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Der Hauptkomplex war ein Grab, verglichen mit den wenigen anderen Malen, die ich ihn betreten hatte. Archivspeicher lagen überall verstreut herum, jeder enthielt Tausende von Computer-Speicherkristallen, und die normalerweise makellos aufgeräumten Büros zeigten Anzeichen eines überstürzten Aufbruchs. Jeder, dem wir begegneten, schien in wahnsinniger Eile zu sein.

Dal Corst schenkte dem höllischen Betrieb um ihn herum keine Beachtung, sondern führte uns geradewegs zum Grav-Schacht und hinauf in die oberste Etage. Er betrat einen Konferenzraum und schaltete das Licht an.

„Setzt euch so hin, daß ihr einen guten Blick auf den Schirm habt.“

Haret und ich ließen uns gerade in zwei hochlehnige Sessel fallen, als der Wand-Bildschirm am einen Ende des Raums sich erhellte und ein Parazeit-Fluß-Diagramm zeigte: eine dreidimensionale Darstellung der Zusammenhänge zwischen einer Anzahl von Zeitlinien.

Das Lesen von Parazeit-Karten ist die Sache von Experten – und ich war keiner, nicht als Außenseiter. Dennoch erkannte ich das Diagramm auf dem Bildschirm. Es war eine Darstellung der Hauptzeitlinien der Taladoranischen Konföderation und enthielt die wichtigsten Zeittore, die sie untereinander verbanden.

Die Konföderation besteht aus einer Gruppe von siebenundzwanzig Zeitlinien, die sich zur gemeinsamen Verteidigung zusammengeschlossen haben – das klassische Beispiel einer gegenseitig abhängigen Zeitlinien-Ballung. Wir hatten die Mathematik dieser Situation in Zeitphysik durchgenommen, aber so ganz verstand ich sie trotzdem nicht. Ihre Mathematik war esoterisch genug, um selbst Albert Einstein Kopfschmerzen zu bereiten. Statt dessen verfiel ich auf eine Analogie.

So wie ich sie betrachtete, sahen die Zeitlinien wie die Leitungsstränge in einem Telefonkabel aus, das zu lange unter den Straßen der Stadt gelegen hatte. Wenn die Isolation des Kabels beginnt, sich an kleinen Stellen abzulösen, entsteht ein Kurzschluß, und ein elektrischer Lichtbogen springt von einem Strang zum anderen über. Überall, wo solch ein Lichtbogen erscheint, bildet sich ein Durchgang zwischen den Zeitlinien.

Dal Corst berührte eine Kontrolltaste, und das kurz vor dem Wandschirm im Raum schwebende Hologramm wechselte. Es war nun eine Nahaufnahme eines Abschnitts aus diesem Diagramm, welche die Verbindungen zwischen Salfa Null und Salfa Eins zu den Hauptzeitlinien der Konföderation zeigte.

„Das Problem ist einfach“, begann Dal ohne Vorrede. „Das dalgirische Shuttle, welches Salfa Eins gestern morgen überfiel, kam nicht durch das einzige Portal dieser Zeitlinie. Es erschien zuerst südöstlich von unseren Verteidigungsstellungen und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit direkt auf den Sprungpunkt nach Salfa Null zu.“

„Aber ich sah, wie Shuttles im Zeittor materialisierten“, warf ich ein.

„Was du sahst, waren taladoranische Verstärkungstruppen, die von Jafta als Reaktion auf den Hilferuf der Akademie herüberkamen. Ich wiederhole: Der dalgirische Angreifer kam nicht durch das Zeittor.“

„Aber das ist unmöglich“, meinte Haret. „Er mußte dort durchkommen.“

„Was er nicht tat, unmöglich oder nicht!“ erwiderte Dal.

„Es muß noch einen weiteren Verbindungspunkt geben, einen, den wir noch nicht entdeckt haben.“

„Nein, wir haben das überprüft. Es gibt nur eine einzige Verbindung.“

Haret schwieg mit sorgenvollem Gesicht. Ich konnte verstehen, was sie beschäftigte. Wenn das Shuttle von Dalgir nicht durch das Portal gekommen war, bedeutete dies, daß das Imperium einen Durchbruch erzielt hatte. Wenn die Dalgiri kommen und gehen konnten, wann sie wollten, würde niemand in der Parazeit sicher vor ihnen sein. Die Büchse der Pandora stand weit offen, und es gab niemanden, der sie wieder schloß.

„Ist deswegen die Evakuierung angeordnet worden?“ fragte ich.

„Natürlich. Diese Akademie stellt für uns eine wichtige Investition dar. Wir können uns das Risiko einer Zerstörung nicht leisten, nicht, wenn die Zeitwacht so unterbesetzt ist. Weißt du, was der Verlust von zwölftausend in der Ausbildung stehenden Zeitwächtern für unsere nächste Generation bedeuten würde?“

„Dann wären wir besiegt“, erklärte Haret. „Den Dalgiri stünde es frei, uns zu überfallen, wann immer sie wollen.“

„Vielleicht“, meinte Dal. „Aber vielleicht auch nicht. Es gibt da einiges an unserem Angreifer, was wir bisher nicht verstehen.“ „Was zum Beispiel?“

„Zum Beispiel, daß er unsere zwei justierten Geschützbatterien schnell zerstörte, aber nicht weiter auf die Akademie selbst vorrückte, bis es zu spät war. Es war fast so, als ob er genauso überrascht war, uns zu sehen, wie wir es bei seinem Anblick waren.“

„Ja?“

„Wieso erschien er hier, wenn er nicht einen Kampf erwartete? Vielleicht hatte er keine andere Wahl, etwa weil die Zeitlinie, von der er transitierte, in der Nähe liegt.“

„Dann müßte er von Salfa Null kommen“, überlegte Haret. „Unter den Bedingungen übergeordneter Energiepotentiale wäre das die Zeitlinie, die am nahesten zu dieser liegt.“

, ‚Vielleicht nicht.’’ Dal Corst drückte ein weiteres Mal die Schirmkontrollen, und ein völlig neuartiges Diagramm bildete sich in der dünnen Luft. Es unterschied sich vollkommen von jedem, das ich vorher gesehen hatte.

„Wir haben kürzlich mit Computer-Darstellungen der Parazeit experimentiert, in der Hoffnung, unsere Kenntnis der Parazeit-Zusammenhänge zu verbessern. Dies ist solch ein Modell des Paares Salfa Null/Salfa Eins. Ihr werdet bemerken, daß diese zwei Zeitlinien mit einer theoretischen dritten Linie, zu der wir keinen Zugang haben, eine untereinander verbundene Ballung bilden“, erklärte er ernst.

Ich schaute auf den Bildschirm und lenkte meinen Blick auf den rot getönten, sich windenden Schneckenpfad, der sich durch die grünen Linien der Konföderation und ihrer Besitzungen schlängelte. Nirgendwo entlang der neuen Linie erschien das gebogene, trapezförmige Symbol, welches die Anwesenheit eines Zeittores kennzeichnete, das sie mit einer taladoranischen Zeitlinie verband.

„Du nimmst an, daß der Dalgiri von dieser hypothetischen dritten Linie kam?“ fragte Haret.

 

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Dal machte ein finsteres Gesicht. „Das ist es gerade, was wir herausfinden wollen.“

„Wie?“

„Wir haben eine Folge von Zeitpassagen aufgezeichnet, die es uns ermöglichen sollte, die fragliche Linie zu erreichen. Unglücklicherweise wird der letzte Sprung von einer dem Dalgirischen Imperium freundlich gesinnten Zeitlinie durchgeführt werden müssen, es ist also riskant.“

„Wieso wir?“ fragte ich. „Oder genauer: wieso ich? Ich trainiere hier erst seit wenig mehr als achtzehn Monaten. Ihr solltet besser eine Mannschaft ausgebildeter Zeit Wächter nehmen.“

Dals Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, das an die Mona Lisa erinnerte. Ich überlegte kurz, ob er dieses Gemälde jemals gesehen hatte und sich mit Absicht so gab. „Als mir dieses Unternehmen übertragen wurde, dachte ich sofort an dich, Duncan. Du bist meine …“ Seine Augen wurden für einen Moment leer, als würde er einen überfüllten Gedächtnis-Speicher befragen. „… Hasenpfote. Ich glaube, das ist der richtige Ausdruck.“

„Äh … wie?“

„Ich hatte in unserem Kontrollzentrum in New York Dienst in jener Nacht, als Jana Dougwaix berichtete, sie habe einen Dalgiri getötet und einen Außenzeitler ins Vertrauen gezogen. Und später, als sie mich informierte, was sie über das dalgirische Ziel herausgefunden hatte, war ich es, der ihr die Erlaubnis gab, dir den Eintritt in die Zeitwacht anzubieten.

Du bist das einzige Wesen in der ganzen Konföderation, dessen Überleben vorherbestimmt ist. Wer wäre für einen Auftrag im Imperium besser geeignet? Nebenbei war ich bei meinem Aufenthalt in Euro-Amerika sehr von deinem Volk beeindruckt. Ihr denkt nicht so wie wir. Es könnte nützlich sein, dich wegen deines unterschiedlichen Standpunktes dabei zu haben.“

„Und was ist mit mir?“ fragte Haret. „Ich habe keine solchen Qualifikationen.“

Dal wandte sich an Haret. „Deine Akten sind gut, und, ganz offen gesagt, ich habe nicht die Zeit, um einen Besseren zu suchen. Ist dir das unangenehm, Zeitwacht-Anwärterin?“

„Ein wenig.“

Ich schaute zu Haret, und sie blickte zurück zu mir. Lange Zeit sagte keiner von uns etwas. Schließlich räusperte ich mich und wandte mich an Dal Corst.

„Wann brechen wir auf?“