo konnte Richard sein, und wie sollten sie ihn in einem Haus finden, in dem es von Wachen sicher nur so wimmelte? Keines der Gebäude sah wie ein Gefängnis aus, und nirgendwo war ein Fenster vergittert. Vielleicht in einem Kellerraum? Das war der wahrscheinlichste Ort. Aber zuerst mussten sie ins Haus einsteigen.
Das erwies sich als einfach. Aus der Nähe erkannte Matt, dass die Veranda tatsächlich ums ganze Haus herumführte. Das Gebäude hatte hohe, elegante Fenster in einem Abstand von etwa fünf Metern. Sie reichten fast bis zum Boden, und alle standen weit offen. Matt warf Pedro einen fragenden Blick zu. Er wollte ihm eine letzte Chance geben, sich zurückzuziehen.
Pedro nickte, was so viel wie »Ich komme mit« bedeutete.
Matt zog sich am Geländer hoch auf die Veranda. Über ihm erstreckte sich das Dach mit den schweren roten Ziegeln. Matt wartete, bis Pedro bei ihm war, und schlich dann die Veranda entlang.
Plötzlich hörte er Stimmen. In einem der Räume waren offensichtlich mehrere Personen. Matt gab Pedro ein Zeichen, und sie schlichen weiter, vorbei an bequemen Terrassenmöbeln und Töpfen aus Terrakotta. Sie kamen an eines der offenen Fenster. Auf der anderen Seite sprach ein Mann. Sehr vorsichtig spähte Matt um die Ecke.
Es war ein Esszimmer mit einem riesigen Tisch, der so aussah, als wäre er aus einem einzigen Baumstamm herausgearbeitet worden. Auch der Fußboden bestand aus Holz, und die Wände waren getäfelt. Ein eiserner Kronleuchter, der bestimmt eine Tonne wog, erleuchtete das Zimmer – allerdings nicht mit Glühbirnen, sondern mit mindestens hundert Kerzen, von denen jede ihre eigene Halterung hatte.
Am Tisch saßen drei Männer und eine Frau. Einen der Männer erkannte Matt sofort, und ihm rutschte das Herz in die Hose. Es war Captain Rodriguez, der Polizist, der ihn im Hotel Europa verprügelt hatte. Er war in Uniform. Die beiden anderen Männer trugen Anzüge und die Frau ein einfaches schwarzes Kleid. Alle drei hörten aufmerksam zu.
Der Mann, der sprach, saß in einem hohen Korbstuhl mit dem Rücken zum Fenster. Matt konnte nur seine Hand und ein Stück des Armes sehen, die auf der Stuhllehne lagen. Er hatte lange Finger und schien einen Leinenanzug zu tragen. Sein Englisch war gut, nur gelegentlich wählte er ein falsches Wort. Matt pfiff leise durch die Zähne, um Pedro aufmerksam zu machen, und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Leute im Zimmer. Warum sprachen sie Englisch? Wenn Matt lange genug zuhörte, würde er es vielleicht herausfinden.
»Es ist mir egal, was möglich ist und was nicht«, sagte der Mann. »Ich habe Ihnen meine Anweisungen gegeben, und Sie werden sie ausführen. Der Silberschwan muss in fünf Tagen… en la posición… in Position sein. Genau um Mitternacht. Dafür sind Sie verantwortlich. Ist das klar, Miss Klein?«
Die Frau nickte. »Es wird geschehen«, sagte sie. Ihr Englisch war deutlich schlechter, und sie hatte einen starken Akzent. »Aber ich brauche bald die…« Sie benötigte einen Moment, um auf das richtige Wort zu kommen. »Ich brauche die Koordinaten«, sagte sie.
Jetzt verstand Matt. Die Frau war Deutsche und sprach kein Spanisch. Der Mann dagegen konnte zwar Spanisch, aber kein Deutsch. Deswegen unterhielten sie sich auf Englisch.
»Sie bekommen die Koordinaten, sobald ich sie habe«, sagte der Mann. »Meine Leute waren in der Nazca-Wüste, aber bisher haben sie die Plattform nicht gefunden.«
»War die exakte Position im Tagebuch nicht angegeben?«
»Nein, nur ungefähr. Es kann sein, dass wir schon genug wissen, um den Schwan genau dort zu positionieren, wo er sein muss. Aber ich will kein Risiko eingehen. Wir müssen vorsichtig sein, und die Suche geht weiter. Hauptsache, Sie sind auf alles vorbereitet.«
»Natürlich, Mr Salamanda. Alles ist so, wie Sie es angeordnet haben.«
Mehr bekam er nicht mit. Matt klebte förmlich an der Wand neben dem Fenster, um nichts zu verpassen. Pedro war ein Stück hinter ihm. Deshalb hörte er die schweren Schritte auf dem Holzboden und erkannte, dass mindestens zwei Wachmänner auf ihrer Kontrollrunde auf sie zukamen. Sie waren noch außer Sicht, doch in wenigen Sekunden würden sie um die Ecke biegen.
Ihnen blieb nur ein Ausweg. Pedro stieß Matt vorwärts, und die beiden huschten am offenen Esszimmerfenster vorbei. Matt hoffte, dass sie in der Dämmerung keiner gesehen hatte, und wenn doch, dass keiner der Leute im Zimmer auf die Idee kam, dass sie hier nichts zu suchen hatten. Er hörte die Frau sprechen, als er am Fenster vorbeikam, und wünschte, er könnte noch länger bleiben und zuhören. Aber er und Pedro hatten sich in letzter Sekunde in Sicherheit gebracht. Kurz darauf tauchten die beiden Wachmänner auf. Sie trugen locker sitzende KhakiOveralls und hatten beide ein Gewehr über der Schulter. Die Veranda fanden sie leer vor.
Matt und Pedro hielten erst auf der Rückseite des Hauses wieder an. Dort befand sich ein kleiner, sehr gepflegter Garten mit schönen alten Bänken, die um einen Brunnen angeordnet waren. Genau in der Mitte stand ein Baum. Das Haus hatte zwei Seitenflügel, und Matt bemerkte, dass in diesen Trakten einige der oberen Fenster vergittert waren. Vielleicht waren das Gefängniszellen. Saß Richard womöglich in einer von ihnen fest?
Er musste irgendwie nach oben gelangen, und er fand auch eine Möglichkeit am anderen Ende des Gartens. Hier führte eine Holztreppe hinauf zu einer Galerie im ersten Stock. Doch bevor er sich bewegen konnte, tauchte ein dritter Wachmann auf der Galerie auf und ging auf die Treppe zu. Matt verfluchte sich. Hatte er sich wirklich eingebildet, er müsste nur das Landgut finden, seinen Freund befreien und dann wieder gehen? Warum hatte er nicht daran gedacht, dass der einflussreichste Mann von ganz Peru gut bewacht sein würde? Sebastian hatte Recht gehabt. Es war idiotisch, was sie hier taten. Noch schlimmer: Es war reiner Selbstmord. Sie würden geschnappt werden. Und man würde sie Captain Rodriguez übergeben. Und keiner von ihnen würde jemals wieder auftauchen – weder in Ayacucho noch sonstwo.
Pedro hatte offenbar das Gleiche gedacht. Herzukommen war eine blöde Idee gewesen. Er sah Matt an, der ihm zunickte. Sie würden sich versteckt halten und abwarten. Vielleicht war es im Schutze der Nacht sicherer, sich umzusehen.
Gemeinsam schlichen sie im Schatten der Gebäude durch den Garten. In den Zimmern brannte Licht, und Motten tanzten davor, aber zum Glück war die Außenbeleuchtung noch nicht eingeschaltet worden. Eine Tür führte in das Arbeitszimmer, das sie schon von der Vorderseite des Hauses aus gesehen hatten. Sie würden hindurchgehen und das Gebäude auf der anderen Seite wieder verlassen.
Sie betraten das Zimmer.
Matt sah sich neugierig um. Das Arbeitszimmer von Diego Salamanda war wirklich beeindruckend mit den wertvollen Wandteppichen und den teuren Läufern auf dem Boden. Plötzlich kam Matt ein Gedanke. Wenn dies Salamandas privates Büro war, bewahrte er hier vielleicht das Tagebuch des heiligen Joseph von Córdoba auf. Seit Richard verschwunden war, hatte er nicht mehr an das Tagebuch gedacht. Er hatte sich nur darauf konzentriert, seinen Freund zu finden. Aber wenn er zufällig darauf stieß? Wenn er es in die Hände bekam, konnte er es vielleicht als Druckmittel benutzen und es gegen Richard eintauschen. Der Nexus würde ausflippen – aber das war ihm inzwischen egal. Er wollte nur weg aus Peru – und zwar mit Richard.
Pedro hatte das Zimmer schon halb durchquert.
»Warte!«, zischte Matt.
Pedro blieb stehen und sah entgeistert zu, wie Matt anfing, den Schreibtisch zu durchsuchen. Es war ein hässliches Ding, schwer und klobig, mit einer eingearbeiteten Lederplatte und goldenen Ringen an den Schubladen. Matt zog an einem der Ringe. Die Schublade war unverschlossen, aber sie quietschte dermaßen beim Aufziehen, dass man es sicher im ganzen Haus hören konnte.
»Qué estás haciendo?«, zischte Pedro. Was machst du?
»Das Tagebuch…«, antwortete Matt, und Pedro schien ihn zu verstehen.
Pedro ging zur Wand hinüber, an der Regale über einem Fotokopierer hingen. In einigen standen Bücher, doch bevor er sie sich ansehen konnte, fiel sein Blick auf ein Blatt Papier, das auf dem Kopierer lag.
»Matteo«, flüsterte er.
Matt verließ den Schreibtisch – die meisten Schubladen waren leer, und in den anderen war nichts Wichtiges. Er ging zum Fotokopierer und nahm das Blatt Papier in die Hand. Es war voller Text und sah aus, als wäre es mit einem Füller oder sogar einer Feder beschrieben worden. Ob es aus dem Tagebuch stammte? Matt fluchte leise, weil die Worte auf Spanisch waren. Er verstand kein Spanisch, und Pedro konnte nicht lesen. Also konnte er ihm auch nicht übersetzen, was dort stand. Sie hatten nicht das Geringste erreicht.
Er faltete das Papier zusammen und steckte es in die Tasche. Vielleicht konnte er später versuchen, es zu entziffern.
Etwas bewegte sich an der Tür.
Pedro hatte es zuerst gesehen. Er blieb wie angewurzelt stehen, und seine Augen wurden riesengroß. Matt sah Pedros Gesicht, drehte sich um und erstarrte. Ein Schauder durchfuhr ihn, fast so stark wie ein Stromschlag. Er spürte ihn durch seine Arme und seinen Nacken fahren.
Er konnte den Mann nicht sehen, der an der Tür im Dunkeln stand. Aber er konnte seine Form erkennen und den unnatürlich großen Kopf, der zweimal so lang war, wie er sein sollte. Der Mann hielt sich am Türrahmen fest, und Matt verstand auch, warum. Sein Hals war nicht stark genug, um den deformierten Kopf zu tragen.
»Ich dachte mir, dass ihr es seid«, sagte der Mann. Er sprach immer noch Englisch. Seine Stimme klang gequält, als würde ihn jemand würgen. »Ich habe euch auf der Veranda gehört, als ihr vorbeigelaufen seid. Aber nicht nur das. Ich wusste, dass ihr hier wart. Denn ich habe eure Anwesenheit gespürt. Einer der Fünf. Zwei der Fünf! Hier, auf meiner hacienda! Und was verschafft mir die Ehre eures Besuchs? Was wollt ihr?«
Matt wusste, dass es sinnlos war, sich als jemand anderes auszugeben. Der Mann hatte seine Tarnung sofort durchschaut. Er schien alles über ihn zu wissen.
»Wo ist Richard?«, fragte er ihn.
»Dein Freund, der Journalist?« Die Lippen des Mannes verzogen sich – das möglicherweise war seine Art zu lächeln. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich ihn gefangen halte? Warum sollte er hier sein?« Señor Salamanda sah ehrlich verblüfft aus. »Wie habt ihr überhaupt hergefunden?«
Matt sagte nichts. Was hätte er auch sagen sollen?
Diego Salamanda sah Pedro an. »Cómo te Ilamas?«, fragte er streng.
Pedro spuckte auf den Boden. Was immer er gefragt worden war, das war seine Antwort.
»Mit euch werde ich viel Spaß haben«, murmelte Diego Salamanda. »Das ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ein Geschenk des Himmels – und genau zum richtigen Zeitpunkt. Heute in einer Woche wird alles vorbei sein. Dann ist das Tor offen, und mir gehört nicht nur einer der Torhüter, sondern zwei. Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach sein würde!«
Der Mann trat ins Licht, und Matt sah seine farblosen Augen, den Babymund und die fleckige, grausam gedehnte Haut. Das war zu viel.
»Lauf!«, schrie Matt.
Pedro brauchte keine weitere Ermunterung. Die beiden Jungen wirbelten herum, weg von der Tür und zum Fenster hinaus. Sie hatten keinen Plan. Sie wollten nur weg – weg von dem Haus und dem Teufel, der darin lebte. Doch während sie von der Veranda sprangen, um zum Haupttor zu rennen, begannen die Kirchenglocken zu läuten, und der Klang von Metall auf Metall hallte durch die Nacht. Suchscheinwerfer, die ihnen vorher nicht aufgefallen waren, leuchteten auf, verwandelten die Nacht in gleißendes Weiß und blendeten die geschockten Jungen. Zur selben Zeit rückte ein halbes Dutzend Wachleute an. Die Männer näherten sich den beiden von allen Seiten, einige hatten Schäferhunde dabei, die an ihren Leinen zerrten und wütend bellten. Captain Rodriguez war auf der Veranda aufgetaucht und beobachtete das Ganze mit einer Mischung aus Ärger und Unglauben. Das Merkwürdige war, dass es anscheinend niemand eilig hatte. Zwei Eindringlinge waren entdeckt, und es war Alarm geschlagen worden. Aber die Wachen schlenderten gemütlich auf sie zu und schienen sich absichtlich Zeit zu lassen.
Jetzt begriff Matt auch den Grund dafür. All seine Hoffnungen schwanden, als ihm klar wurde, dass es für sie keinen Ausweg gab. Selbst wenn ihnen die Flucht vom Gelände gelang, waren es immer noch acht Kilometer bis zur nächsten Stadt – und auf dem ganzen Weg gab es kaum Versteckmöglichkeiten. Sie konnten rennen, so viel sie wollten. Man würde sie verfolgen und abknallen wie wilde Tiere. Matt schluckte. Das war das Ende. Er war gewarnt worden, nicht herzukommen, aber er hatte die Warnungen ignoriert und sie damit beide ins Verderben gestürzt.
Er begann, die Hände hochzunehmen, um sich zu ergeben – doch plötzlich änderte sich alles. Er sah es zuerst an den Gesichtern der Wachleute und hörte es einen Moment später selbst. Es war ein Motorengeräusch, und als er sich umdrehte, raste ein Auto durchs Tor in den Innenhof. Matt nahm an, dass es Diego Salamanda gehörte und ein weiterer Wachmann ihnen den Rückweg abschnitt. Doch dann merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Wachmänner waren verblüfft stehen geblieben. Captain Rodriguez hatte seine Waffe gezogen und brüllte Befehle.
Das Auto kam schlitternd zum Halt.
»Steigt ein!«, rief jemand aus dem Fenster, erst auf Englisch, dann noch einmal auf Spanisch. »Suba el coche!«
Schüsse fielen, und Matt fühlte sich plötzlich nach Lima zurückversetzt. In seinem ganzen früheren Leben hatte noch nie jemand auf ihn geschossen, und jetzt passierte es schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage. Zwei Schüsse kamen von dem Wachturm, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten. Eine Kugel schlug in den Boden ein und wirbelte eine Staubwolke auf. Die andere traf die Motorhaube des Autos. Das verriet ihm alles, was er wissen musste. Der Fahrer des Wagens war also wirklich auf ihrer Seite.
Matt rannte los. Es fielen noch mehr Schüsse. Die Wachen schienen nur auf das Auto zu schießen und nicht auf Pedro und ihn. Hatte Diego Salamanda das befohlen? Wollte er sie lebend haben? Matt sah, dass die Hunde freigelassen worden waren. Sie sprangen vorwärts, mit funkelnden Augen und weit aufgerissenen Mäulern. Ihre Zähne waren weiß und sahen gefährlich aus. Vielleicht würde man ihn und Pedro nicht erschießen, aber wenn sie das Auto nicht rechtzeitig erreichten, würden sie in Stücke gerissen werden.
»Schneller!«, schrie der Fahrer.
Pedro kam zuerst an. Er warf die hintere Tür auf und verschwand auf dem Rücksitz. Matt rannte zur Beifahrertür – und trotz des Kugelhagels und der Hunde, die immer noch durch das gleißende Licht auf ihn zustürmten, erstarrte er.
Matt kannte den Fahrer.
Das weiblich wirkende Gesicht, mit den langen Wimpern und vorstehenden Wangenknochen. Der Mann hatte Bartstoppeln und eine halbmondförmige Narbe neben dem Auge.
Er war einer von Richards Entführern.
»Steig ein, oder du bist tot!«, schrie der Mann.
Zwei weitere Kugeln schlugen in die Karosserie ein. Eine dritte ließ den rechten Außenspiegel zerplatzen. Matt überlegte nicht länger. Er sprang ins Auto, und im selben Moment legte der Mann den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Matt war halb drinnen und halb draußen, und die Tür war immer noch offen. Pedro saß erstaunlich gelassen auf dem Rücksitz. Matt sah, wie ein Wächter am Tor seine Waffe hob. Dann gab es einen dumpfen Knall, und der Wachmann war verschwunden.
»Die Tür…«, begann der Mann.
Ein entsetzliches Knurren ertönte, und als Matt sich umsah, sprang ihn auch schon einer der Schäferhunde an. Er landete auf seinem Bein, und Matt fühlte, wie die Zähne nur Millimeter von seinem Oberschenkel entfernt zuschnappten. Mit einem Aufschrei zog er das andere Bein zurück und trat nach dem Hund. Er traf ihn am Kopf. Mit einem Aufheulen fiel die Bestie aus dem Wagen. Matt zog seine Beine ein und knallte die Tür zu.
Es war jedoch noch nicht vorbei. Die Wächter hatten wohl Angst, dass sie entkamen, denn sie schossen jetzt alle. Matt schrie auf, als Glassplitter und Kugeln um ihn herumflogen. Durch den Fahrer neben ihm ging ein Ruck. Matt fühlte, wie ihm etwas Nasses aufs Gesicht spritzte. Er wischte es mit dem Handrücken ab und betrachtete ihn. Es war Blut.
Doch er war nicht getroffen worden. Es war das Blut des Fahrers. Es war genau wie in Lima, nur dass diesmal die Rollen vertauscht waren. Diesmal schoss der Mann mit der Narbe nicht auf sie, sondern half ihnen. Und er war verwundet. Insgesamt war er zweimal getroffen worden: in die Schulter und seitlich am Hals. Auf dem Sitz und dem Armaturenbrett war Blut. Ein großer Blutfleck breitete sich auf dem Hemd des Fahrers aus. Doch er hielt verbissen das Lenkrad umklammert und presste den Fuß aufs Gaspedal. Das Auto schoss zum Tor hinaus und in die Dunkelheit. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer ein. Der Wagen holperte durch Spurrinnen.
»Sie werden uns verfolgen!«, rief Matt. Er stellte sich vor, wie Salamandas Männer in ihre Autos und Lastwagen sprangen.
»Das glaube ich kaum.« Der Mann versuchte, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen, aber Matt konnte sehen, wie schwer er verletzt war. Das Blut hatte sich noch mehr ausgebreitet. Schon bald würde sein ganzes Hemd damit getränkt sein. Er murmelte etwas auf Spanisch. Pedro beugte sich nach vorn. Als er wieder hochkam, hatte er eine Hand voll Drähte und Sicherungen in der Hand. Matt lächelte. Irgendwie hatte der Mann die hacienda vor ihnen erreicht und alle Fahrzeuge unbrauchbar gemacht, die er finden konnte.
»Wer sind Sie?«, fragte Matt.
»Mein Name ist Micos.«
»Wie haben Sie uns gefunden? Wo ist Richard?« Es gab noch ein Dutzend Fragen, die Matt gern gestellt hätte.
»Nicht jetzt. Später.«
Matt verstummte. Ihm wurde klar, dass Micos nicht genug Kraft hatte, gleichzeitig zu reden und zu fahren.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich das Ende des Sandweges erreichten. Es war stockdunkel, und die Scheinwerfer leuchteten nur wenige Meter weit. Matt merkte erst am gleichmäßigeren Rollen der Räder, dass sie die asphaltierte Hauptstraße erreicht hatten. Wenige Augenblicke später fuhr Micos an den Straßenrand und hielt an.
»Hört mir zu«, sagte er, und Matt stellte erschrocken fest, dass der Mann viel schlimmer verletzt war, als er befürchtet hatte, und dass ihm nur noch wenige Minuten blieben. »Ihr müsst nach Cuzco gehen.« Micos hustete unter Schmerzen und schluckte verzweifelt. Blut benetzte seine Unterlippe. »Am Freitag… der Tempel von Coricancha. In Cuzco. Bei Sonnenuntergang.«
Er holte tief Luft – anscheinend wollte er noch etwas sagen. »Bitte richtet Atoc aus, dass – «, begann er. Doch dann verstummte Micos, und seine Augen waren auf etwas in weiter Ferne gerichtet. Matt begriff, dass der Mann soeben gestorben war.
Auf dem Rücksitz schluchzte Pedro auf.
»Wir können nicht hier bleiben«, sagte Matt. Es war ihm egal, ob Pedro ihn verstand oder nicht. »Diego Salamanda wird Verstärkung angefordert haben. Wir müssen weg.«
Die beiden stiegen aus. Das Auto parkte an einem Abhang, der mit Gestrüpp bewachsen war. Matt schaltete die Scheinwerfer aus und löste die Handbremse. Er gab Pedro ein Zeichen, und mit vereinten Kräften schoben sie das Auto von der Straße. Es rollte den Abhang hinunter und war nicht mehr zu sehen.
Die Leute von der hacienda würden denken, dass sie weiterhin mit dem Auto flohen. Sie konnten nicht ahnen, dass sie wieder zu Fuß unterwegs waren.
Der Mond war aufgegangen und spendete etwas Licht. Bis nach Ica konnte es nicht mehr weit sein.
»Bist du bereit?«, fragte Matt.
»Ja.« Pedro hatte ihn verstanden. Und er hatte auf Englisch geantwortet.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.