DAS TRAUMGESPRÄCH

Acht Kinder schliefen auf dem Boden in Sebastians Hütte. Das jüngste war erst fünf, das älteste ungefähr siebzehn. Sie kamen nach und nach an, als es dunkel wurde. Einige hatten Schuhputzkästen dabei, andere Eimer und Schwämme. Matt sah sogar einen Jungen, der einen Korb mit bunten Fingerpuppen bei sich hatte. Sebastian musste ihnen schon von Matt erzählt haben, denn keiner schien sich über seine Anwesenheit zu wundern, und niemand versuchte, mit ihm zu reden. Sie aßen Bohneneintopf und verbrachten den Rest des Abends mit einem Spiel, zu dem Becher und kleine Holzwürfel gehörten. Die Hütte wurde von dicken weißen Kerzen beleuchtet. Matt vermutete, dass jemand sie aus einer Kirche gestohlen hatte. Er sah eine Stunde lang zu, wie die anderen die Würfel in ihren Bechern schüttelten und dann auf den Boden rollen ließen. Pedro spielte mit. Mehrmals warf er Matt einen kurzen Blick zu, und erstmals erkannte Matt eine gewisse Neugier in seinen Augen.

Er kennt dich aus seinen Träumen.

Sebastians Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Matt musterte den peruanischen Jungen, der sich auf sein Spiel konzentrierte und den Würfelbecher heftig schüttelte. Matt wusste natürlich, wer er war. Wie oft hatten sie schon zusammen in dem Binsenboot gesessen? Er ärgerte sich, dass er nicht schon früher begriffen hatte, dass Pedro der Junge aus seinen Träumen war.

Er dachte zurück an den Moment, in dem er aufgewacht war und feststellen musste, dass Pedro seine Uhr gestohlen hatte. Da war er ihm gleich bekannt vorgekommen. Aber nach allem, was passiert war, hatte er nur bis zum Ampelstopp vom Vortag zurückgedacht. Da hatte er Pedro zum ersten Mal gesehen. Aber dass es ihn gab, wusste er natürlich schon seit Jahren.

Pedro war einer der Fünf. Matt konnte förmlich hören, wie Susan Ashwood diese Worte aussprach. Sie wäre sicher total begeistert, wenn sie von ihrem Zusammentreffen wüsste. Ob es ein Zufall gewesen war, dass Matt in einem Land mit knapp achtundzwanzig Millionen Einwohnern aus dem Flugzeug stieg und wenig später auf Pedro stieß? Nein, sicher nicht. Zufälle gab es nicht. Es war alles vorherbestimmt – zumindest würde Miss Ashwood das behaupten.

Sollte Richard also entführt werden? War es vorherbestimmt gewesen, dass Matt im Hotel zusammengeschlagen wurde? Hatte er überhaupt noch etwas zu sagen, oder wurde er nur von Mächten herumgeschubst, die er nicht sehen und nicht begreifen konnte? Und wenn das so war, wohin führten sie ihn? Was hatten sie mit ihm vor?

Matt hatte tausend Fragen und nicht eine einzige Antwort. Aber es tröstete ihn ein wenig, dass er und Pedro sich gefunden hatten. Jetzt waren sie schon zu zweit.

Pedro gewann das Spiel. Er lachte zufrieden und sammelte seine Würfel ein. Matt bedauerte wieder einmal, dass sein neuer Freund kein Englisch sprach. Wie sollten sie Seite an Seite kämpfen, wenn sie sich nicht einmal verständigen konnten?

Das Spiel war vorbei. Die kleineren Kinder schliefen schon, und nun holten auch die älteren ihre Decken und legten sich hin. Für Matt war das Zubettgehen immer eine Art Ritual gewesen: Schlafanzug anziehen, waschen, Zähne putzen, jemandem eine gute Nacht wünschen. Hier war das anders, und es ging sehr schnell. Der Abend war einfach zu Ende. Alle nahmen ihre Plätze rund um das schmale, leere Bett ein, und kurz darauf war der Fußboden ein Meer aus Decken, die sich hoben und senkten, während die Kerzen flackerten und merkwürdige Schatten an die Wand warfen. Matt konnte nicht schlafen. Das lag nicht nur am Jetlag, sondern auch daran, dass es mit so vielen Leuten in der Hütte für ihn zu warm war – und außerdem sirrte eine Mücke um ihn herum. Auch an den Geruch hatte Matt sich noch nicht gewöhnt, obwohl er jetzt ein Teil davon war. Er hatte seit achtundvierzig Stunden nicht mehr geduscht, und er spürte, wie Schmutz und Schweiß an ihm klebten. Er dachte an Richard. Sebastian hatte gesagt, dass er wahrscheinlich tot war, aber an diese Möglichkeit wollte Matt nicht einmal denken. Er fragte sich, wieso alles schief gelaufen war und ob sie sich je wieder sehen würden.

Ungefähr eine Stunde später kam Sebastian. Matt stellte beunruhigt fest, dass er betrunken war. Er torkelte zum Bett und brach darauf zusammen, ohne seine Kleider oder auch nur seine Schuhe auszuziehen. Sekunden später schnarchte er schon.

Matt brauchte viel länger zum Einschlafen. Die halbe Nacht war schon um, als sich seine Lider endlich schlossen. Zu seiner großen Erleichterung hatte er diesmal keine Angst, weil er genau wusste, wo er war. Er saß mit Pedro am Strand. Das Binsenboot dümpelte vor ihnen im Wasser und schien darauf zu warten, sie irgendwohin zu fahren.

»Matteo«, sagte Pedro.

»Ich bin froh, dich zu sehen, Pedro.«

»Ich auch.«

Das war merkwürdig. Matt sprach Englisch und Pedro Spanisch. Dennoch konnten die Jungen einander verstehen. Gab es diese Insel nur im Traum? Bisher hatte Matt das immer angenommen. Aber jetzt, während er sich den Sand, das Meer, das Boot und alles andere mit Pedro teilte, war er nicht mehr sicher. Und obwohl er mit Pedro am Strand sprach, wusste ein Teil von ihm, dass sein neuer Freund neben ihm in der peruanischen Hütte lag. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie jetzt zum ersten Mal miteinander reden konnten.

»Ich versteh das alles nicht«, fing Pedro an.

»Du bist einer der Fünf«, sagte Matt.

»Ja, ich weiß. Einer der Fünf – das wurde mir schon so oft gesagt, aber ich habe keine Ahnung, was es bedeutet. Weißt du es?«

»Nicht genau. Es gibt fünf von uns.«

»Ich habe die anderen gesehen. Da drüben…« Pedro zeigte übers Wasser, aber die beiden Jungen und das Mädchen waren nirgends zu sehen.

»Wir sind Torwächter.«

»Was für ein Tor sollen wir bewachen?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Wir haben die ganze Nacht.«

Matt nickte. In der Giftstadt war alles ruhig. Und auch auf der

Insel schien keine Gefahr zu drohen. Der Schwan, der sich schon zweimal aus der Dunkelheit auf sie gestürzt hatte, war nicht zu sehen. Und was hatte das zu bedeuten?, fragte sich Matt. Es gab so vieles, was er nicht verstand.

Er erzählte Pedro alles, was er wusste. Er begann mit dem Tod seiner Eltern und berichtete von seiner Erkenntnis, dass er nie ein normales Leben führen würde, seiner Zeit mit Gwenda in Ipswich und allem, was er wegen Raven’s Gate erlebt hatte.

»Ich bin nach Peru gekommen, um das zweite Tor zu finden«, beendete er seinen Bericht. »Das war vor zwei Tagen, obwohl es mir vorkommt, als wäre es viel länger her. Vom Augenblick unserer Ankunft an ist alles schief gegangen. Wenn ich Kontakt zum Nexus aufnehmen könnte, dann würden die uns sicherlich helfen. Vielleicht suchen sie auch schon nach mir.«

Matt holte tief Luft. Das Boot schaukelte sanft auf dem Wasser. Er fragte sich, ob sie einsteigen sollten und wohin es sie dann bringen würde.

»Ich wusste, dass wir uns begegnen werden«, sagte Pedro. »Ich habe dich schon erwartet. Als du geschlafen hast… als ich deine Uhr genommen habe… dachte ich, du wärst nur ein reiches Touristenkind, das sich verlaufen hat. Ich wusste wirklich nicht, dass du es warst. Tut mir Leid.«

»Wann hast du es gemerkt?«

»Als du aufgewacht bist. Da habe ich dich erkannt. Und ehrlich gesagt, war ich nicht besonders froh, dich zu sehen. Ich wünschte, du wärst nicht gekommen.«

»Wieso?«

»Deine Anwesenheit sorgt für Ärger und Probleme. Jetzt wird sich alles verändern.« Pedro verstummte. »Du magst nicht viel von meinem Leben halten, aber es ist das einzige, das ich habe, und ich war bisher halbwegs glücklich. Ich weiß, dass du das nicht hören willst. Aber ich will in all das nicht hineingezogen werden.«

»Das kann ich verstehen.«

Matt wusste, was Pedro meinte, denn ihm ging es genauso.

»Ich weiß nichts über dich«, sagte er. »Nur deinen Namen… Pedro. Hast du auch einen Nachnamen? Und was machst du in Lima, wenn du nicht vor Autos jonglierst oder Touristen bestiehlst? Und wer ist Sebastian? Warum lebst du bei ihm?«

»Ich rede nicht gern über mich«, sagte Pedro und verstummte wieder. »Doch ich werde es tun, weil ich denke, dass du es wissen solltest. Aber ich sage dir gleich, dass es nicht viel zu erzählen gibt… und außerdem wirst du dich wahrscheinlich ohnehin nicht mehr daran erinnern, wenn du aufwachst.«

Auf diesen Gedanken war Matt noch nicht gekommen. Er fuhr mit seinen Fingern durch den Sand und fragte sich, welche Gesetzmäßigkeiten in diesem Traumland herrschten. Der Himmel war dunkel, aber er konnte trotzdem gut sehen. Der Sand war warm, obwohl keine Sonne schien. Es war weder Tag noch Nacht, sondern irgendwas dazwischen.

Pedro kreuzte die Beine.

»Zuerst einmal ist Pedro nicht mein richtiger Name«, begann er. »So nennen mich nur alle. Sebastian hat mir den Namen gegeben, als ich in die Giftstadt kam. Er hat gesagt, so hätte einst sein Lieblingshund geheißen. Ich weiß, dass ich eine Familie hatte, bevor ich zu ihm kam, aber ich erinnere mich kaum an sie. Ich hatte eine Schwester. Sie war ein paar Jahre jünger als ich.

Ich stamme aus einem Dorf, das in der Provinz Canta liegt – davon hast du sicher noch nie gehört. Es ist ungefähr hundert Kilometer von Lima entfernt. Ein Dreitagemarsch. Es war ein langweiliges Dorf. Die Männer arbeiteten auf den Feldern – es wurden Kartoffeln und Mais angebaut –, und die Frauen blieben zu Hause und kümmerten sich um die Kinder. Im Dorf gab es keine Schule, aber ich bin auf eine gegangen, die vier Kilometer weit weg war. Viel habe ich da aber nicht gelernt. Ich kenne zwar ein paar Buchstaben, aber lesen kann ich nicht.«

Er streckte die Hand aus und malte mit dem Zeigefinger ein großes P in den Sand.

»Das ist P für Pedro. Es ist auch das P von Papagei – papagayo. Das konnte ich mir merken, weil für mich der Buchstabe aussieht wie ein Papagei.

Meine Mutter hat immer gesagt, ich wäre unter einem schlechten Stern geboren, aber ich weiß nicht, was sie damit gemeint hat. Wir waren zu viert, und wir hatten ein schönes Haus, auch wenn es nur aus Holz und Pappe war. Und wir hatten ein großes Bett, in dem wir alle geschlafen haben. Über meine Mutter kann ich dir nicht viel erzählen. Ich möchte nicht an sie denken. Manchmal erinnere ich mich, wie es sich angefühlt hat, neben ihr im Bett zu liegen, und das macht mich traurig. Für mich war das Einschlafen immer der schönste Teil des Tages.

Das Schlimmste an Canta war das Wetter. Der Wind kam von den Bergen herunter, und er schien durch einen hindurchzublasen. Ich hatte nie genug Sachen zum Anziehen. Manchmal hatte ich nur ein T-Shirt und meine Unterhose, und ich dachte, ich würde zum Eisblock erstarren.

Am Anfang des Jahres regnete es immer. Einen derartigen Regen hast du noch nicht miterlebt, Matteo. Manchmal hat es so geschüttet, dass ich nur noch Wasser gesehen und mich gefragt habe, wie ich das überleben sollte, ohne ein Fisch zu sein. Es regnete schon, wenn ich aufgewacht bin, und es hat nicht mehr aufgehört. Es hat so gegossen, dass man nicht von einem Ende des Dorfes zum anderen gehen konnte, und wenn man hingefallen wäre, dann wäre man in einer Pfütze ertrunken.

Eines Tages – ich muss ungefähr sechs gewesen sein – hat es so doll geregnet, dass der Fluss über die Ufer getreten ist. Es war einfach zu viel Wasser, und es ist außer Kontrolle geraten. Es kam als riesige Flut den Berg hinunter. Es war wie ein Monster… braun und eiskalt. Die Wassermassen haben unser Haus zertrümmert. Ich erinnere mich noch daran, dass jemand eine Warnung gerufen hat, aber ich wusste nicht, was damit gemeint war. Und dann ist die ganze Welt explodiert. Ohne Feuer, sondern durch Wasser und Schlamm. Es ist alles rasend schnell gegangen. Sämtliche Häuser wurden zerstört. Menschen und Tiere… viele haben es nicht überlebt. Aber mich hat jemand gepackt und auf einen Baum gehoben, und ich hatte Glück. Der Baum muss starke Wurzeln gehabt haben, denn er wurde nicht ausgerissen wie die anderen. Ich blieb den ganzen Tag und die ganze Nacht auf diesem Baum, und als es Morgen wurde, war das Dorf nicht mehr da. Es war eine Art Sumpf geworden, in dem überall Tote lagen. Ich nehme an, dass meine Eltern und meine Schwester unter ihnen waren. Ich habe sie nie wieder gesehen, und niemand hat mir etwas gesagt. Also müssen sie alle ertrunken sein.«

Pedro verstummte. Matt war erstaunt, wie ruhig Pedro über dieses Unglück berichten konnte. Er versuchte sich vorzustellen, wie grauenhaft das gewesen sein musste. Ein ganzes Dorf war ausgelöscht worden. Er nahm an, dass so etwas in vielen Teilen der Welt passierte, aber in britischen Zeitungen wurden solche Tragödien nur mit wenigen Zeilen erwähnt.

»Danach war es schlimm für mich«, fuhr Pedro fort. »Ich glaube, ich wollte sterben. Es fühlte sich falsch an, dass meine Eltern tot waren und ich nicht. Ich wusste nicht, wo ich leben sollte. Es gab nichts zu essen. Rund um mich herum wurden die Leute krank. Aber ich wusste, dass ich es schaffen würde, was auch immer passierte. Es war, als würde mein Leben noch einmal von vorn anfangen.

Die Überlebenden – es waren einige – entschieden sich dafür, nach Lima zu gehen. Es hieß, hier gäbe es Arbeit. Sie dachten, sie könnten sich ein neues Leben aufbauen. Ich bin mit ihnen gegangen. Ich war der Jüngste, und sie wollten mich nicht mitnehmen. Aber ich bin ihnen einfach gefolgt, und dagegen konnten sie nichts tun.

Aber als wir in die Stadt kamen, war alles ganz anders, als wir gedacht hatten. Niemand wollte uns sehen. Niemand wollte helfen. Wir waren desplazados. Das sind Leute, die kein Zuhause haben. In Lima gab es schon genug Arme, die hungerten und starben. Sie wollten nicht noch mehr.

Eine Frau hat mich aufgenommen. Sie hat zusammen mit ihrem Bruder in einem der Armenviertel gelebt. Ich musste für sie arbeiten und Essensreste aus Mülltonnen suchen. Ich habe das gehasst! Ich bin morgens um fünf aufgebrochen, bevor die Müllabfuhr kam, und ich habe alles genommen, was ich finden konnte. Obst und Gemüse, das noch nicht zu sehr verrottet war. Vom Fleisch abgeschnittene Fett- und Sehnenteile. Alles Reste vom Tisch reicher Leute. Davon haben wir gelebt, und wenn ich nicht genug gefunden habe oder es zu vergammelt war, haben sie mir nichts zu essen gegeben und mich verprügelt. Irgendwann bin ich dann weggerannt. Ich hatte Angst, dass sie mich umbringen würden, wenn ich bei ihnen bliebe.

Das ist meine Geschichte. Und was denkst du jetzt? Ich werde dir auch den Rest erzählen. Du wolltest wissen, wer Sebastian ist. Das weiß niemand so genau, und zu fragen trauen wir uns nicht. Ich habe gehört, dass er Universitätsprofessor war, bis ihm die Frau weggelaufen ist und er angefangen hat zu trinken. Andere behaupten, dass er Kellner in einem vornehmen Hotel war und dass er dort gelernt hat, verschiedene Sprachen zu sprechen. Ich bin jedenfalls in die Giftstadt gegangen, um von der Frau und ihrem Bruder wegzukommen. Hier habe ich Sebastian getroffen, und er hat mich aufgenommen.

Er ist kein schlechter Mensch. Er schlägt mich nur, wenn er sehr betrunken ist, und bisher hat er sich dann immer am nächsten Tag entschuldigt. Alle Kinder hier im Haus arbeiten für ihn. Er hat mir beigebracht, wie man vor den Autos der Touristen jongliert. Manchmal kriege ich dafür fünf amerikanische Dollar, aber ich muss vier davon abgeben. Wir waschen auch Wagenfenster und verkaufen Fingerpuppen. Manchmal kriegen wir einen Job als Fahrkarteneinsammler im Bus. Sebastian kennt alle Fahrer, und so wird er uns auch morgen von hier wegbringen.«

Pedro verstummte.

»Eines hast du nicht erzählt«, sagte Matt. »Hast du gewusst, dass der Fluss über die Ufer treten würde?«

»Wie hätte ich das wissen sollen?«

»Du hast also keine Warnung gekriegt – vielleicht am Tag zuvor?«

»Nein.«

»Als meine Eltern starben, wusste ich, was passieren würde. Ich hatte es im Traum gesehen.«

»Solche Träume hatte ich noch nie. Vergiss es, Matteo. Ich bin nicht wie du. Ich habe keine besonderen Kräfte oder Fähigkeiten… abgesehen davon, dass ich diese schaurigen Träume habe, in denen du vorkommst.«

»Du begleitest mich nach Ica«, stellte Matt fest.

Pedro runzelte die Stirn. »Ich will eigentlich nicht weg von hier. Aber Sebastian sagt, dass ich nicht länger bleiben kann. Es ist zu gefährlich. Und außerdem…« Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Jetzt, wo wir uns gefunden haben, kann ich dich nicht im Stich lassen. Also… ich komme mit.«

»Danke«, sagte Matt.

Pedro war genau der Mensch, den er jetzt brauchte. Er war nicht mehr allein.

Matt stand auf, und im selben Augenblick schien es, als wäre die ganze Traumwelt mit einem riesengroßen Messer durchgeschnitten worden. Matt verspürte keinen Schmerz. Er war nicht einmal geschockt. Aber das Meer und die Insel waren plötzlich verschwunden, und er lag hellwach auf dem Fußboden in Sebastians Hütte.

Er sah zu Pedro hinüber, der unter seiner Decke immer noch fest schlief. Der Junge hatte sich nicht verändert, aber Matt sah ihn jetzt mit anderen Augen. Er wusste alles über ihn. Sie hätten schon ihr ganzes Leben lang Freunde sein können. In gewisser Weise, dachte Matt, waren sie das auch.

Draußen dämmerte es. Die ersten zartrosa Streifen breiteten sich am Himmel aus und verkündeten den Anfang eines neuen Tages.

 

Mitternacht in London.

Susan Ashwood saß in dem geräumigen Wohnzimmer eines Penthauses hoch über der Park Lane. Deckenhohe Fenster gewährten einen Panoramablick auf den dunklen Hyde Park, hinter dem die Lichter von Knightsbridge funkelten. Susan konnte das alles nicht sehen, und so konzentrierte sie sich nur auf die Frau, der die Wohnung gehörte und die ihr gegenübersaß.

»Danke, dass Sie mich so spät noch empfangen«, sagte Miss Ashwood.

»Sie müssen sich ganz bestimmt nicht bei mir bedanken«, erwiderte Nathalie Johnson.

Die Amerikanerin saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf der Couch und hatte ein Glas Weißwein in der Hand. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid. Sie hatte gerade ins Bett gehen wollen, als die blinde Wahrsagerin sie angerufen hatte. Sie lebte in dieser Wohnung, wenn sie sich in London aufhielt. In New York hatte sie eine ähnliche mit Blick auf den Hudson River.

»Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.« »Machen Sie sich keine Sorgen, Susan. Sie sind bei mir jederzeit willkommen.«

Nathalie Johnson war seit elf Jahren Mitglied des Nexus’. In dieser Zeit hatte sie sich mit dem Verkauf von preiswerten Computern an Schulen und anderen Einrichtungen ein Imperium aufgebaut. Die Zeitungen sahen in ihr den weiblichen Bill Gates. Sie fand diesen Vergleich nicht nur unpassend, sondern auch frauenfeindlich.

»Matthew Freeman ist immer noch verschwunden«, fuhr Susan Ashwood fort. »Mittlerweile haben wir herausgefunden, dass es in der Nähe des Jorge-Chávez-Flughafens eine Schießerei gegeben hat. Richard Cole ist entführt worden, aber Matt konnte entkommen. Nach unseren Informationen ist er seitdem nicht wieder aufgetaucht.«

»Wir haben ihn nach Peru geschickt, weil wir wollten, dass etwas passiert«, bemerkte die Amerikanerin. »Aber diese Entwicklung hatten wir nicht erwartet.«

»Das hätte keiner von uns voraussehen können.«

»Was sollen wir tun?«, fragte Nathalie Johnson.

»Sie haben doch geschäftliche Kontakte in Südamerika…«, sagte Miss Ashwood.

»Ich kann mit Diego Salamanda reden, wenn Sie das wollen.« »Sie haben erwähnt, dass Sie Geschäfte mit ihm machen.« »Ich bin ihm nie begegnet, aber wir haben oft telefoniert.« Nathalie Johnson zögerte. »Ich glaube jedoch, dass wir vorsichtig sein sollten, was ihn betrifft. Er ist unser Hauptverdächtiger. Es ist relativ wahrscheinlich, dass er derjenige ist, der mit aller Macht das Tor öffnen möchte.«

»Mr Fabian versucht, Matthew zu finden«, berichtete Susan Ashwood. »Er macht sich furchtbare Sorgen um ihn und gibt sich die Schuld, weil er nicht selbst zum Flughafen gefahren ist, um die beiden abzuholen. Er hat schon mit der Polizei gesprochen, ist aber nicht sicher, ob er ihr vertrauen kann. Von ihm kam der Vorschlag, dass wir landesweit in den Zeitungen Suchanzeigen abdrucken.«

»Nach dem Motto: Haben Sie diesen Jungen gesehen?« Der Gedanke schien Nathalie Johnson zu amüsieren.

»Jemand muss doch wissen, wo er ist. Ein englischer Junge allein in Peru – «, begann Miss Ashwood.

»Vorausgesetzt, dass er noch lebt.« Die Amerikanerin stellte ihr Weinglas ab. »Ich werde mich um die Anzeigen kümmern, wenn Sie das wünschen«, sagte sie. »Das kann mein New Yorker Büro organisieren.«

»Da ist noch etwas…« Die blinde Frau zögerte, um sich zu sammeln. Sie machte ein ernstes Gesicht. »Ich habe darüber nachgedacht, was passiert ist«, fuhr sie fort. »Erst diese Geschichte mit William Morton. Wir waren die Einzigen, die den Treffpunkt kannten, und er hat ihn uns erst vierundzwanzig Stunden vor seinem Treffen mit Matthew mitgeteilt. Und trotzdem hat es jemand geschafft, ihn bis zur Kirche zu verfolgen. Er hat ihn umgebracht und das Tagebuch gestohlen.

Und dann Richard Cole und Matthew: Sie reisen unter falschen Namen, und trotzdem weiß jemand, dass sie kommen. Sie sind in einen Hinterhalt geraten. Mr Fabians Fahrer wurde angeschossen. Und Richard Cole ist jetzt in den Händen von Entführern.«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Dass unser Feind immer genau Bescheid weiß. Jemand verrät ihm alles, was wir tun und planen.«

Nathalie Johnson erstarrte. »Das ist doch lächerlich!« »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil wir uns schon lange kennen und mir mein Gefühl sagt, dass ich Ihnen vertrauen kann, Nathalie. Ich habe den anderen nichts davon gesagt, aber ich denke, wir sollten vorsichtig sein. Wenn es im Nexus einen Verräter gibt, könnten wir alle in Gefahr schweben.«

»Wir sollten die anderen warnen.«

»Noch nicht. Erst müssen wir Matthew Freeman finden – das ist wichtiger. Das zweite Tor wird sich in Kürze öffnen, und er ist der Einzige, der das verhindern kann. Es spielt keine Rolle, was aus uns wird. Wenn wir den Jungen nicht finden, sind wir ohnehin verloren.«

 

Der Busbahnhof war wie ein kunterbunter Freiluftzirkus, ein wirres Durcheinander von Farben und Geräuschen. Überall waren Leute und Gepäckstücke, Straßenhändler priesen lautstark ihre Waren an, alte Frauen mit großen Schals saßen hinter aufgetürmten Papayas und Bananen, Kinder und Hunde tobten durch das Chaos, und ein paar schäbige Busse hatten schon den Motor angeworfen. Noch reiste niemand ab, aber jeder schien es eilig zu haben. Große Säcke und Kartons wurden von Hand zu Hand weitergereicht und schließlich auf die Dächer der Busse geworfen und dort festgezurrt. Der Boden war übersät mit alten Fahrkarten, die aussahen wie Konfetti, und neue Fahrkarten wurden an Schaltern verkauft, die kaum größer waren als Puppentheater. Am Rand des Busbahnhofes kochte eine Indiofrau in einer großen Blechdose cau cau – einen Eintopf aus Innereien und Kartoffeln. Ein paar Reisende hockten um sie herum und aßen von Plastiktellern. Der Essensgeruch mischte sich mit den Abgasen.

Matt betrachtete das bunte Durcheinander, als er mit Sebastian und Pedro den Busbahnhof erreichte. Sie waren zu Fuß gekommen und um bereits fünf Uhr morgens in der Giftstadt aufgebrochen. Sebastian hatte die Fahrkarten schon gekauft und war so nett, sie bis Ica zu begleiten. Obwohl er betrunken gewesen war, als er ins Bett ging, wirkte er beim Aufwachen ziemlich nüchtern. Auf seine Art war er sogar fröhlich.

»Es besteht nicht die geringste Chance, dass du deinen Freund in Ica findest«, hatte er gesagt. »Aber nachdem du Diego Salamanda deine Aufwartung gemacht hast, könnt ihr nach Ayacucho weiterfahren. Ich werde dort auf euch warten.«

Sie gingen an einer Reihe von Läden vorbei, und durch eine offene Tür bemerkte Matt einen Jungen, der ihn ansah. Er war in seinem Alter und trug ein grünes T-Shirt und Jeans, die ihm deutlich zu kurz waren. Er hatte keine Strümpfe an, sondern nur schwarze Gummisandalen. Der Junge hatte schwarze Haare, die über den Augen gerade abgeschnitten waren, und dunkle Haut. Er war unglaublich schmutzig.

Matt bewegte sich, und der Junge machte dasselbe. Erst in dem Moment begriff Matt, dass er in einen Spiegel schaute. Der Junge war er selbst.

Sebastian hatte alles beobachtet. »Du hast dich nicht erkannt«, prustete er los. »Hoffen wir, dass es denen genauso geht.«

Er warf einen kurzen, bedeutsamen Blick in die andere Richtung, und Matt spürte, wie sein Mund trocken wurde, als er die beiden Polizisten sah, die den Busbahnhof überwachten. Ihre Anwesenheit konnte alle möglichen Gründe haben, aber Matt wusste instinktiv, dass sie seinetwegen da waren. Pedro fragte etwas auf Spanisch, und Sebastian beruhigte ihn. Als Pedro aufgewacht war, hatten seine Gesten Matt klar gemacht, dass auch er sich an ihr Gespräch im Traum erinnerte. Pedro gefiel das alles ganz und gar nicht, aber er würde Matt beistehen.

»Denk daran, dich klein zu machen«, flüsterte Sebastian. »Deine Größe wird dich sonst verraten. Hier, nimm das…«

Sebastian gab Matt einen großen weißen Sack. Matt hatte keine Ahnung, was darin war. Er war nicht einmal sicher, ob es echtes Gepäck war oder nur eine Attrappe, dank der sie wie richtige Reisende aussahen. Aber er verstand Sebastians Plan: Vornübergebeugt, mit dem Sack auf den Schultern, sah Matt aus wie ein Dienstbote, der das Gepäck seines Herrn trug. So konnte er seine wahre Größe verbergen, und wenn er den Kopf gesenkt hielt, war sein Gesicht nicht zu sehen.

Sie setzten sich in Bewegung. Auch die Polizisten gingen langsam durch die Menge, die sich teilte, um sie durchzulassen.

»Hier lang«, sagte Sebastian leise.

Er steuerte auf einen Bus zu, der schon halb voll war. Die beiden Polizisten hatten sie nicht bemerkt. Matt erreichte die Tür, und sein Herzschlag setzte aus. Ein dritter Polizist stieg gerade aus dem Bus. Matt wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. Gebückt unter dem Bündel, konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen – nur seine Stiefel und den Lauf seiner Waffe. Und dann sagte der Polizist etwas, und Matt war klar, dass er ihm eine Frage gestellt hatte. Jetzt war er geliefert. Matt konnte nichts sagen. Der Polizist wiederholte seine Frage.

Und dann packte eine Hand das Bündel und riss es von seinem Rücken. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte Matt, dass es der Polizist war. Doch es war Sebastian. Auf Spanisch schrie er Matt an, und bevor er reagieren konnte, hatte Sebastian ihm eine gewaltige Ohrfeige verpasst. Sebastian schlug ihn noch ein zweites Mal, dann warf er ihn in den Bus. Matt schlug der Länge nach hin. Hinter sich hörte er Sebastian mit dem Polizisten reden und lachen. Im Bus waren ungefähr zwanzig Leute, und alle starrten Matt an. Mit glühenden Wangen – vor Schmerz und vor Verlegenheit – stolperte er vorwärts und fand einen freien Platz.

Pedro stieg ein, und Sebastian folgte ihm. Er setzte sich neben Matt, sagte aber kein Wort. Noch mehr Leute kamen in den Bus, einige hatten eine Ziege am Strick dabei und andere Hühner in Körben. Kurze Zeit später waren alle Sitzplätze belegt, und der Mittelgang war voller Leute, die am Boden hockten. Schließlich stieg auch der Busfahrer ein. Er schwang sich in seinen Sitz und startete den Motor. Der ganze Bus begann zu rattern und zu wackeln.

Der Fahrer legte den Gang ein, und der Bus fuhr mit einem Ruck an. Matt sah aus dem Fenster und stellte fest, dass der Polizist wegging.

»Das war knapp«, murmelte Sebastian. Halblaut fuhr er fort: »Ich musste dir wehtun, weil der Polizist misstrauisch wurde. Ich habe ihm gesagt, dass du mein Neffe und ein Idiot bist – du hättest einen Hirnschaden und ihm deswegen nicht den gebührenden Respekt erwiesen.«

»Hat er nach mir gesucht?«

»Ja. Er hat es mir gerade erzählt. Sie haben eine riesige Belohnung – hunderte von Dollar – auf dich ausgesetzt. Sie behaupten immer noch, dass du ein Terrorist bist.«

»Aber wieso denn? Das sind Polizisten! Warum verbreiten die solche Lügen?«

»Weil sie jemand bezahlt hat. Was dachtest du denn? Vielleicht ist Ayacucho doch nicht der richtige Ort für dich. Solange du in Peru bist, solltest du dich nirgends sicher fühlen, aber ohne Pass kannst du das Land nicht verlassen.«

Mit viel Geratter fuhr der Bus hinaus auf die Hauptstraße. Als er um die Ecke bog, wurden die Passagiere in ihren Sitzen hin und her gerüttelt, und Tiere schrien verängstigt. Dann trat der Fahrer aufs Gas, und der Motor heulte auf. Die lange Reise Richtung Süden hatte begonnen.