„Sie wurden nicht beerdigt. Man hat sie an einem traditionellen Platz unter den freien Himmel gelegt. Dort lagen schon viele Jinrah-Knochen.“
„Wo war das?“
„Wieso?“
„Ich möchte eine Autopsie machen.“
Mit einem Schlag war Martina hellwach. „Was?“
„Eine Autopsie. Ich darf mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.“
„Augenblick mal. Ich weiß nicht, wie die Jinrah darauf reagieren würden.“
„Sie müssen es ja gar nicht erfahren. Ich bringe die Körper wieder zurück, wenn ich fertig bin.“
Sie richtete sich im Bett auf. „Jack, das ist Grabräuberei!“
„Du sagtest doch, man hätte sie nicht vergraben.“
„Nun werde nur nicht spitzfindig! Du willst dir die Leichen von denkenden Wesen aneignen, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Das nenne ich Grabräuberei.“
„Ja, und …?“ Er starrte sie finster an. „Was macht das schon aus? Offensichtlich interessieren sie sich nicht für die Leichname. Sie haben sie doch einfach liegenlassen, unter freiem Himmel.“
„Natürlich achten sie ihre Toten.“
„Dann werde ich es nachts tun.“
Sie griff mit der Hand nach ihm, berührte ihn jedoch nicht. „Hör zu, ich werde die Familie um Erlaubnis fragen. Vielleicht geben sie ihr Einverständnis. Vielleicht. Sie wissen, daß du dich dafür interessierst, wie sie beschaffen sind.“
Er schüttelte heftig den Kopf. „Wenn du sie warnst, stellen sie vielleicht Wachen auf.“
„Jack, wenn sie dich dabei erwischen, weiß ich nicht, was sie mit dir tun werden. Es könnte gefährlich werden. Kulturen, die ihre Toten durch einen umfangreichen Trauerritus ehren, nehmen es meist nicht gelassen hin, wenn man ihre Grabstätten plündert.“
Seine Lippen preßten sich zu einer schmalen, harten Linie zusammen. „Mal wieder ein Tabu, hm?“
„Jack, du mußt dich beherrschen. Wir wissen einfach nicht, was passieren könnte.“
Er ballte die rechte Hand zur Faust, und Martina wich etwas zur Seite, die Faust nicht aus den Augen lassend. Er sagte: „Diese verfluchten Tabus machen mich krank!“
Sie antwortete sehr leise: „Mir machen sie auch zu schaffen.“
Seine Faust schoß herab und klatschte auf seinen Oberschenkel. „Ich muß die Autopsie machen. Ich brauche Gewißheit.“
„Worüber?“
„Ich glaube, ich weiß, woran sie gestorben sind.“
Martina sprang auf die Füße. „Du weißt es?“
„Vielleicht. Es wäre sehr gut möglich.“
„Was ist es?“
„Eine allergische Reaktion. Der Tod wurde durch eine Erkrankung der Atemorgane verursacht. Vielleicht waren auch andere Organe befallen. Ich muß es mir genau ansehen, Martina.“
„Eine Allergie? Wie bist du darauf gekommen?“
„Ich habe fremdes Protein in ihrem Speichel gefunden.“
Sie breitete verblüfft die Arme aus. „Es ist doch nichts Besonderes, wenn man im Speichel solche Proteine findet – sie sind schließlich in der Nahrung enthalten.“
„Diese Proteine nicht. Sie kommen in der Nahrung der Jinrah nicht vor. Es sind menschliche Proteine.“
„Menschlich?“
„Menschliche Blutproteine. Die Antigene A und Rh habe ich auch festgestellt.“
„Wie sollten sie an menschliches Blut kommen?“
Er zuckte die Achseln. „Sag du es mir. Hat sich vielleicht jemand geschnitten und sie mit seinem Blut beschmiert? Vielleicht sind sie Vampire?“
„Hast du auch andere Jinrah untersucht?“
„Ein paar, während du geschlafen hast. Ich habe keine weitere … Verseuchung festgestellt.“ Er entfernte sich von ihr, ging auf die Tür ihrer Kammer zu. „Diese Proteine sind übrigens auch in unserem Speichel enthalten. Hast du sie vielleicht beseibert?“
Martina verschränkte die Hände fest hinter dem Rücken. „Sind sie etwa gegen uns allergisch?“
Er zuckte wieder die Achseln. „Nur drei von uns haben A- und Rh-Antigene, du, ich und Paul. Wer von uns hat die meiste Zeit mit den verstorbenen Jinrah verbracht?“
Martina spürte, wie sich ihre Rückenmuskeln verkrampften. „Dann trage ich also die Schuld?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn ich dir eine Blutprobe abnehmen darf, dann kann ich sie mit den anderen Proteinen vergleichen und dir Gewißheit verschaffen.“
„Ich habe auch mit den anderen Jinrah viel Zeit verbracht, mehr als jeder andere von uns, aber ich habe nicht beobachtet, daß sie umgefallen sind wie die Fliegen.“
Ohne entschuldigenden Beiklang antwortete Jack: „Vielleicht irre ich mich auch. Durch eine Autopsie könnte man feststellen, ob ich unrecht habe oder ob es stimmt.“
„Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Martina.
Auf der Schwelle ihrer Kammer drehte er sich noch einmal um. „Ich kann dir übrigens sagen, was die Jinrah essen, ganz gegen deine Beobachtungen: die heiligen Pflanzen. Ihr Speichel ist voller Protein von diesen geheiligten Pflanzen.“
Ihre Augen wurden schmal. „Woher weißt du über die Proteine dieser Pflanzen Bescheid?“
Sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. „Ich habe mir ein paar Proben besorgt.“
„Hast du wilde Pflanzen gefunden?“
„Willst du es wirklich wissen?“
„Du hast also meine Befehle mißachtet?“
„Ich habe meine Arbeit getan.“
Sie ging auf ihn zu und stieß ihn durch die Türöffnung. „Ich will sie sehen.“
„Man kann die Pflanzen nicht mehr erkennen, ich habe sie präpariert.“
„Wie sahen deine Proben denn ursprünglich aus?“
„Nur ein paar kleine Zweige mit Blättern.“
„Von wie vielen Pflanzen?“
„Zwei.“
Sie packte ihn an der Schulter, ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. „Zwei Pflanzen, sagst du?“
Er umklammerte ihr Handgelenk, konnte aber ihren Griff nicht lösen. Da drückte er zu. Einen Augenblick lang standen sie schweigend da und fügten einander Schmerzen zu.
„Zeig mir die beiden Pflanzen!“ sagte sie schließlich.
„Sie sind tabu, vergiß das nicht.“
„Zeig sie mir aus der Feme. Ich will genau wissen, von welchen Pflanzen du etwas abgeschnitten hast. Los, komm!“
„In Ordnung.“ Er ließ ihr Handgelenk und sie seine Schulter los. Auf ihrer Haut waren rote Druckstellen zu sehen, und auf seiner Schulter zeigten sich ein paar Blutströpfchen. „Ich muß mir erst ein Pflaster auf diese Kratzer kleben“, sagte er, „ich will niemanden mit meinem Blut beschmieren.“
Später führte er sie zu einem heiligen Hain, der ein paar Kilometer von der Station entfernt war, und zeigte auf die Pflanzen, die er beschnitten hatte. Sie stand außerhalb des Umzäunungsgürtels aus niedrigem Buschwerk und musterte die Pflanzen durch das leise summende, automatische Fernrohr. Sie konnte nichts Besonderes feststellen. Die Pflanzen unterschieden sich in nichts von den Nachbarstauden: hohe, schlanke Gewächse, dicht mit Blattbüscheln besetzt.
„Wahrscheinlich kennen die Besitzer jeden verdammten Zweig ihrer Pflanzen“, murmelte sie. Fast hätte sie Jack angebrüllt, doch es gelang ihr, sich zu beherrschen, indem sie das Fernglas mit aller Kraft umklammerte. „Sie haben es gewußt, Jack. Sie haben ihre Pflanzen nur einmal angesehen und gewußt, daß das Tabu gebrochen wurde!“
„Wenn diese Pflanzen überhaupt den toten Jinrah gehört haben. Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es noch nicht, aber ich werde es herausfinden. Inzwischen verbiete ich dir, diese Autopsie vorzunehmen. Ich verbiete es als dein Vorgesetzter, und wenn du meine Befehle mißachtest, dann werde ich den Kapitän sofort davon in Kenntnis setzen. Hast du mich verstanden?“
„Verstanden“, zischte er grimmig.
„Beschäftige dich lieber mit deinen gestohlenen Pflanzen! Du wolltest sie ja unbedingt haben. Und vergreife dich nicht noch einmal an denen im Hain. Klar?“
„Gestohlene Pflanzen?“
„Ja, du hast sie gestohlen. Diese Pflanzen sind Privatbesitz. Wenn du die Jinrah schon nicht respektierst, dann respektiere wenigstens mich!“
„Ja, Sir“, sagte er und fuhr mit der Hand zu einem spöttischen Gruß an die Stirn.
Voller Abscheu kehrte sie ihm den Rücken zu und begab sich auf die Suche nach dem Häuptling. Sie fand ihn in den Erntegründen seiner Familie, wo er Beeren sammelte. Er ließ sie ihre Bitte vortragen, hörte ihre Versicherung, daß sie die Pflanzen nicht berühren wollte. Schließlich stimmte er zu, daß ein Mitglied der betroffenen Familie ihr die Pflanzen aus der Ferne zeigen sollte. Für die Familie war eine Bitte des Häuptlings wie ein Befehl, und so stand Martina bald wieder vor dem heiligen Hain, von einem Gatten der Familie begleitet. Er wies genau auf jene Pflanzen, von denen Jack seine Proben genommen hatte.
„Jetzt gehören sie niemandem mehr“, sagte er, „und niemand gehört zu ihnen. Sie werden bald verwelken und absterben und keine Kinder hinterlassen. Es ist sehr traurig, wenn man ohne Kinder stirbt.“
„Warum werden sie niemanden mehr haben?“ fragte Martina.
„Die Toten hatten keine Kinder.“
„Aber wieso hindert das die Pflanzen daran, ihre eigenen Kinder zu haben?“
„Sie haben jetzt keine Jinrah-Brüder mehr, die ihren Samen zu den Frauen ihrer Art tragen.“
„Gibt es denn sonst keine Möglichkeit, wie sie Schößlinge bekommen können? Können nicht wilde Tiere oder der Wind ihre Samen tragen?“
Seine Hand beschrieb eine verneinende Geste. „Andere Pflanzen brauchen den Wind und die Tiere, die Heiligen brauchen die Jinrah.“
Handbestäubung, Zucht, dachte sie. „Können sich die anderen Jinrah denn nicht um diese Pflanzen kümmern?“
Diesmal war seine verneinende Geste noch entschiedener. „Von der Geburt bis zum Tod hat jeder immer nur einen heiligen Bruder oder eine heilige Schwester. So ist es immer gewesen, und anders wird es niemals sein.“
Regeln, dachte sie. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen unumstößlichen Regeln.
Als Martina zur Station zurückkehrte, stieß sie auf den Häuptling und seine Mitgatten, die vor der Eingangstür auf sie warteten.
„Der Häuptling hat eine Bitte an die Besucher aus dem Himmel“, sagte er.
Sie sah ihn abwartend an.
„Es war niemand von den Jinrah, der die heiligen Brüder der Gestorbenen verstümmelt hat“, erklärte er. „Daher müssen die Jinrah fragen, wer von den Besuchern aus dem Himmel dies getan hat.“
Martina stand reglos vor ihm. „Wieso denken die Jinrah, daß ein Besucher aus dem Himmel gegen das Tabu verstoßen hat? Es könnte doch ein wildes Tier in den Hain eingedrungen sein.“
Der Häuptling winkte ab. „Dagegen pflanzen wir einen Ring aus übelriechenden Büschen um die Haine, doch wir haben festgestellt, daß die Besucher aus dem Himmel den Geruch gar nicht bemerken.“
Martina versuchte sich zu besinnen, ob sie etwas Ungewöhnliches gerochen hatte, wenn sie zwischen den Büschen stand. Nein, da war nur die schwere Feuchtigkeit der Luft, der Geruch von durchtränkter Erde und wachsenden Dingen und schließlich die schwache Ausdünstung der Jinrah selbst. „Vielleicht hat der Regen sie beschädigt?“
Der Häuptling verneinte erneut. „Der Regen bringt den Heiligen keinen Schaden.“
„Ja, kann er denn nicht die Blätter zerfetzen oder abschlagen?“
„Das ist kein Schaden“, sagte der Häuptling.
„Nein? Was ist ein Schaden?“
„Schaden entsteht nur durch die Berührung durch falsches Fleisch.“
„Mag es sein, daß der Häuptling und der Besucher von den Sternen nicht von der gleichen Art Schaden sprechen?“
„Es gibt nur eine Art Schaden. Zwei Jinrah sind tot, und ihre Heiligen werden gleichfalls sterben. Einen anderen Schaden gibt es nicht. Frage nach, unter deinen Leuten. Der Täter soll sich zu erkennen geben und seine Strafe empfangen. Die Jinrah warten.“
Sie zögerte. Sie wollte andeuten, daß ein Feind die Jinrah auf diese Art hatte verletzen wollen, aber sie durfte es nicht riskieren, einen Stammeskrieg zu stiften.
„Was wird es für eine Strafe sein?“ fragte sie schließlich.
„Der Tabuschänder wird mit Steinen beschwert und in einen Fluß geworfen.“
„Eine sehr schwere Strafe“, sagte sie leise.
„Zwei Jinrah sind tot“, entgegnete der Häuptling.
„Und wenn die Besucher aus dem Himmel nicht ermitteln können, wer der Täter ist?“
„Dann sind die Besucher aus dem Himmel das Vertrauen der Jinrah nicht wert. Sie müssen fort von hier und dürfen niemals zurückkehren.“
Mit einer zustimmenden Geste sagte Martina: „Dieser Besucher wird die anderen fragen.“
Die gekühlte Luft traf sie wie ein Wasserguß, und sie begann zu frösteln. Jack war im Biologielabor, und als er sie erblickte, winkte er sie aufgeregt mit der Hand heran.
„Das ist phänomenal“, sagte er. „In dem Pflanzenmaterial habe ich Jinrah-Proteine entdeckt.“ Er breitete mehrere Fotografien auf dem Tisch aus, wies auf Formen und Farben. „Die Pflanzen nehmen sie wahrscheinlich während des Meditationsrituals von den Jinrah auf. Die tierischen Proteine werden völlig unverändert in die Struktur der Pflanzen eingebaut!“ Er fuchtelte ihr mit den Fotografien vor dem Gesicht herum. „Vielleicht funktioniert der Prozeß auch anders herum. Du hast immer gesagt, daß sie die Pflanzen nicht essen; sie rauchen sie nicht, und sie schnupfen sie nicht. Doch irgendwie gelangen die Proteine in ihren Speichel, vielleicht nehmen sie sie direkt durch die Haut auf und verarbeiten sie so, wie sie sind. Vermutlich findet man sie überall in ihrem Blut und ihren Blutgefäßen … Wenn ich doch nur eine Autopsie bei den beiden Leichen machen könnte …“
„Jack!“ Martina sprach sehr laut. „Sie wissen alles!“ Sie sah ihm ins Gesicht. „Sie wissen, daß es einer von uns war.“
Er verzog verächtlich den Mund. „Blödsinn, das können sie gar nicht wissen.“
„Sie wissen es, und sie warten draußen, um den Schuldigen zu bestrafen.“
„Niemand hat mich gesehen“, stieß er hervor. „Sie können es nicht wissen.“
„Sie sind ihrer Sache sehr sicher.“
„Sie suchen doch nur nach einem Sündenbock.“
„Jack, du hast es getan. Was spielt es für eine Rolle, wie sie es herausgefunden haben? Sie haben recht.“
„Hast du es ihnen vielleicht gesagt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihnen versprochen, daß ich hier nach dem Schuldigen suchen würde.“
„Na schön, dann suche nach ihm, und anschließend gehst du hinaus und sagst ihnen, daß du ihn nicht gefunden hast.“
Sie kreuzte die Arme über der Brust. „Du hast gesagt, die Pflanzen absorbieren Protein, wenn die Jinrah sie berühren?“
„Ja, das stimmt.“
„Nun, du hast die Pflanzen auch berührt.“
„Ja, und?“
„Stell dich nicht dumm! Was haben die Pflanzen von dir aufgenommen? Die Antigene A und Rh?“
„In meinen Mustern waren keine menschlichen Proteine.“
„In den Mustern, die du mitgenommen hast, nicht, Jack. Aber wie ist es mit den Pflanzen, von denen du die Zweige und Blätter abgeschnitten hast? Hast du nicht vielleicht ein paar Blätter mit deinem Arm oder deiner Schulter gestreift? Oder mit deinem verschwitzten Handrücken?“
„Das könnte sein …“
„Und die Jinrah nehmen Proteine aus den Pflanzen auf, absorbieren sie, essen sie oder was auch immer! Nun, Jack, könnten sie so an deine Antigene gelangt sein, was meinst du dazu?“
Er zuckte die Achseln. „Wenn die Pflanzen und die Jinrah Proteine austauschen, dann können auch meine in diesen Kreislauf gelangt sein, ja, das ist möglich.“
Sie schüttelte die Faust in seine Richtung. „Wunderst du dich immer noch, daß die Pflanzen tabu sind? Von der Geburt bis zum Tod hat jeder seine eigene Pflanze. Niemand sonst berührt sie, nicht einmal Tiere. Ausschließlich die Proteine des Besitzers gelangen in die Pflanze. Vielleicht sind die Jinrah sogar gegeneinander allergisch.“
„Dann könnte irgend jemand das Tabu gebrochen haben, um sie zu töten.“
„Irgend jemand war es nicht. Dazu gibt es nämlich Tabus.“ Ihr Gesicht war sehr ernst. „Es war Mord, Jack, und du bist der Mörder. Sie warten draußen, um dich zu bestrafen.“
Langsam trat er einen Schritt von ihr zurück. „Bestrafen! Das hast du eben schon gesagt. Was meinst du damit?“
„Primitive Kulturen haben eine primitive Auffassung von der Strafe. Auf Mord steht die Todesstrafe.“
„Fein, meinetwegen können sie sich ihre Strafe sonstwohin stecken! Sag ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren!“
„Sie haben erklärt, daß wir alle für immer hier weg müssen, wenn wir den Schuldigen nicht ausliefern.“
„Blödsinn!“
„Das wäre ein schwerer Schlag für meine Arbeit.“
Er grunzte. „Immer wieder deine Arbeit, hm?“
„Die Jinrah werden nie wieder Vertrauen zu irgendeinem menschlichen Wesen haben.“
Er lachte, eine beißende Schärfe lag in diesem Lachen. „Also willst du mich ihnen ausliefern, um ihr Vertrauen zu erhalten? Was haben sie denn mit mir vor? Wollen sie mich steinigen, auf einen Scheiterhaufen stellen?“
„Sie haben gesagt, daß sie dich mit Steinen beschweren und in einen Fluß werfen wollen.“
„Phantastisch! Nun, ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht, wenn ich dazu keine Lust habe.“
„Du wirst dich stellen.“
Er lief rot an. „Mach keine Witze!“
„Es muß sein. Du mußt sterben, damit wir anderen bleiben können. Fiona wird deine Arbeit fortführen. Ich werde den Kapitän herunterrufen, damit er an der Bestrafung teilnimmt. Ich glaube, daß der Häuptling diesen offiziellen Anstrich schätzen wird.“
Der Kapitän schwitzte im Schatten von Martinas Sonnenschirm. „Er ist etwas zu ruhig, finde ich. Sollte er sich nicht ein wenig wehren?“
„Ein Jinrah würde sich auch nicht wehren“, entgegnete Martina. Sie sah teilnahmslos zu, wie die Gatten aus der Trauerfamilie Jacks Hände hinter dem Rücken fesselten, seine Fußgelenke verschnürten und einen Stein an ihm befestigten, der mehr wog als Jack selber. Fast der gesamte Stamm hatte sich versammelt, um zuzusehen.
„Wie lange müssen wir warten, bis wir ihn herausholen können?“ fragte Fiona. Sie stand bei den anderen Wissenschaftlern, ein Stück hinter Martina und dem Kapitän.
„Sie werden fast den ganzen Nachmittag am Ufer bleiben. Der Häuptling sagt, daß sie ihm so ihre Achtung erweisen.“
Chris erwiderte: „Sie wollen nur ganz sichergehen.“
„Ich habe ihnen erklärt, daß es nicht lange dauert“, sagte Martina. „Sie schienen mir zu glauben. Sie haben mir bisher immer geglaubt.“
Der Kapitän fragte leise: „Sie haben ein Schuldgefühl wegen dieser Sache, nicht wahr?“
„Sie belügen einander niemals, Kapitän. Und ich glaube auch, daß sie uns noch nie belogen haben.“ Einen Moment lang schürzte sie nachdenklich die Lippen, dann fuhr sie mit entschlossener Stimme fort: „Wir sind mit unserer Arbeit noch nicht fertig. Es ist noch soviel zu tun, und uns bleiben nur noch vier Monate. Wir können es uns nicht leisten, an einer anderen Stelle von vorn zu beginnen, wo wir die Beziehungen zu einem Stamm erst neu aufbauen müßten.“
„Es war die richtige Entscheidung“, sagte der Kapitän, „und eine intelligente Entscheidung.“
„Es geht los!“ rief Chris.
Um Jack und den Stein in den Fluß zu werfen, waren vier Jinrah-Männer erforderlich. Er versank augenblicklich; ein paar Blasen markierten die Stelle, wo er verschwunden war. Die Wasseroberfläche war wieder glatt.
„Glauben Sie, daß ich auch hierbleiben sollte?“ fragte der Kapitän.
Martina nickte. „Sie erwarten es.“
Während die Menschen noch am Ufer standen, bildeten die Jinrah einen Kreis um sie und setzten sich auf den Boden. Sie begannen im Takt zu schaukeln, nach links und rechts.
„Sie klagen um ihn“, sagte Martina. „Sie beklagen ihn um unseretwillen.“ Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Gerade so, als ob … wir zu ihrem Stamm gehörten.“
Der Kapitän sah sie an. „Das ist doch sehr gut, nicht wahr, für Ihre Zwecke?“
Sie nickte.
„Dann kann Jack wenigstens nicht sagen, daß er dies ganz umsonst durchgemacht hat.“
Sie blinzelte durch ihre Tränen und seufzte. „Ich hoffe, daß er hieraus eine Lehre zieht. Ich hoffe, daß er in Zukunft seinen Vorgesetzten nicht mehr so viele Schwierigkeiten macht wie mir.“
„Sie hätten ihn schon längst zurück aufs Schiff schicken müssen!“
„Damit er nach unserer Rückkehr der Forschungszentrale eine Beschwerde über mich schickt? Das kann ich wirklich nicht gebrauchen.“
„Jetzt tut er es bestimmt.“
„Ich glaube nicht. Er hat ganz andere Schwierigkeiten.“
„Da könnten Sie recht haben.“ Der Kapitän trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Das hier ist ja noch schlimmer als die Begrüßungszeremonie. Ich wünschte, wir könnten uns in die Station zurückziehen.“
„Denken Sie nur an Jack dort unten im kühlen Wasser.“
„Ich dachte, das Wasser sei warm.“
„Der Fluß wird von unterirdischen Quellen gespeist. Hier hat das Wasser eine Temperatur etwas unterhalb der menschlichen Körperwärme. Ich bin sicher, Jack geht es da unten besser als uns hier.“
„Haben Sie schon einmal eine Kunstkieme benutzt?“ fragte der Kapitän.
„Nein, ich mache mir nichts aus Schwimmen.“
„Es ist, als hätte man einen Zeitungspapierknäuel im Mund, und je länger man die Kieme benutzt, desto unangenehmer wird es.“
„Immer noch besser als Wasser in den Lungen“, sagte Martina.
„Ja, das stimmt.“
Martina nahm den Sonnenschirm in die andere Hand. Der Häuptling sah sie an. Einige Minuten waren verstrichen. Genug Zeit, um einen Menschen oder einen Jinrah zu ertränken. Mehr als genug.
Martina stimmte ein Klagelied an.
TABOO
by Phyllis Eisenstein
aus ANALOG June 22,1981
Übersetzung: Ulrich Kiesow