Spider Robinson
 

Pjotrs Geschichte
 

Zwei Vollräusche in einer einzigen Woche ist für einen Besucher von Callahans Kneipe überdurchschnittlich viel.

Sicherlich ist nichts Merkwürdiges daran, wenn ein Mann in eine Bar geht, um zu vergessen. Die Untertreibung des Jahrzehnts. Callahans Kneipe aber hat mich davon geheilt, ein Hängerdasein zu führen, und das gleiche läßt sich auch für andere sagen. Verdammt noch mal, sie hat Tommy Jansen dabei geholfen, die Finger vom Heroin zu lassen, und das fünf Jahre lang. Angetrunken war ich dort schon oft, und ein- oder zweimal war ich auch blau, aber es ist wirklich einige Jahre her, seit ich total hilflos voll war – oder es sein wollte. Ein völlig Betrunkener ist bei Callahan eine Seltenheit. Mike Callahan schenkt seine Drinks nicht einfach aus, er serviert sie; wenn man sich in seiner Kneipe vollaufen lassen will, muß man ihn davon überzeugen, daß man das nötig hat, und ihn dazu überreden, die Verantwortung zu übernehmen. In die meisten Bars gehen die Leute, um blind zu werden. Mikes Gäste kommen zu ihm, um besser zu sehen.

An diesem Abend aber hatte ich ein echtes Bedürfnis danach, meine intellektuellen Fähigkeiten voll und ganz abzutöten, und er erkannte das in dem Augenblick, als ich meinen Fuß über die Schwelle setzte. Ich trug nämlich in meinen Armen die geschändete Leiche von Lady Macbeth. Ihr Kopf baumelte unkontrolliert herab, ihr stolzer Hals war gebrochen, und als sich die Tür von Callahans Kneipe hinter mir schloß, senkte sich ein Schweigen über die Runde.

Mike erholte sich schnell; das ist bei ihm immer so. Er nickte, und mit diesem Nicken begrüßte er mich und sagte mir noch etwas. Danach sah er an der Bar entlang, bis er einen freien Platz an ihr fand. Ich nickte zurück, und bis ich die Stelle erreichte, hatte er die Biertrinker und die Anwärter auf die freie Mahlzeit aus dem Weg geräumt. In der Bar sagte niemand einen Ton – sie alle verstanden meine Gefühle ebensogut wie Callahan. Vielleicht fangen Sie jetzt an zu verstehen, wie man dort einem Alkoholikerdasein entgehen kann? Irgend jemand, ich glaube, es war der schnelle Eddie, gab mir mit einem unartikulierten Geräusch sein Mitgefühl zu verstehen, als ich die Lady auf die Bar legte.

Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist. Ich könnte das herausbekommen. Ich müßte nur an die Leute von Gibson schreiben und sie fragen, wann die Seriennummer 427248 in die Welt hinausgeschickt worden ist, aber das möchte ich irgendwie nicht. Ich schätzte sie auf zwanzig bis dreißig, und weniger als fünfzehn kann sie nicht sein, denn ich lernte sie 1966 kennen. Schon damals war sie aber ein Juwel, und der Mann, dem ich sie abgekauft habe, hat sich selbst scheußlich betrogen. Er wollte viel zu schnell heiraten und brauchte dringend Bargeld. Ich kann nur sagen, daß er hoffentlich eine sagenhafte Frau bekommen hat, denn ich habe eine sagenhafte Gitarre erwischt, soviel steht fest.

 

Sie ist eine J-45, sonnenaufgangsrot mit einem spezialgefertigten Hals, und sie ist ein deutlicher Vorläufer des großen Gitarrenbooms der sechziger Jahre. Sie ist handgefertigt, keine Maschinenpressung, und mit ihr hat ein vergessener Künstler sein Meisterwerk geliefert. Die allerbeste, absolute Spitzen-Gibson von heute käme an sie nicht heran, und es gibt nur sehr wenige Gitarren, die man heute kaufen könnte, von denen sich das sagen ließe. Seit eineinhalb Jahrzehnten war sie meine zweite Stimme und das grundlegende Werkzeug meines Berufs gewesen. Jetzt waren ihr Hals und mein Herz sauber durchgebrochen.

Longdrink-McGonnigle, der neben mir saß, sah traurig an mir vorbei auf das erbärmliche Ding, das dort auf der Theke lag. Er berührte eine der verdrehten Saiten. Es rasselte. Ein letztes Rasseln. „Mensch“, murmelte er.

Callahan drückte mir einen dreifachen Bushmill in die Hand und schloß meine Finger darum. Ich machte daraus einen doppelten, drehte mich um, ging zu dem Kreidestrich auf dem Boden und blieb zwanzig Fuß von dem lustig knisternden Feuer im Kamin entfernt stehen. Alles wartete voller Respekt. Ich nahm noch einen Schluck, während ich mir den Trinkspruch überlegte. Dann hob ich mein Glas, und alle folgten meinem Beispiel.

„Auf die Lady“, sagte ich, leerte mein Glas und warf es in den Kamin, und dann sagte ich: „Tut mir leid, Leute“, weil es sehr schwierig ist, aus Mikes Kamin Glasscherben herausfliegen zu lassen – er ist wie ein Parabolspiegel mit flachem Brennpunkt konstruiert –, aber ich hatte fest genug geworfen, um trotzdem vier Tische zu erwischen. Ich weiß es besser, und so fest hätte ich nicht werfen sollen.

Niemand kümmerte sich auch nur im geringsten darum. Wie aus einem Mund antworteten sie: „Auf die Lady“ und tranken, und als das Trommelfeuer zu Ende war, lagen Glasscherben auf acht Tischen.

Darauf folgte eine Pause. Sie alle warteten ab, ob ich darüber sprechen konnte. Ich war mir völlig sicher, daß sie alle bereit waren, ihre Neugier zu verschlucken und zu ihren Gläsern zurückzukehren. Sie waren bereit dazu, mich zu ignorieren, wenn ich das brauchte, und das ermöglichte es mir zu sprechen.

„Ich kam aus der Garderobe. Im ‘Purple Cat’ drüben in Easthampton. Im Dunkeln bin ich über ein Kabel gestolpert. Ich wußte, daß ich fallen würde, und habe noch versucht, sie unter mir hervorzuziehen. Die Bühne dort ist hüfthoch. Ihr Kopf war knapp über der Kante, und dann ist sie unter eine Monitor-Box eingeklemmt worden. Dann bin ich auf sie gefallen und …“  Ich schluchzte. „… und sie hat geschrien, und ich …“

Longdrink umschlang mich mit seinen dicken, langen Armen und drückte mich an sich. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd und weinte. Jemand anders umarmte uns beide von hinten. Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, ließen mich beide los, und ich fand ein Glas in meiner Hand. Ich trank dankbar daraus.

„Ich frage dich das nicht gern, Jake“, brummte Callahan. „Ich fürchte, ich weiß die Antwort schon. Gibt es eine Möglichkeit, sie reparieren zu lassen?“

„Sag du es ihm, Eddie.“ Eddie aber war nicht da, sein Klavierschemel war leer. „Na gut, Mike, schau dir das an. Hier in Long Island gibt es vielleicht zehn Läden, die den Auftrag und mein Geld annehmen würden, und wahrscheinlich noch einmal so viele, die ehrlich genug wären abzulehnen. In dem gesamten Großbereich von New York gibt es vielleicht fünf echte Gitarrenbauer, und die würden mir alle raten, die Sache zu vergessen. In ganz Nordamerika sind vielleicht noch vier echte Meister am Leben, und ihre Rechnung würde eine vierstellige Zahl erreichen, vielleicht sogar eine fünfstellige, vorausgesetzt, sie wären der Meinung, sie könnten sie überhaupt noch retten.“ Noah Gonsalvez hatte seinen Hut abgenommen, weil er ihn herumgehen lassen wollte. Nun setzte er ihn wieder auf. „Sieh sie dir nur an. Solch ein Holz bekommt man einfach nicht mehr. Hals und Griffbrett sind Spezialanfertigungen, schmaler als normal, das bringt die Saiten enger zusammen – wenn ich mit einer normalen Gitarre spiele, habe ich das Gefühl, meine Finger sind eingelaufen. Ein nachgebauter Hals wäre also nicht so stark, und das Griffbrett müßte von Hand gemacht werden …“ Ich unterbrach mich. Ich trank mein Glas leer. „Mike, sie ist tot.“

Longdrink brach in Tränen aus. Callahan nickte und sah traurig aus und gab mir noch einen großen Drink. Er goß sich selbst etwas ein, und dann brachte er der Lady einen Trinkspruch aus. Als das Trommelfeuer zu Ende war, schenkte er Drinks für alle aus, und wir hielten für die Lady eine richtige irische Totenwache, die mit dem gebührenden Alkoholgenuß verbunden war, und das war genau das richtige für mich. Wir lachten und tanzten und erinnerten uns und erzählten uns Lügengeschichten und erfanden großartige Trinksprüche. Dabei fehlte nur noch Eddie am Klavier; er war verschwunden, und niemand wußte, wohin. Eine Totenwache für Lady Macbeth, aber ohne die Stimme ihres ehemaligen Kollegen, das war natürlich völlig ausgeschlossen, und so überraschte Callahan uns alle. Er setzte sich an das Klavier und produzierte durchaus ehrenwerten Boogie. Ich hatte nicht gewußt, daß er auch nur eine Note spielen konnte, und ich hätte geschworen, daß seine Finger zu dick seien, nur eine Taste zu treffen, aber er kam gut zurecht.

Als der Rauch sich dann schließlich lüftete, fuhr Pjotr uns alle in Dreiergruppen nach Hause – eine Aufgabe, die ich meinem Abgeordneten nicht an den Hals wünschen würde.

Ich glaube, die Sache mit Pjotr sollte ich wohl erklären …

Ein Laden wie Callahans Kneipe könnte unmöglich ohne die Mitarbeit aller Gäste laufen. Die Kneipe brauchte eine Menge freiwillige Helfer, um so funktionieren zu können, wie sie das tut.

Zum Teil liegt das auf der Hand. Wenn ein Barkeeper es den Gästen in seiner Kneipe erlaubt, ihre leeren Gläser in den Kamin zu werfen, dann müssen diese Verantwortungsgefühl genug besitzen, sich in dieser Tätigkeit eine gewisse Beschränkung aufzuerlegen – und außerdem müssen sie überdurchschnittlich genau zielen können. Vielleicht liegt das aber auch nicht auf der Hand, und deshalb sollte ich wohl erwähnen, daß auf beiden Seiten des Kamins ein Besen und eine Schaufel stehen, und wenn dann und wann eine Scherbe als Querschläger durch den Raum fliegt, dann finden wie von selbst Besen und Schaufel ihren Weg in die Hand der Person, die zufällig am nächsten steht, ohne daß das gesagt werden muß.

So ähnlich verhält es sich mit dem Parkplatz. Wenn man einen Parkplatz gern mag, in dem die Anarchie herrscht und die Autos kreuz und quer umherstehen wie Ziegen im Stall, dann muß man auch darauf vorbereitet sein, sechs- oder zehnmal an einem Abend hinausrennen zu müssen, um ewig mit dem Auto zu rangieren und den hinauszulassen, der gehen will. Diese immer wieder vorkommende Szene sieht so aus wie ein chinesischer Probealarm auf höherer Ebene oder vielleicht wie ein Autoscooter-Betrieb für Erwachsene – Doc Webster meint, daß es für einen Marsbewohner wahrscheinlich wie eine riesige Roboterorgie aussehen würde und nennt das ganze beharrliche Autoerotik.

Dann gibt es da noch das Schließungsritual. Ungefähr fünfzehn Minuten vor Schluß kommt jemand, gewöhnlich der schnelle Eddie Costigan, unser Klavierspieler, mit einem großen plastikummantelten Abfalleimer und macht die Runde zu allen Tischen. Auf jedem Tisch steht einer von diesen an einem Stift versenkbaren Aschenbechern. Irgend jemand von den Leuten, die an dem Tisch sitzen, schraubt den Aschenbecher heraus und leert die Kippen in den Eimer. Danach steckt Eddie zwei Ecken der Plastiktischdecke in den Eimer und spült sie mit einer Wasserflasche ab. Die anderen Aufräumungsarbeiten wie Aufwischen und Aufräumen werden jeden Abend irgendwie von irgend jemandem erledigt. Mike Callahan braucht dann nur noch die Bar abzuwischen, die Lichter auszumachen und kann nach Hause gehen. Daher hat es Mike nicht eilig, seine Freunde hinauszuwerfen, obwohl er sorgfältig darauf achtet, nach der Sperrstunde nichts mehr auszuschenken. Ich kann mich sogar an verschiedene Gelegenheiten erinnern, an denen er seine Kneipe rund um die Uhr nicht dichtgemacht hat; er gab dann umsonst Getränke aus, bis die Zeit kam, an der er sie wieder legal verkaufen durfte.

Schließlich ist da noch der alte Pjotr. Sie verstehen, niemand, der betrunken ist, fährt von Callahans Kneipe nach Hause. Wenn Mike der Meinung ist, daß jemand genug hat – und sie werden nie ein Prüfröhrchen bauen, das so genau wie Mikes geschultes Urteil ist –, dann gibt es nur noch eine einzige Methode, von ihm noch etwas zu trinken zu bekommen. Man gibt die Autoschlüssel ab und läßt sich von Pjotr heimfahren, wenn es soweit ist, denn der trinkt nur destilliertes Wasser. Am nächsten Morgen fährt man Pjotr dann wieder zu seinem kleinen Haus, das nur ein Stückchen die Straße hoch von Callahans Kneipe entfernt steht. Wenn Sie meinen, das wäre zuviel Mühe, dann können Sie ja anderswo trinken. Sie werden sehen, wie weit Sie damit kommen.

Die ersten beiden Jahre, nachdem wir Pjotr zum erstenmal bei Callahan gesehen hatten, überlegten sich manche von uns, was Pjotr wohl von dieser Gepflogenheit hatte. Keinem von uns ist es jemals gelungen, ihn dazu zu bewegen, am nächsten Morgen auch nur ein Frühstück umsonst anzunehmen, und wie soll man einem Mann einen ausgeben, der nur destilliertes Wasser trinkt? Das Wasser bekam er von Mike natürlich umsonst, aber vier oder fünf Liter Wasser an einem Abend ist als Lohn doch recht dürftig, wenn man bedenkt, wie viele Stunden Pjotr für uns hinter dem Steuerrad verbracht hat, und dazu noch in der Gesellschaft von Betrunkenen, die nicht nur dann und wann Krach machen. Dazu kommt die Unbequemlichkeit, viele Nächte in einem fremden Bett oder auf einer Couch oder auf dem Boden verbringen zu müssen. (Viele der Gäste, und besonders jene, die dann und wann mehr als einen zur Brust nehmen wollen, sind verheiratet. Ihre Frauen verehren Pjotr fast durchweg und sind glücklich darüber, ihn dann und wann aufnehmen zu können.)

Da wir gerade davon sprechen: Keinem von uns ist es gelungen herauszubekommen, womit Pjotr sein Geld verdiente. Er mußte am nächsten Morgen nie zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle sein, und er kam nie erst spät zu Callahan. Fragte man ihn, was er denn machte, so sagte er nur: „Ach, dieses und jenes, wenn ich darankomme“ und ließ das Thema fallen. Dennoch schien er nie Geld zu benötigen, und während der gesamten Zeit, die ich ihn kannte, nahm er niemals auch nur eine Erdnuß von der freien Mahlzeit in Anspruch.

(Es gibt in Callahans Kneipe tatsächlich eine frei Mahlzeit, die durch Spenden getragen wird. Das Geld in dem Glas neben der freien Mahlzeit ist fast immer mehr als der Preis für die Mahlzeit, aber niemand kümmert sich besonders darum, daß dies auch ja immer der Fall ist. Ich erinnere mich noch an zwei üble Wochen, in denen diese freie Mahlzeit das einzige Protein war, das ich zu mir nahm, und niemand hat mich dafür auch nur schief angesehen.)

Pjotr sieht zwar für seine mitteleuropäische Herkunft ein wenig blaß, aber auf jeden Fall nicht unterernährt aus. Auch Falten hat er nicht allzu viele, aber seine Haut sieht trotzdem aus wie altes Leder. Auf jeden Fall bestand für uns keine Veranlassung, unsere Nasen in seine Angelegenheiten zu stecken. Was mich betraf, so hielt ich ihn für eine Art Pensionär mit einer ausgeprägten altruistischen Ader, und dabei ließ ich es bewenden.

Er sieht auf jeden Fall alt genug aus, um ein Pensionär sein zu können. Oh, für sein Alter ist er noch sehr gut in Form, aber wenn man bemerkt, daß er in seine vorgehaltene Hand hineinzusprechen pflegt und daß er leicht lispelt und daß sein Lächeln ihm nie die Lippen auseinanderzwingt, dann kommt einem manchmal die Idee, ihm könnte vielleicht die eine oder andere Brücke fehlen. Und seine Augen sind irgendwie seltsam …

Wie auch immer, an diesem Abend hatte Pjotr mehr als gewöhnlich zu tun, denn er mußte all die Opfer der Totenwache für Lady Macbeth nach Hause fahren. Das dauerte recht lange. Er nahm bei jeder Fuhre drei Leute mit und benutzte den Wagen desjenigen, der am weitesten entfernt zu Hause war. Für die nächste Fuhre kam er dann immer mit dem Taxi zurück. Zwei von drei Gästen waren damit gezwungen, am nächsten Tag mit dem Taxi zu Callahans Kneipe zu fahren, wenn sie ihr Auto zurückhaben wollten. Ich war stolz auf die Ehre, die sie meiner toten Lady erwiesen. Pjotr und Callahan beschlossen, mich bis ganz zum Schluß aufzuheben. Vielleicht verfuhren sie nach dem Prinzip, sich das Schlimmste bis zum Schluß aufzuheben – ich war voll und hatte das Stadium erreicht, in dem man aufdringlich fröhlich und herzlich wird. Endlich waren alle anderen Versehrten weggeschafft, und Pjotr tippte mir auf eine schwankende Schulter.

„Also schweißen sie … ah, hallo Pjotr, nur noch fünf Mo … Mi … Monuten, bis ich Mike hier die Geschichte zu Ende erzähle … also, sie schweißen dem riesigen Fremden aus den Weiten des Weltraums Handschellen an und schleifen ihn vor Gericht für’n Prozeß, und wie sie ihn verteidigen, nein, vereidigen wollen, frißt er den Verteidiger ganz auf.“

Diesen Witz hat Mike mir erzählt, aber er ist ein mitleidiger Mensch. Er steckte sich seine Zigarre neu an und stellte die richtige Frage. „Und was sagt der Rechtsanwalt?“

„Ich protestiere gegen diese Einvernahme meiner Person, ’s doch klar, ha, ha!“ Pjotr lachte höflich mit und nahm mich am Arm. „Es ist wohl Zeit, dichtzumachen, was, Pjotr, mein bester alter Balte? Zeit für’n Abflug, was? Warum mußt du mich eigentlich herumschleifen, kannst du mir das sagen? Rück die Schüssel nein, Schlüssel – raus, Mike. Ich bin lange nicht so besoffen, wie du glaubst, Mike – ich meine, du glaubst, ich bin lange besoffen, nein, Scheiße, beim erstenmal war’s richtig, also, ich, ich muß wohl doch voll sein. Alles klar, jetzt brauche ich nur noch meine Hose …“

Beide mußten mithelfen, um mich zum Auto zu schaffen. Ich bemerkte, daß ich einen Fuß, der sich vom Boden gelöst hatte, nur mit größten Anstrengungen wieder herabzwingen konnte. Ein Autositz sprang hoch und schlug mir gegen mein Hinterteil. Eine Tür schlug zu. „Sieh zu, daß er zwei Aspirin nimmt, bevor er ganz umfällt“, sagte Callahans Stimme wie aus meilenweiter Entfernung.

„In Ordnung“, sagte Pjotr, der nur einige Blocks weit weg war, und mein alter Pontiac erwachte unter Brummen zum Leben. Plötzlich bäumte sich die Welt auf, wir stürzten von einem Felsen herab und landeten eine Million Jahre später in weißem Wasser. Ich spürte, daß mir schlecht wurde, und plapperte fröhlich drauflos, um das abzuwehren.

„Ausgezeichnet, Pjotr, alter Kumpel, absolute Spatzenklisse, ehrlich.

Du fährst prima, nicht leicht bei Glatteis, aber wenn du das Auto weiter su rumdrehst, dann graben wir noch im Landen – ich meine, im Graben, wir kommen rechts ab, nach rechts ab, verstehst du? Komm, fahren wir zur Navy, ich gebe einen aus, und dann singen wir. Ich bin nämlich Sieger, und dann singen wir. Herrgott noch mal, ich habe sie auf der Bar liegengelassen! Einfach liegengelassen – kehr um. Verdammt noch mal, ich habe meine Lady in der Kneipe vergessen!“

„Das macht nichts, Mike. Mr. Callahan schließt sie ein. Wir haben noch einige Tage Totenwache vor uns, richtig nach irischer Art, was? Selbst die, die heute nicht da waren, sollten die Möglichkeit bekommen, ihr die letzte Ehre zu erweisen.“

„Das kannst du aber glauben. He! Begräbnis. Wie? Feuer oder Bestattung?“

„Eine Feuerbestattung scheint mir angebracht.“

„Saiten! Geräte? Schwermetall, Luftverschmutzung? Kommt nicht in Frage. Begraben, in Säure auflösen, von einem Berg herunter ins Meer werfen, damit die Fische ihre Eier in den Klangkörper legen können. Weißt du, warum ich sie Lady Macbeth genannt habe?“

„Nein, das habe ich nie herausbekommen.“

„Immer wieder hat sie sich angeschlichen und mich von hinten überfallen, wenn ich es nicht erwartet habe. Eine Saite ist gerissen, auf einmal war sie verstimmt, die Hochtöne haben gezerrt, und immer ohne jeglichen Grund. Heimtückisches Stück. Oh, Lady!“

„Ihr zwei wart gut füreinander, Jake. Sei froh. Es gibt nicht viele, die so ein gutes Instrument schon einmal in der Hand gehabt haben.“

„Da hast du verdammt recht. Halt bitte mal an. Ich möchte mein Essen überprüfen.“

„Mach das Fenster auf.“

„Dann mache ich das Auto …“

„Es regnet. Na los.“

„Oh. Ich dachte, das bin ich. Also gut. Oohh.“

Schließlich hörte das Auto auf, sich zu beschweren, jemand spritzte mich naß, und dann ging mein Haus auf und verschlang mich.

„Das Aspirin kannste vergessen“, murmelte ich, als das Bett auf mich zuraste. „Das brauche ich nicht.“

„Morgen wird es dir leid tun.“

„Tut mir jetzt schon leid.“

Das Bett und ich verloren zusammen die Schwerkraft, und wir wirbelten und kreisten durch das Universum des Makrokosmos.

Der ohrenbetäubende Donner meines Pulses weckte mich auf. Schon lange bevor ich Kraft genug hatte, um meine Augenlider zu heben, wußte ich, daß ich wach war. Ich wußte das, weil mir die Phantasie fehlt, um einen derartigen Geschmack im Mund im Traum zu erfinden. Ich war aber gern bereit zu glauben, daß ich mindestens hundert Jahre lang geschlafen hatte; ich fühlte mich alt. Das brachte mich auf die Idee, daß ich vielleicht die gesamte Totenwache verschlafen hatte – die Totenwache! Alles fiel mir blitzartig wieder ein; ich riß die Augen auf, und zwei große Eiszapfen wurden so tief in die Öffnungen getrieben, daß sie nicht weiter hineingingen und mit ihren Spitzen tief in meinem Kopf staken. Ich schrie. Das heißt vielmehr, ich versuchte zu schreien, und es hörte sich an wie ein Schrei – aber mein Puls hörte sich an, als schlüge jemand mit einem Vorschlaghammer auf einen leeren Öltank, und daher nehme ich eher an, daß ich blökte oder wimmerte.

Etwas Schweres, Borstiges lag über mir; es fühlte sich wie Roßhaar an, an dem das Roß noch dranhängt. Ich drückte es hoch, konnte es aber nicht vom Fleck bewegen. Ich weinte.

Die Stimme flüsterte ohrenbetäubend: „Guten Morgen, Jake.“

„Du mich auch“, krächzte ich wütend und zuckte zusammen, als der Geruch meines Atems an meiner Nase vorbeistrich.

„Ich habe dich gewarnt“, sagte Pjotr traurig.

„Du kannst mich zweimal. Herrgott noch mal, meine Wimpern tun mir vielleicht weh. Was liegt denn da auf mir?“

„Eine Baumwolldecke.“

„Bah.“

„Du hättest das Aspirin annehmen sollen.“

„Das verstehst du nicht. Ich bekomme nie einen Kater.“

Pjotr gab keine Antwort.

„Verdammt noch mal, wirklich nicht. Auch nicht, als ich noch ein Säufer war oder als ich zum erstenmal blau war – einfach nie. Das liegt an meinem Stoffwechsel. Schlimmstenfalls wache ich morgens auf und habe keinen Hunger – aber nie Kopfweh, nie Übelkeit, nie Schwächegefühle, nie.“

Pjotr blieb lange still. Dann: „Gestern abend hast du weit mehr als sonst getrunken.“

„Mensch, ich war wirklich schon besoffener. Viel zu oft, Mann.“

„Seit ich dich kenne, noch nie.“

„Na ja, das stimmt. Vielleicht kommt es daher … nein, ich hatte auch früher schon Rückfälle. Ich bekomme einfach keinen Kater.“

Er ging aus dem Zimmer und blieb eine Weile weg. Ich verbrachte die Zeit damit, einen vollständigen Katalog all jener Stellen zusammenzustellen, die mir weh taten. Mit meinen Daumennägeln fing ich an. Ich war schon recht weit gekommen, als Pjotr zurückkam; ich hatte gerade die Hälfte der Stellen auf meinem Unterarm aufgenommen, als er mit einem schwerbeladenen Tablett in den Händen zur Tür hereinkam. Ich wollte ihn gerade anschreien: „Schaff das Essen hier raus!“, als der Duft mich erreichte. Ich richtete mich auf, und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Er stellte mir das Tablett auf den Schoß, und ich ignorierte die Schmerzen und verschlang Schinken, Wurst, Eier, Käse, Zwiebeln, grüne Pfefferschoten, scharfe Pfefferschoten, Brot, Butter, englische Frühstückskuchen, Marmelade, Orangensaft, Kaffee und verschiedene Gewürze so schnell, daß ich ihm meiner Ansicht nach etwas Angst einjagte. Als ich in das Kissen zurücksank, standen auf dem Tablett ein sauber geleckter Teller, eine leere Tasse, ein leeres Glas und eine Gabel. Ich war erschöpft, und all die Stellen taten mir noch immer weh – das heißt, alle Stellen – aber ich kam langsam zu der Überzeugung, daß ich weiterleben wollte. „Das ist doch verrückt“, sagte ich. „Wenn ich tatsächlich einen Kater habe, müßte der Gedanke an Essen eigentlich schon obszön sein. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel zum Frühstück gegessen, noch nicht einmal an dem Morgen nach meiner Hochzeitsnacht.“

 

Ich konnte Pjotr jetzt sehen, und er machte den Eindruck, als sei es ihm peinlich und als sei er an meinem Hunger schuld.

„Wieviel Uhr ist es?“

„Sieben Uhr abends.“

„Wahnsinn.“

„Wir sind um vier Uhr morgens hier angekommen. Du hast dreizehn Stunden lang geschlafen. Ich bin um die Mittagszeit eingeschlafen und gerade aufgewacht. Geht es dir jetzt besser, nachdem du etwas gegessen hast?“

„Nein, aber ich will zugeben, daß sich das vielleicht schaffen ließe. Was hilft gegen teuflische Schmerzen am ganzen Körper?“

„Also, eine Heilung gibt es nicht, aber gewisse Medikamente sollen angeblich die Symptome lindern.“

„Und Callahan hat jetzt wieder offen. Also gut, wie schaffen wir es bis zu meinem Auto?“

Kurze Zeit später kamen wir bei Callahan an, wo Lady Macbeth auf der Bar aufgebahrt lag. Die Totenwache war schon in vollem Schwange, als wir ankamen, und wir wurden von angeheitertem Begrüßungsgeschrei empfangen. Ich sah, daß heute abend Rätselabend war: Die große Tafel stand bei der Tür, und das Rätsel für heute war in Doc Websters Handschrift darauf gekritzelt. Am Rätselabend ist immer der Gewinner der letzten Woche Rätselmeister, und jedes gelöste Rätsel bringt einen Drink ein, den der Rätselmeister bezahlt. Der Doc sah recht zufrieden aus – jedes ungelöste Rätsel bedeutet für ihn einen Drink, der auf Kosten des Hauses geht.

Über den Rätselfragen stand „PERSÖNLICHKEITEN DES ÖFFENTLICHEN LEBENS“. Darunter waren die folgenden Angaben vermerkt: