telte den Kopf. „Nun gut, Dr. Hopewell, Sie werden schon wissen, wie Sie sich zu verhalten haben. Ich kann Ihnen keine Ratschläge erteilen. Sie sollen mehr Perlen zur Verfügung haben, dafür werde ich sorgen. Gibt es noch Probleme, die wir bisher nicht erörtert haben?“
„Nein. Ich habe Ihnen eine offizielle Liste angefertigt, die alle soeben erwähnten Punkte enthält. Ich schätze, daß wir jetzt mit der Inspektion beginnen können.“
Den Rest seines kurzen Aufenthalts verbrachte der Kapitän mit einer formellen Besichtigung der drei Laboratorien: Geologie, Biologie, Xenologie. Der Kapitän nickte immer wieder interessiert, als ihm die jüngsten Erkenntnisse in den einzelnen Forschungsbereichen vorgestellt wurden, doch die Wissenschaftler wußten, daß sein Hauptinteresse bei seinen Besuchen ihrem psychologischen Zustand galt.
Nachdem die Inspektion beendet war, trat der Kapitän durch die Eingangstür der Station und blieb einen Moment lang davor stehen. Offensichtlich sammelte er Kraft für den Weg zu Fähre. „Auf jeden Fall bin ich sehr dankbar, daß sie keine Abschiedszeremonien kennen“, sagte er zu Martina. Dann sah er zurück zur Tür des Badezimmers, hinter der Jack noch immer verborgen war. „Vielleicht überzeugen Sie sich besser davon, ob es ihm da drinnen noch gutgeht.“
„Wahrscheinlich nimmt er ein Bad. Er sagt, daß es ihm beim Denken hilft.“ Sie deutete auf Fiona, die sanft gegen die Badezimmertür pochte und den Namen ihres Vorgesetzten rief.
Die Antwort war gedämpft, aber verständlich: „Ich seife mir den Kopf ein.“
Fiona setzte ein unsicheres Lächeln auf. „Ich glaube, er will sagen, daß es ihm besser geht.“
„Er ist sehr temperamentvoll“, erklärte Martina dem Kapitän, „und … wir sind schon ein ganze Weile zusammen.“
Der Kapitän nickte. „Deswegen habe ich auch um ein erfahreneres Team nachgesucht.“
„Wie soll man denn sonst Erfahrungen sammeln? Und schließlich haben wir alle hin und wieder Probleme mit unserem Temperament. Oder wollen Sie behaupten, daß an Bord nur Herzlichkeit und Nettigkeit herrschen?“
„Auf der Ariel leben viele Menschen“, erwiderte er, „und wir sind daran gewöhnt, miteinander in der Isolation zu leben.“
„Na, ich glaube, daß wir es noch vier Monate miteinander aushalten werden. Schließlich ist das keine unerträglich lange Zeitspanne, nicht wahr?“
„Nein.“ Er schaute auf sein Chronometer. „Sie warten sicher bereits auf meine Rückkehr, darum mache ich mich besser auf den Weg. Verflucht, ich wünschte nur, daß es nicht so heiß auf diesem Planeten wäre!“
„Es könnte noch schlimmer sein“, erwiderte Martina, „wenigstens brauchen wir keine Schutzanzüge zu tragen.“
Er betrachtete ihre knappe Kleidung, die schlanken, braunen Gliedmaßen. „Ihnen gefällt es hier, nicht wahr? Sie sind die einzige, die sich niemals über die Hitze beklagt.“
Sie lächelte. „Mir wird es nichts ausmachen, wenn wir in vier Monaten hier fort müssen. Ich laufe auch gern Ski.“
„Das tue ich auch. Vielleicht könnte man einmal …“
„Vielleicht. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug, Kapitän.“ Nachdem er fort war, setzten sich Paul und Fiona auf den Boden, um etwas Yoga zu betreiben. Doch die beiden Xenologen wanderten ziellos durch die Station, unfähig, ihre ruhelose Energie in sinnvolle Bahnen zu lenken.
„Warum springt er so mit uns um?“ fragte Chris eine Spur zu laut. Mit einer Hand riß sie an ihren Fingern, daß die Knöchel knackten. „Mir scheint, daß er uns nicht traut.“
„Er traut uns auch nicht“, sagte Martina. „Wir haben uns noch nicht bewährt.“
„Na, der gute alte Jack hat sich jedenfalls ganz ausgezeichnet bewährt. Ich frage mich, warum du ihn in Schutz genommen hast.“
„Wir haben ihn alle in Schutz genommen, nicht wahr? Oder hast du deine Meinung geändert und willst ihn doch nach oben schicken?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich glaube, das könnte ich seiner Karriere nicht antun. Aber ich wünschte, er wäre weniger … schwierig.“
„Gib ihm noch eine Chance“, sagte Martina. „Du bist auch nicht immer leicht zu nehmen.“
„Ich bin froh, daß ich nicht für ihn arbeite“, erwiderte Chris, wobei sie zu Fiona herübersah, die mit geschlossenen Augen gleichmäßig und flach atmete. Chris warf die Blätter auf einen Tisch, die sie in den Händen gehalten hatte. „Ich muß raus. Es gibt zuviel Arbeit, als daß ich meine Zeit hier drinnen vertrödeln könnte.“
Martina nickte. Einer nach dem anderen machten sich die Wissenschaftler an ihre Arbeit, sogar Jack, den sein Bad offensichtlich beruhigt hatte. Martina ging als letzte fast bei Sonnenuntergang. Als sie die Türe der Station verschloß, dachte sie an den Kapitän und schaute hinauf in den zwielichtigen Himmel. Sie konnte den hellen Funken, die Ariel, erkennen, doch ihre Bewegung war mit bloßem Auge nicht zu bemerken. In den vergangenen acht Monaten hatten die Bordkartographen den gesamten Planeten auf hundert verschiedene Arten vermessen. Sie hatten seine Topographie, die Klimazonen und die Bodenschätze bestimmt, während sich der Rest der Besatzung um das Schiff kümmerte. Ging einem auch dann das Temperament durch, fragte sie sich, wenn man in einer Luft lebte, die immer trocken war und permanent auf vierundzwanzig Grad gehalten wurde?
Winter am sechzigsten Grad südlicher Breite, daß hieß nicht nur, zur kältesten Zeit am kühlsten Platz des ganzen Planeten zu sein, das bedeutete auch den Höhepunkt der Regenzeit. Im Sommer war die Luft staubtrocken, hatten ihr die Jinrah erzählt, und die Flüsse verschwanden in ihren Betten. Doch das Forscherteam würde nicht so lange bleiben, bis der Sommer anbrach. Jetzt war die Atmosphäre tagsüber beklemmend feucht, die Luft ergoß sich wie warme Suppe in die Lungen. In der Nacht setzte der Regen ein. Er begann sanft und steigerte sich gleichmäßig zu einem trommelnden, von keinem Wind bewegten Guß. Es war ein warmer Regen, der am Morgen, wenn die Sonne aufging, in dampfender Feuchtigkeit endete. Trotz der Niederschläge gab es nur einen geringen Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht.
Die Eingeborenen bauten Schutzdächer, je eines für eine Familie, dichte Geflechte, die auf Pfählen ruhten. Über ein Gebiet von ein paar Hektar waren fünfzehn oder zwanzig dieser Lauben verstreut. Sie bildeten die politische Einheit, über die der Häuptling herrschte, sein Dorf, wenn man so will. Die Jinrah schliefen unter den Dächern, um Schutz vor dem Regen zu finden. Tagsüber hielten sie sich kaum dort auf. Ein schattiger Platz bedeutete ihnen nichts. Manchmal jedoch luden sie Chris und Martina tagsüber zu einem Gespräch unter ihren Dächern ein. Meistens waren sie allerdings zu geschäftig, um stillzusitzen. Es gab immer etwas zu tun, sogar für das kleinste Kind und auch für ihre Gäste, die Xenologen. Martina hatte inzwischen einiges Geschick beim Nüsseknacken mit einem Stein gewonnen.
An diesem Abend ging sie zum Laubdach des Häuptlings. Dieser behandelte sie immer sehr respektvoll, da er die Überlegenheit von Wesen, die durch die Luft fliegen konnten, durchaus anerkannte und ihr einen hohen Platz in der Rangordnung dieser Wesen zuschrieb. Anders als die Wilden auf manch einem anderen Planeten, war der Häuptling so verständig, daß er die Menschen nicht für Götter hielt. Vielleicht fehlte ihm dazu aber auch einfach die Vorstellungskraft, dachte Martina manchmal bei sich.
Der größte Teil der Häuptlingsfamilie hatte sich unter dem Dach versammelt, im flackernden Feuerschein reparierten sie ihre Waffen. Als sie näher kam, hob der Häuptling eine Hand. Das war der Gruß, mit dem er ein Wesen seines Geschlechtes begrüßte, das einen geringfügig niederen Platz in der Rangordnung innehatte. Martina erwiderte die Begrüßung in der erwarteten Weise: mit einer kurzen ruckhaften Vorbeugung des Oberkörpers. Nachdem sie diese Förmlichkeit vollzogen hatte, stand es den Frauen, Mitgatten und Kindern frei, das Wort an sie zu richten.
Sie nahm sich einen Speerschaft von dem Stapel neben Ferilara, dem ältesten Sohn des Häuptlings, dazu eine Steinspitze, um sie daran zu befestigen. Offenbar war die Spitze einmal abgebrochen, und man hatte sie sorgfältig so zugespitzt, daß man sie wieder verwenden konnte. „Der Älteste“, sagte Martina in Jinrah-Sprache, „versteht sich auf das Herz der Steine.“
„Er hat es sein ganzes Leben lang geübt“, erwiderte Ferilara, „wenn der Besucher aus dem Himmel häufiger üben würde, würde er es auch verstehen.“
„Das ist wahr“, sagte Martina. Sie hatte das Steinschlagen probiert, aber schnell wieder aufgegeben. Als sie während der Schulzeit Steinwaffen von der Erde kennenlernte, hatte sie deren Schärfe nicht besonders erstaunlich gefunden. Jetzt achtete sie diese Waffen und die Leute, die sie hergestellt hatten, höher als damals.
Aro, eine der Häuptlingsfrauen, kroch zu Martina herüber. Sie war das zweitjüngste erwachsene Mitglied der Gruppe, noch nicht einmal so alt wie Ferilara, und sie war kleiner als eine durchschnittliche Jinrahfrau; sie reichte Martina gerade bis zum Ellenbogen. Wegen ihrer geringen Größe wurde sie von den anderen Erwachsenen sehr zuvorkommend behandelt. Sie nahmen ihr schwere Lasten ab und halfen ihr bei der Arbeit. Sie wird geradezu verhätschelt, dachte Martina. Um diese Privilegien zu rechtfertigen, hatte Aro es übernommen, oder man hatte es ihr aufgetragen – Martina wußte nicht, wie es sich tatsächlich verhielt –, sich der ältesten Tochter des Häuptlings anzunehmen. Shi’Lor, so hieß sie, befand sich gerade im Übergangsstadium zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter, und es mußte jemanden geben, der darauf achtete, daß die Tochter all die neuen Regeln und Tabus beachtete, die nun für sie galten.
Aro fragte: „Hat der Besucher aus dem Himmel auf seinem Weg hierher die Tochter Shi’Lor gesehen?“
„Nein“, antwortete Martina.
Aro zögerte, dann kroch sie noch näher heran. „Der Regen fällt. Es ist nicht gut, wenn man im Regen draußen ist.“
Martina sah über das Feuer hinweg in die feinen Nieseltröpfchen, die im Flackerschein aufblitzten. „Bald wird es noch stärker regnen“, sagte sie. „Warum ist Aro denn nicht bei Shi’Lor?“
Aro seufzte leise. „Shi’Lor war bei ihrer heiligen Schwester und brauchte ihre Beschützerin nicht. Aro hatte Hunger.“
Martina legte den Speer auf den Boden. Die, ‚heilige Schwester’’ war die eine, bestimmte Pflanze im Familienhain, die zu Shi’Lor gehörte und der viele ihrer Rituale galten. Also war Shi’Lor allein dort draußen im nächtlichen Regen. Sie war ein lebenslustiges, freundliches Wesen und hatte Martina mit vielen anderen Jinrah bekannt gemacht. „Wenn Aro nach Shi’Lor sehen möchte, dann wird sie der Besucher aus dem Himmel begleiten.“
„Der Regen fällt“, erwiderte Aro. „Es ist nicht gut im Regen draußen zu sein.“
Ferilara erhob sich, er ragte hinter Aro auf. „Wenn der Besucher aus dem Himmel Shi’Lor suchen will und wenn er dazu das Licht, das man in der Hand tragen kann, mitnimmt, dann wird Ferilara mit ihm gehen.“ Er nahm einen der reparierten Speere auf. „Der älteste Sohn fürchtet den Regen nicht.“
Martina sah den Häuptling fragend an. „Sind alle damit einverstanden?“ sagte sie.
„Einverstanden“, antwortete der Häuptling.
„Die Sucher werden zum heiligen Hain gehen“, sagte Ferilara. „Vielleicht werden sie Shi’Lor unterwegs begegnen.“
Martina holte eine Taschenlampe hervor, mit der sie den Weg ausleuchtete. Ferilara benötigte eigentlich kein Licht, denn seine Augen konnten sich an strahlendes Sonnenlicht und schwarze Finsternis anpassen. Doch der Schein würde vielleicht Shi’Lors Aufmerksamkeit erregen. Wenn sie ihn sah, würde sie wissen, daß Freunde in der Nähe waren.
„Fürchtet Ferilara, daß Shi’Lor verletzt sein könnte?“ fragte Martina. Sie versuchte, von einem Pflanzenbüschel zum nächsten zu springen und nicht in die schlammigen Löcher dazwischen zu geraten.
„Es könnte sein“, erwiderte er. Er ging schnell voran, und der unebene Boden schien ihn nicht zu behindern. Seine Augen hielten rastlos nach allen Seiten Ausschau. In dieser Finsternis war seine Sehfähigkeit der Martinas weit überlegen. Jack hatte ihr erzählt, daß die Augen der Jinrah anpassungsfähiger waren als die einer irdischen Katze. „Es war töricht von ihr, nach Sonnenuntergang im heiligen Hain zu bleiben. Der älteste Sohn denkt, daß sie noch nicht reif für den Erwachsenenstand ist, auch wenn sein Vater anders entschieden hat.“
„Sie besitzt eine Waffe“, sagte Martina. „Der Besucher von den Sternen hat gesehen, daß sie damit umzugehen versteht.“
„Gegen den Regen gibt es keine Waffe.“
Martina dachte über seine letzten Worte nach, versuchte, aus ihnen schlau zu werden. „Der Älteste redet so, als … wäre der Regen ein Feind und nicht einfach Wasser, das aus dem Himmel fällt. Wie sollte der Regen ihr schaden können?“
„Es ist nicht gut für eine Frau, im Regen draußen zu sein.“
„Wieso ist es nicht gut?“
„Es ist überhaupt nicht gut für eine Frau.“
„Aber den Männern schadet es nichts?“
Sie hatte ihn angesehen und nicht auf den Weg geachtet. Jetzt strauchelte sie und wäre mit dem Gesicht in den Schlamm gefallen, wenn er sie nicht am Ellenbogen gehalten hätte. „Die Sucher sind im Regen sicher“, sagte er, „wenn sie darauf achten, wohin sie treten.“ Es schien ihr, daß ein amüsierter Unterton in seiner Stimme mitschwang.
Sie war auf ein weiteres Tabu gestoßen. Diesen Verdacht hatte sie schon gehabt, als sie Aros Worte hörte. „Es ist nicht gut“, so lautete der immer wiederkehrende Satz, der auf ein Verbot hinwies, über das es nichts zu diskutieren gab. Bisher hatte sie nur gesehen, daß die Jinrah Regendächer bauten, und daraus geschlossen, daß sie nicht gern naß werden wollten. Wem gefiel das schon? Die Wissenschaftler selbst gingen nur deshalb auch im Regen ins Freie, weil sie jede Minute ihres Aufenthaltes nutzen mußten.
Der Regen war inzwischen heftiger geworden; das Wasser sammelte sich schneller auf dem Boden, als es abfließen konnte. Jede kleine Vertiefung im Boden hatte sich in eine Pfütze verwandelt, und Martina und Ferilara plantschten hindurch, manchmal bis zu den Fußknöcheln im warmen Wasser, manchmal noch tiefer.
Ferilara sah Shi’Lor zuerst. Sie kroch über den Boden Er lief los, mit weiten Sprüngen ließ er Martina hinter sich. Als sie die beiden Jinrah erreichte, half er Shi’Lor gerade auf die Füße. Das Mädchen bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Ihr dichtes Körperhaar triefte vor Nässe und war zu schlammigen Strähnen verklebt, ihre Arme hingen schlaff herab, und sie wirkte völlig benommen.
„Sie ist gefallen“, murmelte Shi’Lor elend. „Der Boden war so schlüpfrig, da ist sie ins Wasser gefallen.“ Ferilara stieß sie vorwärts. Sie tat ein paar unsichere Schritte in Richtung auf das heimatliche Dach, doch Ferilara ging es zu langsam voran. So warf er sich das Mädchen über die Schulter, und Martina trug seinen Speer zurück zum Regendach des Häuptlings.
Die ganze Familie war entsetzt. Die erwachsenen Frauen drängten sich mit ihren Töchtern in einer Ecke zusammen, so weit von Shi’Lor entfernt, wie es eben ging. Die Männer jedoch bildeten einen Kreis um das unglückliche Wesen und beschimpften es wegen seiner Dummheit. Ferilara schürte das Feuer auf, damit Shi’Lor sich daran wärmen konnte, doch er mußte ihr dabei helfen, indem er ihr immer wieder mit den Händen das feuchte Fell rieb. Sie schien von ihrer Umgebung keine Notiz zu nehmen, sondern lag teilnahmslos mit geschlossenen Augen auf dem Boden.
Martina wartete still, bis der Häuptling seine männlichen Familienmitglieder mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. Dann zeigte er vor den Augen seiner drei Frauen, zwei Mitgatten, vier Söhne und drei anderen Töchter auf Shi’Lor und sagte: „Du bist ein Kind!“ Sie wandte ihm als Zeichen ihrer Unterwerfung die Kehrseite zu, und er trat zurück. Er rief Aros Namen. Sie kroch aus dem Kreis der Frauen. „Der Häuptling ist sehr erzürnt wegen Aro“, sagte er, „Aro war dumm. Sie hat die älteste Tochter kurz vor Sonnenuntergang allein gelassen, fern vom schützenden Dach.“
Aro wand sich. „Die jüngste Frau hat Shi’Lor für klug genug gehalten, vor Einbruch der Nacht zurückzukehren.“
Drohend polterte der Häuptling: „Die jüngste Frau hatte Hunger!“
Sie drehte ihm das Gesäß zu.
„Auch morgen wird die jüngste Frau Hunger haben“, sagte der Häuptling, „und am Tag danach. Die älteste Tochter wird eine andere Beschützerin bekommen, wenn ihre Zeit von neuem anbricht.“ Um seine Worte zu unterstreichen, trat er nach Aro, die sich zu einer lebenden Kugel zusammenrollte. Niemand sonst rührte sich. „Wir werden jetzt schlafen!“ verkündete der Häuptling.
Martina ging hinaus in den Regen.
Am Morgen erzählte sie ihren Kollegen, was geschehen war.
„Noch so ein verdammtes Tabu“, murrte Jack. „Die Burschen nehmen alles viel zu ernst.“
Martina starrte nachdenklich in ihre Kaffeetasse. „Sie wirkte sehr … benommen. Krank.“
Jack fuhr hoch. „Krank? Ich habe noch nie einen kranken Jinrah gesehen.“
„Ich habe auch noch niemanden gesehen, der sich in ihrem Zustand befunden hätte.“
„Glaubst du, sie wäre damit einverstanden, daß ich sie mir einmal ansehe?“
„Ich weiß es nicht. Hier drinnen geht es auf keinen Fall!“
„Natürlich nicht. Weißt du, wo sie sich jetzt aufhält?“
„Ich könnte es mir schon vorstellen.“
Er ging hinüber ins Biologielabor, um seine tragbare Ausrüstung aufzunehmen. „Dann laß uns gehen.“
Sie fanden sie unter dem Regendach. Sie hockte zusammengekauert neben der Asche des Feuers und starrte ins Leere, genauso teilnahmslos wie am Abend zuvor. Die anderen Familienmitglieder hatten sich irgendwo in der Umgegend verteilt.
Martina kauerte sich neben Shi’Lor und berührte sie behutsam an der Schulter. „Die Besucher aus dem Himmel grüßen dich“, sagte sie. „Will die älteste Tochter sie nicht einmal ansehen?“
Sie hob nicht den Kopf.
Martina wechselte einen Blick mit Jack, dann sah sie Shi’Lor wieder an. „Die Besucher aus dem Himmel sind Shi’Lors Freunde.“
Shi’Lor bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und ihre Stimme klang erstickt zwischen den Fingern hindurch: „Die älteste Tochter ist wieder ein Kind. Sie ist ins Wasser gefallen.“
„Hat sie sich bei dem Sturz verletzt?“ fragte Jack langsam in Jinrah-Sprache. Er hatte ein umfangreiches Vokabelwissen, doch die Grammatik beherrschte er kaum. Aus diesem Grunde drückte er sich immer in direkten, kurzen Sätzen aus.
„Es ist schlimm, wenn man ins Wasser fällt“, flüsterte Shi’Lor. „Es ist schlecht, wenn man im Regen draußen ist.“
Martina streichelte ihr sanft die Schulter. „In Zukunft wird Shi’Lor eben besser achtgeben. Die Besucher aus dem Himmel verstehen dich.“
„Iiiieeehhii!“ jammerte Shi’Lor und nahm die Hände vom Gesicht. Ihre Zähne waren zusammengepreßt und ihre Augen fest geschlossen. „Shi’Lor war eine Erwachsene, und jetzt ist sie wieder ein Kind! Iiiehh!“ Es war ein so durchdringender Klagelaut, wie ihn Martina nie zuvor gehört hatte.
„Hat Shi’Lor Schmerzen?“ fragte Jack besorgt.
Plötzlich sprang die Jinrah auf und schüttelte Martinas Hand ab. „Shi’Lor war eine Frau“, klagte sie, „und jetzt ist sie wieder ein Kind!“ Immer noch schluchzend öffnete sie die Augen und stürzte plötzlich davon ins Freie.
„Los, komm!“ rief Jack, und ohne abzuwarten, ob Martina ihm folgte, setzte er dem Jinrah-Mädchen nach.
„Vielleicht sollten wir sie besser allein lassen!“ rief Martina, während sie hinter Jack hereilte. „Nicht so schnell, du holst dir einen Hitzschlag!“ Doch er achtete gar nicht auf sie.
Zwar waren alle Pfützen versickert, aber der Boden war noch weich vom nächtlichen Regen. Jack hatte keine Schwierigkeiten, mit Shi’Lor Schritt zu halten, aber Martina rutschte, stolperte, litt in der feuchten Luft unter Atemnot und fiel weiter und weiter zurück. Nach einer Weile erreichten die beiden Gestalten vor ihr einen Hügelkamm und waren bald danach dahinter verschwunden. Als sie selbst den Kamm erreichte, konnte sie sie in einiger Ferne sehen. Sie waren stehengeblieben, der Mensch ein paar Schritte hinter der Jinrah, und standen an einem Flußufer. Martina lief mit aller Kraft und fragte sich, ob sich das verzweifelte Mädchen in den Fluß stürzen wollte.
„Shi’Lor!“ schrie sie. „Shi’Lor! Die älteste Tochter darf nichts Unsinniges tun! Jack, laß es nicht zu!“
Als Martina Jack erreicht hatte, hielt er sie am Arm fest. „Du Xenologin!“ stieß er hervor. Auch sein Atem ging schwer. „Hier handelt es sich wieder mal um ein Tabu! Merkst du das denn nicht?“
Shi’Lor stand direkt am Rand des Wassers und starrte in die dunklen, trägen Fluten. Sie bewegte sich nicht.
„Shi’Lor …“, flüsterte Martina.
Shi’Lor legte beide Hände an die Brust, krallte die Finger in das lange, dichte Fell und riß heftig daran. Ein Laut wie von zerreißendem Stoff war zu hören, und ein Hautlappen löste sich von ihrem Oberkörper. Wie ein Fetzen hing er von ihren unteren Rippen herab und bedeckte ihren Bauch.
Jetzt war eine rosige, längliche Form zu sehen, die an einer Seite ihres Oberkörpers klebte. Das Gebilde war von einer Flüssigkeit bedeckt, die so hell war, daß es sich bei ihr nicht um Jinrah-Blut handeln konnte. Einen Augenblick später löste sich das rosige Etwas, und Shi’Lor fing es mit den Händen auf. Sie stieß es von sich, und mit einem leisen Platschen versank es im Fluß.
„Das war ein Fötus!“ schluckte Jack. „Sie hat einen Hautbeutel! Verdammt, sie hat einen Beutel!“ Er sah hinab auf die Wasserfläche. Das fortgeworfene Ding trieb jetzt langsam in der Strömung. „Ich muß es haben!“ sagte er. Er begann am Ufer entlangzulaufen, wobei er Shi’Lor hin und wieder einen Blick zuwarf. „Ich treffe dich später in der Station!“ rief er Martina zu.
„Jack, ich glaube nicht, daß du es herausfischen solltest. Sie hat es fortgeworfen – es ist wahrscheinlich tabu!“
„Ich muß es haben!“ erwiderte er.
„Es wäre fast so, als würde man ein Grab öffnen!“
„Wie kannst du das behaupten?“ Er lief schneller. „Ich werde schon aufpassen. Hoffentlich geht es nicht unter!“
Martina eilte zu Shi’Lor hinüber. Sie wollte sie von Jack und von dem im Fluß treibenden Ding ablenken. Doch es war nicht nötig, Shi’Lor abzulenken. Sie achtete gar nicht auf Jack, sie sah nirgendwo hin. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Arme hingen schlaff herab. Sie hatte sich den Hautlappen wieder an den Leib gepreßt, und Martina konnte die Rippen nicht mehr sehen.
Nach einer langen Zeit drehte sich Shi’Lor um und trottete den Weg zurück, den sie gekommen war. Martina folgte ihr schweigend. Sie verließ sie am heiligen Hain von Shi’Lors Familie. Die äußere Umgrenzung war durch eine Reihe von niedrigen Büschen, an denen Jinrah-Haarbüschel befestigt waren, genau markiert. Martina beobachtete ihre Jinrah-Freundin dabei, wie sie zwischen den Büschen hindurchging und dann über den Bodenstreifen schritt, der die Umrandung vom eigentlichen Hain teilte. Sie sah, wie sich Shi’Lor vor ihre persönlichen Pflanze, ihre heilige Schwester, kniete. Sie legte ihre Hände links und rechts an den Stamm und preßte ihre Stirn gegen die Stelle zwischen den Händen. In dieser Stellung würde sie nun den größten Teil des Tages verharren. Die Jinrah vollzogen dieses Ritual sehr häufig, allerdings in unregelmäßigen Abständen.
Während des ganzen Tages unterhielt sich Martina mit den anderen Jinrah. Sie hätte gern gewußt, was Shi’Lors Tat zu bedeuten hatte, doch sie wagte nicht, den anderen Jinrah davon zu erzählen, da sie befürchtete, daß sie das arme Mädchen in Schwierigkeiten stürzen könnte. Sie wartete darauf, daß jemand anders das Gespräch auf den Regen und seine Gefahren bringen oder etwas über Shi’Lors närrisches Benehmen sagen würde, doch niemand redete davon.
Als sie zur Station zurückkehrte, konnte sie an Jacks erregtem Zustand sogleich ablesen, daß er den Fötus gefunden hatte. Er beteuerte, daß ihn niemand beobachtet hatte. Sie mußte es sich ansehen: ein weiches, längliches Gebilde, nicht länger als ihr Zeigefinger. Ohne ihr Vorwissen hätte sie es nicht erkannt.
„Du bist ja eine tolle Xenologin“, sagte er. „Du hast nicht einmal gewußt, daß sie Beutel haben.“
„In dieser Gegend gibt es keine Frau, die ihr Kind in einem Beutel trägt. Sie halten sie in den Armen, und später tragen sie sie auf den Schultern.“
Er nickte. „Wahrscheinlich bleiben sie nur sehr kurze Zeit in dem Beutel. Vielleicht sind wir auch zur falschen Zeit hierhergekommen. Ich schätze, daß alle Kinder im letzten Sommer die Beutel verlassen haben – jetzt sind sie zu alt dazu. Verdammt, ich wünschte, wir könnten bis zum Sommer bleiben, dann hätte ich Gewißheit.“
„Was war mit dem Fötus?“
Er zeigte mit dem Daumen darauf. „Was meinst du, woran der Fötus gestorben ist?“
Sie zuckte die Achseln. „Hat sie ihn abgetrieben?“
Er schüttelte den Kopf. „Er war schon tot, bevor sie ihn in den Fluß geworfen hat. Er ist in der Nacht zuvor gestorben. An Unterkühlung.“
„An Unterkühlung? In diesem warmen Regen? Ich kam mir vor wie in einem Dampfbad.“
„Dir kam es so vor, ihnen vielleicht auch. Aber erinnere dich daran: Sie sagte, sie sei gestürzt. Sie war völlig durchnäßt. Was geschieht, wenn man naß wird? Das Wasser verdunstet, und so entsteht eine kühlende Wirkung. Das Fell und der Beutel bieten einigen Schutz, aber nicht, wenn sie völlig durchnäßt war. Es ist kein Wunder, daß der Regen für die Frauen tabu ist – er tötet ihre Kinder.“
Martina starrte ihn an. „Das ist auch der Grund, warum sie nicht mehr herkommen wollen, das wäre doch möglich. Es ist wegen der Klimaanlage. Die Babys sind gestorben, nachdem die Frauen hier bei uns waren.“
„Genau! Den Erwachsenen macht die Kälte nichts aus, aber die Föten sind zu empfindlich. Darum bleiben sie den ganzen Winter über in den Beuteln, deshalb kommen die Babys erst im angenehm warmen Sommer heraus. Wenn der nächste Winter anbricht, dann sind sie kräftig genug, um ihn zu ertragen.“
Mit gerunzelter Stirn lehnte sich Martina gegen einen Labortisch. „Was denkst du, wie viele wir getötet haben, bevor sie … es bemerkt haben?“
Er spitzte die Lippen. „Ich weiß es nicht, aber etwas anderes weiß ich genau: Wir werden die Klimaanlage abschalten!“
Martina hob die Schultern. „Das hat doch keinen Sinn. Das Unglück ist nun einmal geschehen. Und die davongekommen sind … nun, die werden ja nun durch das Tabu geschützt.“
„Ich will aber, daß sie hierherkommen“, sagte er. „Ich will die Physiologie der weiblichen Jinrah in diesem Labor untersuchen. Also wird die Klimaanlage ausgeschaltet, und zwar sofort.“
„Jack, das kann nicht dein Ernst sein. Die anderen werden es sich nicht gefallen lassen! Es ist einfach zu heiß! Wir brauchen einen Platz, wohin wir uns vor der Hitze flüchten können.“
Er kreuzte die Arme über der Brust. „Meinetwegen können wir sie nachts, zum Schlafen, einschalten, aber während des Tages bleibt sie aus!“
„Jack …“
„Die Sache ist zu wichtig, verdammt noch mal! Wir haben einen Auftrag zu erfüllen, und das gehört dazu. Möchtest du etwa, daß in meinem Bericht steht: Wegen der Weigerung meiner Kollegen, eine kleine Unbequemlichkeit zu ertragen, konnte ich meine Arbeit nicht beenden?“
„Also gut“, sagte Martina. „Wir werden abstimmen.“
„Wir werden nicht abstimmen! Du hast hier das Sagen! Du hast die Autorität, die Maßnahme anzuordnen. Soll ich mich etwa über deinen Kopf an den Kapitän wenden? Dann muß er einen Bericht schreiben.“
„Jack, das wird nicht leicht werden.“
„Je eher wir damit beginnen, desto schneller kann ich meine Jinrah-Untersuchungen abschließen, und wir können es wieder angenehm kühl haben. Bekomme ich nun, was ich will, oder nicht?“
Sie seufzte. „Nun denn, ab morgen keine Klimaanlage mehr.“
Die anderen Mitglieder der Gruppe protestierten lautstark, doch Martina stand zu Jack, und nach einiger Zeit beruhigten sie sich wieder. Von nun an war es tagsüber brütend heiß in der Station. Den Jinrah-Männern gefiel das sehr, aber die Frauen kamen noch immer nicht herein.
Jack bedrängte Martina: „Sprich mit ihnen! Erkläre ihnen alles!“
„Das habe ich getan, Jack, das kannst du mir glauben!“
„Und warum kommen sie dann nicht?“
„Sie haben Angst.“
„Aber hier ist nichts, wovor sie Angst haben müßten.“
„Das verstehen sie nicht.“
„Dann erkläre es ihnen noch einmal.“
Sie schüttelte den Kopf. „Du verstehst auch manches nicht. Du hast keine Vorstellung von dem Wesen eines Tabus. Ich habe dir doch gesagt, daß sie nicht immer rationale Hintergründe haben.“
„Aber dies Tabu war rational begründet.“
„Nun, das stimmt. Etwas hier drinnen hat ihre Babys getötet. Aber wenn ich ihnen sage, daß es an der Kälte gelegen hat, dann begreifen sie gar nicht, wovon ich spreche. Sie glauben, es war der Dämon des Regens.“
„Sag ihnen, daß wir den Dämon des Regens losgeworden sind! Wir haben ihn ausgetrieben.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur die Sonne kann den Regendämon vertreiben. Die Sonne, die den Sommer bringt. Wir haben dazu nicht die Macht. Sie wissen, daß wir keine übernatürlichen Wesen sind.“
„Das sind wir doch.“
„Jack …“
„Sag ihnen, daß wir uns gut mit der Sonne stehen, daß sie uns hier drinnen einen Extrasommer spendiert hat.“
„Jack!“
„Das ist keine schlimme Lüge.“
„Jack, ich kann nicht mit Wesen arbeiten, die mich für einen Gott halten.“
„Du vielleicht nicht. Ich übernehme die Rolle gern.“
Seufzend hob sie die Schultern. „Ich habe sehr lange dazu gebraucht, bis ich sie davon überzeugt hatte, daß wir ganz normale Wesen sind, so wie sie.“
„Na, wennschon! Dann ist eben einer von uns kein ganz normales Wesen.“
Sie ballte die Fäuste. „Jack, die Eingeborenen dürfen nicht eingeschüchtert werden!“
„Ich will sie gar nicht einschüchtern.“
„Wenn wir ihnen vormachen, daß auch nur einer von uns ein Gott ist, dann schüchtern wir sie ein. Ihre Beziehung zu uns würde sich völlig verändern. Ich könnte nicht mehr weiterarbeiten.“
Jack starrte sie finster an. „Also steht deine Arbeit gegen meine, hm?“
„Ja, so ist es. Und solange ich hier die Leitung habe, wird eine normale Beziehung zu den Jinrah den Vorrang haben über … über krankhafte Neugierde!“ Sie wandte ihm den Rücken zu und stapfte aus dem Zimmer.
„Und wir schalten die verdammte Klimaanlage wieder ein, jetzt gleich!“
Während der nächsten Tage redete Jack nicht mit den anderen. Er unternahm lange Wanderungen, brachte tierische und pflanzliche Proben mit und untersuchte sie schweigend in seinem Labor. Sein Essen nahm er allein zu sich. Er schlief allein. Die anderen ließen ihn in Ruhe, und Fiona wartete still darauf, daß er seinen Ärger überwand.
Martina durchbrach die Starre.
„Ich glaube, du solltest wissen, Jack, daß zwei Jinrah erkrankt sind.“ Sie stand etwa drei Meter von ihm entfernt, während er sich über das Elektronenmikroskop beugte.
Er richtete sich langsam auf. „Ist es das gleiche wie bei deiner Freundin Shi’Lor?“
Sie schüttelte den Kopf. „Es sind zwei Männer, Brüder. Sie sind schwer krank. Es scheint mit den Atemwegen zusammenzuhängen. Ihre Familien glauben, daß sie sterben werden.“
„Was ist mit den Atemwegen?“
„Willst du es dir nicht selber ansehen?“
„Doch, sicher.“ Er schaltete das Mikroskop aus und griff nach seiner Instrumententasche. „Wo sind sie?“
Bei ihrem ersten Besuch bei den kranken Brüdern hatte Martina es zum erstenmal erlebt, daß eine ganze Familie tagsüber unter dem Dach versammelt war. Auch der Häuptling war da und viele Jinrah aus der Umgebung. Bis auf die Familie hockten alle in einem weiten Kreis um das Dach und schaukelten im Takt langsam nach rechts und links. Martina erfuhr, daß dies eine Klage für Sterbende war. Die Familie selbst hatte sich dicht um die kranken Männer geschart, die stöhnend und von gelegentlichen Hustenanfällen geschüttelt nebeneinander lagen. Der schunkelnde Kreis öffnete sich, um Martina und Jack hindurchzulassen, und die Familie sah ihnen ohne großes Interesse entgegen.
„Die Besucher aus dem Himmel teilen euer Leid“, sagte Martina.
„Ist es dem Besucher aus dem Himmel gestattet, die Kranken zu berühren?“ fragte Jack. Drei der Gatten gaben ein Zeichen mit der Hand, das Jack als Zustimmung genügte. Er kniete sich neben einen der Kranken und öffnete seine Tasche. Nachdem er Haut und Speichel und Schleimproben genommen hatte, maß er die Homöostasie und schaute in Augen und Mund. „Er sieht sehr schlecht aus“, sagte er zu Martina. „Er bekommt kaum Luft.“
„Hast du eine Ahnung, woran es liegen könnte?“
Er schüttelte den Kopf. „Eine Diagnose wäre ein Schuß ins Blaue. Vielleicht weiß ich mehr, wenn ich diese Proben im Labor untersucht habe.“ Er trat zu dem anderen Bruder und wiederholte die Untersuchung. „Was sagen die Jinrah über die Krankheit?“
„Sie sagen, jemand habe das Tabu ihres Familienhains gebrochen.“
Er sah sie an, Widerwillen im Blick. „Schrecklich. Bei dieser Einstellung begreife ich auch, warum sie bisher keine einfache Heilkunde entwickelt haben.“
Martina zuckte die Achseln. „Sie glauben, daß die heiligen Pflanzen über ihr Leben bestimmen. Sie gehen immer wieder in die geheiligten Haine, um mit ihnen in Verbindung zu treten.“
„Und warum liegen diese Burschen dann nicht in ihrem heiligen Hain? Wenn die Pflanzen allgemein schon wichtig sind, dann müßten sie doch doppelt bedeutungsvoll sein, wenn ihre Eigentümer erkrankt sind.“
„Sie waren im heiligen Hain“, sagte Martina. „Dort sind sie krank geworden.“
„Nun, das stellt den guten heiligen Pflanzen aber nicht gerade ein besonderes Zeugnis aus, oder?“ Er erhob sich. „Ich glaube nicht, daß sie noch lange leben – hör nur, wie sie atmen.“
„Kannst du gar nichts tun?“
„Das wage ich nicht. Es ist wahrscheinlicher, daß ich sie umbringe, statt ihnen zu helfen.“ Er wandte sich von den kranken Wilden ab. „Nach diesen acht Monaten weiß ich noch nicht genug über sie. Wenn du mich nicht an meiner Arbeit gehindert hättest, dann könnte ich ihnen jetzt vielleicht helfen.“
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, doch sie sagte nichts. Sie sah ihm nach, während er durch den Kreis der Klagenden trat und sich auf den Weg zur Station machte. Sie blieb und schloß sich den Wartenden an. Dies war ihre erste Gelegenheit, ein Bestattungsritual zu beobachten.
Als die Familienmitglieder eine Wehklage anstimmten, wußte sie, daß die Brüder gestorben waren. Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, und die Frauen, die nicht der Familie angehörten, hatten den Trauerkreis verlassen. Nur die Männer saßen noch dort. Jemand entzündete ein Feuer, so als ob es sich um eine gewöhnliche Nacht handelte, und im Feuerschein sah Martina den Ring der Gesichter, während der nächtliche Regen einsetzte. Während der ganzen Nacht blieben die Jinrah im trommelnden Regen sitzen. Sie klagten und schaukelten von einer Seite zur anderen, und Martina blieb bei ihnen. Bei Anbruch der Morgendämmerung kehrten die Frauen zurück. Kurz darauf hob der Häuptling seine Hände zum Zeichen des Schweigens, und das Wehklagen und Schaukeln brach ab.
„Wer hat das getan?“ rief er. „Derjenige soll vortreten und seine Strafe empfangen.“
Niemand bewegte sich.
„Wer hat das getan?“ wiederholte er.
Keine Bewegung.
„War es ein Kind, geschah es ohne Vorsatz, oder war es ein bewußtes Verbrechen?“
Niemand bewegte sich, niemand sagte etwas.
„Streut die Botschaft aus“, rief der Häuptling. „Sagt denen, die jetzt nicht hier sind, daß der Schuldige sich bekennen soll. Die Zeit der Klage ist vorüber.“
Darauf löste sich der Ring der Klagenden auf, und nur die Familie blieb noch unter dem Dach. Einer der Gatten fragte höflich, ob Martina am intimen Teil des Rituals teilnehmen wolle. Nachdem sie sich seit acht Monaten auf ihrem Gebiet aufhielt, wußten sie alle, wie sehr sie sich für ihre Rituale interessierte. So begleitete sie schließlich die Familie auf ihrer langen Wanderung mit den beiden Leichnamen. Ungefähr fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt legten sie die Leiber auf eine Plattform, die sich auf Pfählen über den Boden erhob. Auf der Plattform hatten Knochen gelegen, die Überreste von früheren Verstorbenen, doch sie stießen sie herunter. Rings um die Plattform lagen Knochen auf dem Boden verstreut, und in der Nähe entdeckte Martina ein zweites Bestattungsgestell mit weiteren Knochen. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Aasfresser alles Fleisch von den Knochen gelöst hätten. Sicher ging es sehr schnell, und die Hitze half bei der Verwesung.
Als sie kurz vor Sonnenuntergang zur Station zurückkehrte, fand sie nur Jack und Fiona vor. Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, daß sie sie kaum zu bemerken schienen. Martina leerte einen Becher mit Proteinkonzentrat und sank ins Bett. Plötzlich wurde sie unsanft aus dem Schlaf geschüttelt.
„Diese beiden Jinrah“, fragte Jack, „wo sind sie? Was ist mit ihnen geschehen?“
Sie rieb ihre verklebten Augen und blinzelte. Ihr Kopf war schwer, und sie fühlte sich völlig desorientiert. „Wie spät ist es eigentlich?“
„Du stehst sonst viel früher auf. Ich mochte nicht länger warten. Was ist mit den beiden Brüdern geschehen?“
Sie gähnte und reckte sich. „Sie sind gestorben.“
„Wo hat man sie beerdigt?“