DIE GIFTSTADT
Eine Stunde später rannten sie immer noch.
Matt staunte, wie viel Energie Pedro hatte. Immerhin sah er aus, als hätte er mindestens seit einer Woche nichts gegessen. Aber er hatte sein Tempo die ganze Zeit über nicht verringert. Sie hatten nur einen kurzen Stopp eingelegt, als ein schmutziger blauer Kleinbus mit vergitterten Fenstern und der Aufschrift POLICIA NACIONAL an ihnen vorbeigerast war. Da war Pedro blitzschnell hinter einem parkenden Fahrzeug in Deckung gegangen, und er hatte Matt mitgezogen. Jetzt warf er Matt einen kurzen Blick zu und gab ihm ein Zeichen, sich auszuruhen. Die beiden Jungen setzten sich auf den Bürgersteig.
Als Matt allmählich wieder zu Atem kam, musste er an das denken, was Captain Rodriguez gesagt hatte. Matt hatte keine Papiere. Er war illegal nach Peru gereist. Als der Nexus ihnen gefälschte Pässe angeboten hatte, schien das eine gute Idee zu sein. Aber genau diese waren Gold in den Händen ihrer Feinde. Matt konnte nicht beweisen, wer er war. Es gab keine Aufzeichnungen über seine Einreise, und wenn er verschwand, würde es niemand merken.
»Debemos apresuramos«, sagte Pedro und stand auf. Das hatte Matt verstanden. Sie mussten weiter.
Sie befanden sich an einer breiten, stark befahrenen Straße am Stadtrand von Lima. Am Straßenrand reihten sich Geschäfte und ein Restaurant aneinander, und bei allen fehlten Schaufensterscheiben und Eingangstüren. Sie hatten eigentlich gar keine Front. Sie waren wie offene Kästen, deren Inhalt auf die Straße hinausquoll. Der Geruch von Essen mischte sich mit den Abgasen. An einer niedrigen Betonmauer hockten ein paar Männer in Jeans und Baseballkappen, die anscheinend nichts zu tun hatten. Es waren auch zwei Schuhputzjungen unterwegs, die ihre selbst gezimmerten Kästen auf dem Rücken trugen. Ihr Anblick versetzte Matt einen Schock, denn sie waren höchstens sechs Jahre alt.
»Wohin gehen wir?«, fragte Matt.
Entweder verstand Pedro ihn nicht, oder er hatte keine Lust zu antworten. Er hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Matt war vollkommen erschöpft, aber er zwang sich trotzdem, ihm zu folgen. Was hätte er sonst tun sollen?
Sie kamen an eine Ampelkreuzung, und plötzlich strahlte Pedro. Das war das erste Mal, dass Matt ihn lächeln sah. An der Ampel stand ein Laster, der Baumaterial transportierte. Pedro hatte den Fahrer erkannt. Er rannte auf ihn zu, redete auf ihn ein und zeigte dabei auf Matt. Die Ampel sprang auf Grün um, und sofort begannen die Autofahrer hinter dem Laster wie wild zu hupen. Doch der Fahrer ließ sich nicht beirren. Er wartete, bis Pedro ausgesprochen hatte, warf einen kurzen Blick auf Matt und deutete mit seinem Kopf nach hinten. Pedro winkte Matt zu sich, und als Matt mit ihm auf die Ladefläche kletterte, verspürte er ungeheure Erleichterung.
Sie waren wieder unterwegs.
Matt war todmüde. In der vergangenen Nacht hatte er nur ein paar Stunden – und dabei noch äußerst unruhig – geschlafen. Außerdem hatte das Zusammentreffen mit Captain Rodriguez seine Spuren hinterlassen. Die Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten, und er war sicher, dass er eine gebrochene Rippe hatte. Der Polizist hatte ihn zusammengeschlagen. Wie war das möglich gewesen – in der Eingangshalle eines teuren Hotels? In was für einem Land war er da bloß gelandet?
Der Fahrer rief etwas aus dem Fenster, und Matt sah seine Hand mit mehreren Bananen auftauchen. Pedro nahm sie entgegen, riss eine ab und bot sie Matt an. Matt schüttelte den Kopf. Er war zwar halb verhungert, aber er konnte nichts essen. Die Schmerzen waren einfach zu heftig. Pedro zuckte die Achseln, entfernte die Schale von einer Banane und begann zu essen.
Matt wusste nicht, was er von dem Jungen halten sollte. Pedro hatte ihn gerettet, als er vor dem Hotel mit seiner Schleuder auf ihn gewartet hatte, aber Matt hatte keine Ahnung, wieso er das getan hatte. Im Moment nahm Pedro seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Es war, als wäre Matt nur ein Ärgernis für ihn, so wie ein streunender Hund, der ihm auf der Straße nachlief. Sehr freundlich war Pedro jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil. Matt musste wieder daran denken, dass der Junge erst vor wenigen Stunden versucht hatte, ihn auszurauben – und er trug immer noch seine Uhr! Vielleicht hatte er es doch auf die Zehnpfundnote abgesehen. Nein, das zu denken war nicht fair. Matt hatte ihm das Geld angeboten, und Pedro hatte es nicht genommen. Und wohin fuhren sie jetzt? Pedro musste irgendwo in dieser riesigen, feindseligen Stadt leben. Vielleicht hatte er Eltern. Hoffentlich kannte er jemanden, der Matt helfen konnte.
Etwa zwanzig Minuten später hielt der Laster, und die beiden kletterten von der Ladefläche. Pedro winkte und rief dem Fahrer zum Abschied etwas zu. Matt starrte auf einen Hügel, an dem sich eine hässliche Siedlung – ein Gewirr aus Steinen und Drähten – hinaufzog. So etwas hatte er noch nie gesehen. Sein erster Eindruck war, dass dies ein Dorf gewesen sein musste, das den Hügel heruntergerutscht und dabei vollkommen zertrümmert worden war. Doch dann begriff er. Es war ein Elendsviertel, in dem die Ärmsten der Armen lebten.
Wie üblich war Pedro schon wieder in Bewegung. Matt folgte ihm durch das Gewirr von Gassen und schmalen Durchgängen – keiner davon war gepflastert, doch alle waren mit Müll und anderem Unrat übersät. Erst jetzt, als er mittendrin war, stellte Matt fest, dass nicht einmal die Hälfte der Häuser aus Backsteinen bestanden. Die meisten waren aus Pappe, Wellblech, Strohmatten, Plastikfolien oder einer Mischung aus alldem. Sie kamen an eine Art Marktplatz, auf dem eine Gruppe alter Frauen mit bunten Schals und steifen Hüten um eine alte Öltonne hockte, die ihnen als Ofen diente. Sie kochten einen Eintopf, und zwar in Milchdosen, die sie flachgehämmert und zu Pfannen gebogen hatten. Ein paar magere Hühner pickten lustlos im Staub herum, und ein Hund – Matt war nicht sicher, ob er tot oder lebendig war – lag ausgestreckt in der Sonne. Über allem hing der widerliche Geruch von menschlichen Ausscheidungen. Matt hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Er konnte nicht fassen, wie die Leute hier leben mussten, aber Pedro schien es nicht zu merken.
Matt wurde bewusst, dass die Frauen ihn neugierig ansahen. Er fragte sich, was sie wohl dachten. Er war dreckig und abgekämpft, aber er trug neue, teure Kleidung – jedenfalls wenn man sie mit dem verglich, was die Frauen anhatten. In ihren Augen war er ein reiches europäisches oder nordamerikanisches Kind, und er bezweifelte, dass sich viele davon hier herumtrieben. Er nickte den Frauen zu und eilte Pedro hinterher.
Sie stiegen den Hügel hinauf. Die Anstrengung ließ Matts Brustkorb schmerzen – er spürte jede einzelne Rippe. Und als er sich fragte, wie lange er noch durchhalten würde, kamen sie an eine kleine gemauerte Hütte mit zwei Fenstern, die von innen mit Säcken verhängt waren. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Pedro, dass er eintreten sollte.
Wohnte er hier? Verunsichert folgte Matt ihm durch den Eingang. Eine Tür gab es nicht. Die Hütte bestand aus einem kastenartigen Raum, und als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er einen Holztisch, zwei Stühle, einen Gaskocher – er kannte diese Kocher von Campingausflügen –, ein paar Dosen und ein niedriges, schmales Bett. Dann stellte er fest, dass ein Mann auf dem Bett lag. Pedro hockte sich neben ihn und sprach aufgeregt auf ihn ein. Der Mann erhob sich langsam.
Er war ungefähr sechzig Jahre alt und trug einen Anzug, der genauso alt aussah. Er hatte darin geschlafen, und der Stoff war vollkommen zerknittert. Fast alle Knöpfe fehlten, und das Hemd hing ihm aus der Hose. Er war unrasiert – graue Stoppeln umgaben einen Mund, der dünn und ziemlich blutleer wirkte. Die Augen des Mannes blickten verschlagen. Lange Zeit sagte er nichts und musterte Matt, als würde er abschätzen, was er wohl wert war. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und schluckte. Dann durchbrach er endlich sein Schweigen.
»Willkommen.«
Das war das erste freundliche Wort, das Matt seit seiner gewaltsamen Trennung von Richard gehört hatte, und er war ungeheuer erleichtert. Dennoch sah er den Mann skeptisch an. Der Typ war mit Sicherheit nicht der Retter, auf den er gehofft hatte.
»Pedro hat mir gesagt, dass du Amerikaner bist«, sagte der Mann. Er klang nicht sehr sympathisch. Vielleicht lag es aber auch an dem misstrauischen Unterton in seiner Stimme.
»Nein, ich bin Engländer«, sagte Matt.
»Aus England!« Das schien dem Mann zu gefallen. »Aus London?«
»Ich bin in London abgeflogen. Aber ich lebe in einer Stadt, die York heißt.«
»York.« Er wiederholte das Wort, aber es war offensichtlich, dass er es noch nie gehört hatte. »Pedro sagt, dass du allein bist. Dass die Polizei dich zusammengeschlagen hat. Dass sie dich verhaften wollten.«
»Ja. Können Sie ihm dafür danken, dass er mir geholfen hat?«
»Er braucht deine Dankbarkeit nicht. Wie kommst du darauf, dass er irgendetwas von dir will?«
Der Mann griff hinter das Bett und holte eine schon angebrochene Flasche hervor, die mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war. Er trank daraus, und als er sie absetzte, konnte Matt Alkohol riechen. Dann zog der Mann eine halb gerauchte Zigarre aus der Jackentasche und zündete sie an. Matt ließ er dabei keinen Moment aus den Augen.
»Pedro hat mir verraten, dass du Geld hast«, sagte er.
Matt zögerte, aber auch diesmal hatte er eigentlich keine Wahl. Er holte die Zehnpfundnote aus der Tasche und gab sie dem Mann.
Der Mann betrachtete den Geldschein eingehend und steckte ihn dann mit einem Zucken seiner Lippen, das vielleicht ein Lächeln war, in die Tasche. Einen Moment später fuhr er Pedro grob an. Der Junge verzog mürrisch das Gesicht. Der Mann wartete, bis Pedro Matts Uhr von seinem Handgelenk streifte und sie ihm gab.
»Wie heißt du?«, fragte er Matt.
Wieder zögerte Matt. Welchen Namen sollte er nennen? Eigentlich war es sinnlos, so zu tun, als wäre er jemand anders. »Ich bin Matt«, sagte er deshalb wahrheitsgemäß.
»Mein Name ist Sebastian.« Der Mann atmete Rauch aus, der zu einer silbrigen Wolke wurde. »Mir scheint, du brauchst Hilfe, junger Freund.«
»Ich habe kein Geld mehr, das ich Ihnen geben kann«, knurrte Matt gereizt.
»Dein Geld und deine Uhr werden Essen auf den Tisch bringen. Dir nützen sie im Moment gar nichts. Aber wenn du beides wiederhaben willst, nimm es und verschwinde. Auf dich wartet dann entweder der Tod oder der Knast – und das bevor die Sonne untergeht. Wenn du aber meine Hilfe annehmen willst, sei gefälligst höflich. Das hier ist mein Haus. Vergiss das nicht.«
Matt biss sich auf die Unterlippe. Sebastian hatte Recht. Das Geld spielte keine Rolle. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Und wo sind wir hier?«
»Diese Gemeinde hat einen Namen«, antwortete Sebastian. »Die Leute, die hier leben, nennen sie Ciudad del Veneno. Auf Englisch hieße das Giftstadt. Sie wird so genannt, weil es hier extrem viele Krankheiten gibt: Cholera, Bronchitis, Lungenentzündung, Diphtherie. Niemand von uns hat das Recht, hier zu leben. Wir haben das Land gestohlen und unsere Häuser darauf gebaut. Aber die Polizei kommt nicht hierher. Dafür ist sie viel zu ängstlich.«
Matt sah sich um und wagte kaum noch zu atmen.
»Keine Panik, Matt.« Sebastian grinste, dabei wurden zwei Goldzähne sichtbar. »Es gibt keine Krankheiten in diesem Haus oder in dieser Straße. Niemand weiß, warum das so ist. Neun Leute leben hier. Und sieben weitere nebenan. Wir besitzen nichts… aber wir sind gesund.«
»Wohnt Pedro auch hier?«
Pedro sah auf, als er seinen Namen hörte. Bis dahin hatte er Matt nur misstrauisch angestarrt, aber kein Interesse an der Unterhaltung gezeigt.
»Er schläft auf dem Boden, genau da, wo du jetzt stehst. Er arbeitet für mich. Er und die anderen Kinder. Aber über ihn zu reden ist reine Zeitverschwendung. Es gibt unzählige Kinder wie ihn in Lima. Sie leben und sie sterben. Aber ein englischer Junge in der Giftstadt ist eine Rarität. Warum bist du hier, Matt? Warum ist die Polizei hinter dir her? Du musst mir alles erzählen, damit wir wissen, wie wir dir helfen können. Falls wir dir helfen können und es auch wollen…«
Alles? Matt wusste nicht, wo er anfangen sollte. Es war eine wahnsinnig lange Geschichte. Sie hatte sein ganzes Leben verschlungen. Sollte er mit dem Tod seiner Eltern vor sechs Jahren beginnen oder mit den Ereignissen in Omega Eins? Es war hoffnungslos. Matt wusste, dass ihm dieser Mann kein Wort glauben würde.
»Ich kann Ihnen nicht alles erklären«, sagte er. »Ich bin nach Peru gekommen, weil etwas Schlimmes passieren wird und es Leute gibt, die glauben, dass ich es verhindern kann. Wir waren zu zweit. Ich und ein Freund. Sein Name ist Richard Cole, und er ist älter als ich… fünfundzwanzig. Wir wollten beide nicht nach Peru kommen, aber wir wurden hergeschickt.«
»Um zu verhindern, dass etwas Furchtbares passiert.«
»Ja. Ich habe keinen Pass. Der, den sie mir gegeben haben, war gefälscht. Das sollte mich schützen. Kurz nach unserer Ankunft wurden wir angegriffen. Richard ist entführt worden, und die Polizei wollte mich verhaften. Der ranghöchste Polizist hat gesagt, dass er für Diego Salamanda arbeitet.«
Ohne eine Miene zu verziehen, hatte sich Sebastian alles angehört. Doch als Matt den Namen Salamanda erwähnte, verengten sich seine Augen, und er ließ etwas Rauch aus seinem linken Mundwinkel entweichen. »Salamanda?«, rief er. »Weißt du, wer das ist?«
»Irgendein Geschäftsmann.«
»Er ist einer der reichsten Männer Südamerikas. Mit Sicherheit der reichste in Peru. Man sagt, dass er mehr Geld hat als der Rest der Bevölkerung zusammen dank seiner Mobiltelefone, Zeitungen und Satelliten.« Sebastian sagte ein paar Worte zu Pedro, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und den Rücken ans Bett gelehnt hatte. Pedro zuckte die Achseln. Sebastian drehte sich wieder zu Matt. »Den Mann würde ich mir nicht zum Feind wählen«, meinte er.
»Ich denke, dass er mich gewählt hat und nicht andersrum«, erwiderte Matt. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
»Warum willst du ihn finden?«
»Weil ich glaube, dass er meinen Freund entführen ließ. Er wusste, dass wir kommen. Erst hat er sich Richard geschnappt und dann versucht, auch mich zu kriegen.«
Sebastian hob die Flasche an die Lippen und schluckte. Der Alkohol schien dem Geruch nach sehr stark zu sein, aber Sebastian trank ihn, als wäre es Wasser.
»Salamanda News International – abgekürzt SNI – ist hier in Lima«, sagte er. »Niederlassungen gibt es in ganz Peru. Was willst du tun? Willst du die alle abklappern? Das kannst du vergessen, denn dort wirst du ihn nicht finden. Seine größte Forschungsstation ist in der Nähe der Stadt Paracas. Sie liegt südlich von hier. Aber die meiste Zeit verbringt er auf seinem Landgut – wir sagen dazu hacienda – in der Nähe von Ica. Er lässt sich nie in der Öffentlichkeit blicken. Gerüchten zufolge ist er unglaublich hässlich. Er soll drei Augen haben, oder mit seinem Gesicht stimmt etwas anderes nicht. Wenn du ihn besuchen willst, musst du nach Ica. Ich wette, er wird hoch erfreut sein, dich zu sehen.«
Matt ignorierte Sebastians Sarkasmus. »Können Sie mir helfen, dorthin zu kommen?«
»Nein.«
»Dann verschwende ich hier nur meine Zeit.«
»So?« Sebastian starrte Matt wütend an. »Dann lass dir eines gesagt sein: Zeit ist hier sehr billig.« Er drückte seine Zigarre aus. »Ich muss gehen«, fuhr er fort. »Es gibt ein paar Dinge, die ich nicht verstehe, und ich muss mit einigen Leuten reden. Vielleicht helfe ich dir, vielleicht auch nicht. Aber im Moment siehst du so aus, als würdest du dringend Nahrung und Schlaf brauchen.«
»Kann ich hier schlafen?«, fragte Matt. Er war zu müde zum Essen.
»Du kannst dich auf den Boden legen. Da sind Decken. Nicht in das Bett, verstanden? Das gehört mir! Hier bist du sicher. Wir werden reden, wenn du ausgeschlafen hast. Und dann sehen wir, was wir tun können.«
Sebastian sagte etwas zu Pedro. Der Junge nickte, und die beiden verließen die Hütte.
Es war Abend, als Matt wieder aufwachte. Ohne seine Uhr konnte er nicht feststellen, wie lange er geschlafen hatte, und die Zeitverschiebung machte alles noch schwieriger. Er hatte kein Gefühl dafür, ob es in England jetzt Zeit fürs Frühstück oder eher fürs Abendessen war. Er brauchte einen Moment, um seine Muskeln zu lockern, die vom Schlafen auf dem harten Boden verkrampft waren. Gleichzeitig dachte er über seine Lage nach. Die Gedanken waren nicht angenehm. Er war allein, tausende Kilometer von zu Hause entfernt, in einer schäbigen Hütte mitten im Slum, der Giftstadt genannt wurde. Er war der Gast eines Mannes, den er nicht mochte, und eines Jungen, der ihn vor kurzem beraubt hatte. Der reichste Mann Perus trachtete nach seinem Leben, und die Polizei half ihm bereitwillig, dieses Ziel zu erreichen.
Das war zu viel. Matt schloss die Augen und stöhnte. Matt wurde plötzlich bewusst, dass seine Kopfschmerzen weg
waren. Er setzte sich auf und fuhr mit den Händen über seinen Brustkorb und seinen Bauch. Merkwürdig! Nichts tat mehr weh. Es war fast so, als wäre er nie zusammengeschlagen worden. Hatte seine Kraft das bewirkt? Hatte er es irgendwie geschafft, sich selbst zu heilen? Matt stand auf und reckte sich. Er war halb verhungert. Jetzt wünschte Matt, er hätte das Essen genommen, das ihm angeboten worden war. Aber abgesehen vom Hungergefühl ging es ihm gut.
An der Tür bewegte sich etwas, und Pedro kam mit einer dampfenden Dose voller Essen und einem Löffel herein. Er reichte Matt beides, ließ ihn dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Er musterte ihn so prüfend, als suchte er nach etwas.
»Danke«, sagte Matt. Er fühlte sich immer unbehaglicher.
In der Dose war eine Art Eintopf. Sehr viele Bohnen und sehr wenig Fleisch. Normalerweise hätte Matt erst einmal misstrauisch daran gerochen, aber er war so hungrig, dass ihm egal war, was er aß. Er verschlang das Essen, ohne genauer hinzusehen. Was auch immer das für ein Fleisch war – Rind oder Lamm war es jedenfalls nicht. Er versuchte, nicht an den Hund zu denken, den er draußen liegen gesehen hatte.
Als er aufgegessen hatte, reichte Pedro ihm einen verbeulten Metallkrug mit Wasser. Es schmeckte warm und abgestanden, und Matt fragte sich, woher es wohl stammte. Gab es in der Giftstadt einen Brunnen oder Wasserpumpen? Hatten die Leute hier überhaupt Strom? Matt hatte unzählige Fragen, aber es hatte keinen Sinn, sie zu stellen, bevor Sebastian wiederkam. Pedro verstand ihn ja sowieso nicht.
Etwa zehn Minuten später kam Sebastian mit einem Bündel Altkleider unter dem Arm zurück. Matt hatte sofort den Eindruck, dass der Mann jetzt wacher und auch nervöser wirkte. Er legte die Kleider ab und zündete sich eine neue Zigarre an, wobei er sich beinahe die Finger verbrannte. Das Streichholz ließ er auf den Boden fallen.
»Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen«, sagte er. »In Lima geht einiges vor, und nichts davon ist gut. Du musst schleunigst von hier verschwinden. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Sie suchen nach mir«, stellte Matt fest.
»Überall sind Polizisten. Sie stellen Fragen, und zwar nicht auf die freundliche Art. Verstehst du? Sie haben große Knüppel und Tränengas. Offensichtlich suchen sie nach einem englischen Jungen. Sie behaupten, er sei ein Terrorist, und auf seinen Kopf hat man eine große Belohnung ausgesetzt.«
Sebastian hob die Hand, bevor Matt etwas sagen konnte. »Nur wenige haben dich herkommen sehen, und sie werden nichts sagen. Wir haben hier kein Geld. Keinen Besitz. Vielleicht schätzen wir das, was wir haben, deshalb so sehr… Loyalität und Freundschaft. Niemand wird dich verraten, aber die Polizei wird trotzdem kommen und alles auf den Kopf stellen. Vielleicht sind sie schon auf dem Weg hierher.«
»Ich muss meinen Freund finden«, sagte Matt.
»Du verschwendest deine Energie. Wenn Salamanda ihn geschnappt hat, kann er wirklich überall sein. Er kann in Lima sein oder mit dem Gesicht nach unten im Meer treiben. Wenn du mich fragst, ist Letzteres sogar ziemlich wahrscheinlich.«
»Was ist mit dem Ort, den Sie genannt haben? Diesem Landgut?«
»Die Hacienda Salamanda. Ich glaube nicht, dass du ihn dort finden wirst.«
»Ich möchte trotzdem nachsehen.«
Sebastian überlegte einen Moment lang. »Mir ist es egal, wohin du gehst«, sagte er schließlich. »Hauptsache, du bleibst nicht hier. Und Pedro wird dich begleiten. Ich habe es ihm schon gesagt. Er hat drei Polizisten angegriffen, also sind sie auch hinter ihm her. Wenn sie ihn finden, bringen sie ihn um.«
»Es tut mir Leid«, sagte Matt. »Das ist alles meine Schuld.«
»Nein. Es ist seine. Wenn er geschickter gewesen wäre, hätte er deine Uhr und dein Geld gestohlen, ohne dich aufzuwecken. Ich habe schon immer gesagt, dass er ein lausiger Dieb ist. Aber jetzt ist es zu spät, sich darüber aufzuregen.« Sebastian zögerte. »Da ist noch etwas. Dein Aussehen. Das müssen wir ändern.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ein weißer Junge in den Kleidern eines Weißen! Es spielt keine Rolle, wohin du gehst – so wird man dich leicht ausfindig machen.« Sebastian zeigte auf das Bündel, das er mitgebracht hatte. »Gib mir alles, was du anhast.«
»Was…?«
»Sofort!«
Matt war zu geschockt, um zu widersprechen. Er zog Jacke, Hemd und Jeans aus und gab sie Sebastian. Matt hatte keinen Zweifel daran, dass seine Sachen schon am nächsten Tag auf irgendeinem Markt auftauchen würden.
»Schuhe und Strümpfe auch!«, befahl Sebastian.
Matt streifte sie ab und stand nur in seinen Boxershorts mitten im Raum. Sebastian drückte ihm eine Flasche in die Hand. »Reib dich damit ein«, sagte er. »Arme und Beine und vor allem das Gesicht. Pedro wird die Schultern und den Rücken übernehmen.«
»Was ist das?«
»Es ist ein Färbemittel aus Nüssen. Es wird deine Haut für viele Wochen bräunen. Wir müssen dir auch die Haare schneiden.« Sebastian holte eine Schere. Matt zögerte. »Dein Haar ist schön«, sagte der Mann. »Aber wenn du leben willst, musst du aussehen wie ein peruanischer Junge. Uns bleibt keine Zeit mehr zum Diskutieren.«
Kurze Zeit später stand Matt in seinem neuen Outfit da. Auf dem Kopf hatte er einen runden Topfschnitt mit einem gerade abgeschnittenen Pony über den Augen. Sein ganzer Körper war dunkelbraun. Es gab in der Hütte keinen Spiegel, deshalb konnte er nicht sehen, wie er aussah, aber er fühlte sich ausgesprochen unwohl. Seine neuen Jeans waren formlos, starrten vor Dreck und endeten eine Handbreit über seinen Knöcheln und seinen nackten braunen Füßen. Er hatte ein grünes Adidas-TShirt voller Löcher bekommen. Und anstelle von Schuhen gab es ein Paar Sandalen aus schwarzem Gummi – die gleichen, die auch Pedro trug.
»Die sind aus Autoreifen«, erklärte Sebastian.
Matt spürte, wie seine Haut versuchte, jeden Kontakt zu den Kleidungsstücken zu vermeiden. Sie waren bestimmt schon von unzähligen Leuten getragen und nie gewaschen worden. Ihm fiel auf, dass Pedro ihn mit einem kaum merklichen Schmunzeln musterte. »Was ist so witzig?«, fragte er.
Sebastian übersetzte die Frage ins Spanische, und Pedro antwortete. Er sprach leise und sagte nur ein paar Worte.
»Pedro meint, dass du jetzt weißt, wie sich ein peruanischer Junge fühlt«, antwortete Sebastian. »Aber du bist immer noch zu groß. Du musst lernen, gebückt zu gehen. Achte darauf, nie größer zu wirken als Pedro. Und von jetzt an bist du nicht mehr Matt. Du heißt in Zukunft Matteo. Hast du das kapiert?«
»Matteo!« Pedro wiederholte den Namen. Matts Verwandlung schien ihm Spaß zu machen.
Sebastian blieb ernst. »Du musst Lima verlassen«, sagte er. »Wenn du meinen Rat befolgen willst, geh Richtung Süden nach Ayacucho. Da habe ich viele Freunde, die sich um dich kümmern werden. Vielleicht sucht die Polizei dort nicht nach dir.«
»Ich will aber nach Ica.«
»Du bist ein Sturkopf, ein ganz schön dummer – aber du hängst an deinem Freund, und das finde ich anständig.« Sebastian spuckte auf den Boden. »Meinetwegen. Du kannst in Ica Station machen, wenn du meinst, dass es Sinn hat. Der erste Bus fährt morgen Früh um sechs. Die Polizei wird den Busbahnhof ganz sicher überwachen – darüber müssen wir uns noch Gedanken machen.«
»Ich will nur Richard finden und wieder nach Hause«, sagte Matt.
»Das wäre für uns alle das Beste. Noch besser wäre es allerdings, wenn du gar nicht erst gekommen wärst.«
Matt nickte. Plötzlich war er verlegen. Seit er Sebastian begegnet war, hatte er eine gewisse Feindschaft zwischen ihnen gespürt – ohne zu wissen, woher sie kam. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Was?«
»Sie mögen mich offensichtlich nicht besonders. Warum helfen Sie mir trotzdem?«
»Du irrst dich. Es stimmt nicht, dass ich dich nicht besonders mag. Ich kann dich absolut nicht ausstehen. Dir haben wir es zu verdanken, dass die Polizei in unseren Hütten herumschnüffelt. Sie stellt Fragen und verhaftet unschuldige Menschen. Unser Leben wird die Hölle sein, bis du gefasst bist.«
»Warum liefern Sie mich nicht einfach aus?«
»Das ist genau das, was ich am liebsten täte. Aber Pedro hat es mir ausgeredet. Er hat gesagt, dass du irgendwie wichtig wärst. Und auf unserer Seite bist.«
»Woher weiß er das? Er kennt mich doch gar nicht.«
»Ja«, sagte Sebastian, »es ist merkwürdig. Normalerweise hätte er dein Geld und deine Uhr genommen und dich anschließend zurückgelassen, wo er dich gefunden hat. Er hätte nie riskiert, Ärger mit der Polizei zu kriegen. Und er hätte dich nicht hergebracht.«
»Und warum hat er es getan?«
»Pedro versteht es selbst nicht, aber er sagt, dass er dich kennt.« Sebastian schüttelte den Kopf. »Er sagt, er kennt dich aus seinen Träumen.«