und ich verwende einen anderen Namen. Ich hatte es für unmöglich gehalten, daß mich jemand findet.“
„Und wie …“
„Vor zwei Jahren habe ich einen Lehrling angenommen.“ Meine Augenbrauen hoben sich; ich hätte nicht gedacht, daß es jemanden gab, der würdig wäre, Montoyas Schüler zu werden. „Er ist ungeduldig, und die heitere Gelassenheit fehlt ihm, aber das wird beides im Alter heilbar. Er ist nicht ungeschickt, und seine Einstellung ist gut.“ Er sah Eddie wütend an. „War gut. Er hat mir Geheimhaltung geschworen.“
„Ich bin mit ihm in die Schule gegangen“, sagte Eddie. „Jahrgang dreiundachtzig. Er mußte es einfach jemandem erzählen.“
„Ja“, sagte Montoya und nickte langsam. „Ich glaube, ich verstehe, warum das geschehen ist.“
„Er ist in seine alte Heimat zurückgekehrt, weil er seine Mutter besuchen wollte. Ich habe ihn auf der Straße getroffen, wir sind in eine Kneipe gegangen, und es dauerte gar nicht lange, bis er mir die ganze Geschichte erzählte und auch, daß er in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich war. Er hat mir gesagt, ich solle Sie doch einmal in Ohio besuchen, und dann hat er mir Ihre Adresse gegeben.“ Eddie sah auf die Pistole in seinem Gürtel herunter und machte ein dümmliches Gesicht. „Wahrscheinlich hätte ich das nicht tun sollen.“
Montoya sah ihn an, dann Lady Macbeth und dann mich. Er musterte mich sorgfältig, und zu meiner Erleichterung bestand ich die Prüfung. „Es ist ja nichts passiert“, sagte er zu Eddie, und ich bemerkte zum erstenmal, daß er nur einen Pullover, einen Schlafanzug und Hausschuhe trug.
Die Ungeduld, die Frage zu stellen, ließ mich schier zerspringen, aber ich konnte sie nicht stellen, ich hatte Angst davor, und das muß sich in meinem Gesicht gezeigt haben, zumindest für einen so scharfen Blick, wie er ihn besaß, denn plötzlich trat ein Ausdruck von Bedauern und Mitleid in sein Gesicht. Mein Herz zog sich zusammen. Es war auch für sein Geschick zuviel …
„Verzeihen Sie mir, Sir“, sagte er voller Trauer. „Ich habe Sie auf meine Prognose warten lassen. Ich bin alt, und mein Kopf ist voller Pelz. Ich werde Sie, wie sagt man … erlösen.“
Ich trank mein Glas leer, warf es in den Kamin, damit es mir Glück bringen möge, und klammerte mich an meinen Stuhllehnen fest. „Heraus damit.“
„Sie wollen nicht wissen, ob diese Gitarre repariert werden kann. Darum geht es hier nicht. Sie wissen, daß jeder Trottel die Bruchstellen zusammensetzen und leimen und schrauben und basteln kann, um Ihnen dann etwas zurückzugeben, das genau wie eine Gitarre aussieht. Sie wollen wissen, ob diese Gitarre wieder das werden kann, was sie vor zwei Tagen war, und ich sage Ihnen die Antwort: in dieser Welt nie wieder.“
Ich schloß meine Augen und holte tief Luft; all die verschiedenen vom Kater befallenen Stellen in meinem Körper erhoben sich und zuckten zugleich zusammen.
Montoya redete noch immer. „… eine so schwere Verletzung muß in dem gesamten Instrument subtile Konsequenzen nach sich ziehen, mikroskopisch kleine Risse, winzige Schwachstellen. Niemand wäre in der Lage, sie alle zu finden, oder sie gar zu heilen. Wenn Sie mich aber fragen, ob ich, Domingo Montoya, es schaffen kann, Ihre Gitarre dem vorherigen Zustand so nahe zu bringen, daß Sie selbst keinen Unterschied bemerken, dann sage ich Ihnen, daß ich das glaube; ich kann außerdem das Summen am zwölften Bund beseitigen und den Steg erneuern.“
Meine Ohren sausten.
„Ich kann Ihnen den Erfolg nicht garantieren! Ich glaube aber, daß ich es schaffen kann. Ich werde zwei Monate dafür brauchen. Für diese Zeit werde ich Ihnen eine meiner Gitarren leihen. Sie müssen Ihre Finger für sie in Form halten, während sie für sie gesund wird. Sie haben sie freundlich behandelt, das kann ich sehen; sie wird Sie nicht unnötig warten lassen.“
Ich konnte nichts sagen. Callahan stellte die Frage: „Wieviel verlangen Sie dafür, Don Domingo?“
Er schüttelte den Kopf. „Das kostet nichts. Meine Augen und Hände verraten mir, daß diese Gitarre von einem alten Schüler, von Goldmann, gebaut worden ist. Er ist zu Gibson gegangen, und dann erkannte er die Richtung, die die Industrie einschlug. Er hat den Beruf gewechselt. Ich hatte immer gedacht, daß er mein Lehrer hätte werden können, wenn er weitergearbeitet hätte, weitergelernt hätte.“ Er liebkoste die Gitarre. „Es ist gut, seine Arbeit zu sehen. Ich möchte sie heilen. Der Hals, diese Kühnheit! Es muß ein Vergnügen sein, sie zu spielen, wenn man sich an sie gewöhnt hat, nicht wahr?“
„So ist es. Ich danke Ihnen, Don Domingo.“
„Niemand hier wird Ihr Geheimnis verraten“, sagte Callahan noch. „Ach ja, ich habe in meinem hinteren Raum einen Krug mit gutem altem spanischem Wein, den ich für einen Gentleman wie Sie aufbewahrt habe – darf ich Ihnen auf Kosten des Hauses ein Glas davon eingießen? Vielleicht noch ein Sandwich dazu?“
Montoya lächelte.
Ich rollte meinen Stuhl von ihm weg. „Eddie!“ rief ich.
Der kleine Pianist las meinen Gesichtsausdruck, und seine Augen weiteten sich vor Schock und Schrecken. „Ach, Mensch“, sagte er und schüttelte den Kopf, „nein, nur das nicht“, und ich schoß aus meinem Stuhl wie ein Stein aus einer Schleuder. Eddie versuchte hastig, sich in Sicherheit zu bringen, aber starke Hände packten ihn und verhinderten seine Flucht. Ich stürzte mich auf ihn wie ein Raubvogel, schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf den Mund, bevor er den Kopf wegdrehen konnte. Eine Explosion von Gelächter und Beifall erschütterte den Raum, und Eddie wurde feuerrot. „Ach, Mensch“, sagte er noch einmal.
„Eddie“, rief ich, „das kann ich dir unmöglich jemals wiedergutmachen.“
„Klar kannst du das“, rief er. „Laß mich los!“
Noch mehr Gelächter und Beifall. Dann erhob Doc Webster seine Stimme.
„Eddie, da hast du ein gutes Werk getan, und ich liebe dich dafür, und ich weiß, daß du gern direkte Methoden verwendest, und gegen das Ergebnis habe ich keine Einwände. Ich bin aber ehrlich gesagt etwas enttäuscht zu erfahren, daß du eine Pistole besitzt.“
„Ich habe sie auf dem Weg nach Ohio gekauft“, sagte Eddie und löste sich mühsam aus meiner Umarmung. „Ich dachte mir, der Zauberer habe vielleicht keine Lust, morgens um sieben aufzustehen und fünfhundert Meilen zu fahren, um sich ein zerbrochenes Gerät anzusehen, und ich hatte recht. Er hatte tatsächlich keine Lust.“
„Aber, verdammt noch mal, Eddie, die Dinger sind gefährlich. Während einer fünfhundert Meilen langen Fahrt … stell dir doch einmal vor, er hätte versucht, dir die Pistole abzunehmen, und sie wäre losgegangen?“
Eddie zog die Pistole, zielte an die Decke und drückte auf den Abzug. Es klickte nur leise, als der Hahn sich löste, und dann folgte ein unerklärliches Rauschen. Eddie ließ die Trommel rotieren. Die Pistole versicherte mir mit lauter, quäkender Stimme, sie könne über Nacht meine Pickel ohne schmierige Salben oder ölige Wattebäusche beseitigen.
Es blieb ihr sogar genug Zeit, ihren Spruch zu Ende zu bringen, die Zeit anzusagen und die Nummer drei der Hitparade anzuspielen, bevor die sintflutartige Woge von Gelächter und Beifall sie erstickte. Montoya hörte auf, die verwundete Lady zu trösten, um sich dem anzuschließen, und als er mit seiner Stimme durchdringen konnte, rief er: „Mein Freund, Sie hätten mich mit nichts Entsetzlicherem bedrohen können als mit erzwungenem Rundfunkkonsum.“ Darüber konnte Eddie sich nicht beruhigen, und er warf die „Pistole“ in den Kamin.
Schließlich einigten wir uns darauf, daß Eddie und Montoya Lady Macbeth in Eddies Wohnung bringen und dort etwas schlafen sollten. Am nächsten Morgen würden sie zusammen zu Montoya fahren. Von dort sollte Eddie mir die versprochene Leihgitarre zurückbringen, und wenn er wieder zurück war, wollten wir eine Session veranstalten. Ich mußte Montoya versprechen, diese Session auf Band aufzunehmen und ihm eine Kopie zu schicken.
Eines führte zum anderen, und als der Abend zu Ende war, war ich ungefähr genauso blau wie am Abend vorher. Dieses Mal aber war es ein glücklicher Rausch und nicht ein unglücklicher, und das ist ein Riesenunterschied. Ein solcher Rausch mag ebenso stark sein, aber er trägt einen anderen Charakter. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung ist Alkohol keine gute Droge gegen Schmerzen. Er kann zwar körperliche Schmerzen dämpfen, wird aber Kummer nicht mildern; dann ist er nur insofern eine Hilfe, als er einem Mann das Weinen oder Fluchen erleichtert. Ist man dagegen glücklich, ist Alkohol eine hervorragende Sache: Er kann Freude intensivieren. Daher war er bei dieser Gelegenheit geradezu perfekt – er betäubte mich gegen die Schmerzen meines ersten Katers und steigerte meine Euphorie. Meine Lady war gerettet, sie würde wieder singen. Meine Freunde, die vorher meinen Kummer geteilt hatten, teilten nun meine Freude. Ich tanzte mit Josie und Eddie und Rachel und Leslie. Ich löste die Abteilung III von Docs Rätsel auf und riet jede Frage ohne einen Fehler. Ich redete auf Tommy ein, bis er sich über einen alten Freund keine Gedanken mehr machte, und brachte ihn zum Lachen. Eddie setzte sich an das Klavier, alle anderen sangen als Raclettes mit, und ich gab „What I Say“ zum besten, und zwar siebzehn Strophen davon. Eine gute halbe Stunde lang untersuchte ich die Maserung der Bar ganz genau und erfuhr daraus eine ganze Menge über Aufbau und Ziel des Universums. Ich sprang auf die gleiche Bar und lieferte einen Matrosentanz – auf meinen Händen. Danach wurde alles ein wenig vage, und Halluzinationen stellten sich ein – ich glaube zumindest nicht, daß wirklich auch Pferde als Gäste zugegen waren.
Kurze Zeit später schien es ungewöhnlich still zu sein. Das einzige Geräusch war das stetige Fluchen meines Pontiacs und das Zischen von durchschnittener Luft. Ich öffnete meine Augen und beobachtete die weißen Linien, die auf mich zukamen.
„Pjotr, alter Saufkumpan. Nein – Wasserkumpan, du säufst ja nichts. Warum säufst du nichts, Pjotr? Schmeckt gut.“
„Schlechter Magen. Ruh dich aus, Jake, bald sind wir da.“
„Ich hoffe, morgen habe ich nicht auch wieder einen Kater. Das war grauenhaft. Mensch, mein Hals tut mir immer noch weh …“ Ich fing an, ihn zu reiben. Pjotr nahm meine Hand davon weg.
„Laß ihn in Ruhe, Jake. Ruh dich aus. Heute abend passe ich auf, daß du deine beiden Aspirin nimmst.“
„Alles klar. Du bist die Lilie auf dem Feld, Mann.“
Kurze Zeit später trat in meinem Mund Feuchtigkeit in besorgniserregendem Ausmaß auf, und als ich sie herunterschluckte, spürte ich, wie die beiden Aspirin hinunterglitten. „Guter alter Pjotr.“ Dann schalteten sich die Motoren des Raumschiffs aus, und wir traten in freien Fall ein.
Am nächsten Morgen kam ich zu dem Entschluß, daß es bei Katern wie bei der Liebe ist – beim zweitenmal tut es nicht mehr ganz so weh. Wenn der Vergleich stimmte, dann würde es mir morgen Spaß machen.
Oh doch, ich spürte wohl Schmerzen, gar kein Zweifel. Ich fühlte mich aber, als litte ich an einer mittelschweren Grippe, während ich mich gestern gefühlt hatte, als sei ich schon seit Wochen systematisch gefoltert worden, um eine Information herauszugeben. Meine Sinneseindrücke waren dieses Mal nur ungefähr doppelt so intensiv wie normal, eine erheblich jüngere und kleinere Maus war in meinem Mund verendet, und mein Schädel war nicht mehr als eine halbe Nummer zu klein. Nur mein Hals schmerzte mich ebenso stark wie gestern, was sich herausstellte, als ich den vorschnellen Versuch machte, auf die Uhr neben meinem Bett zu sehen. Einen scheußlichen Moment lang glaubte ich tatsächlich, ich hätte meinen Kopf abgeschraubt und dieser falle nun herab. Ich befestigte ihn mit meinen Händen wieder, und ich hatte das Gefühl, daß alle Nerven in meinem Hals bloßlagen, bis ich es endlich geschafft hatte.
Ich muß ein Geräusch von mir gegeben haben. Die Tür ging auf, und Pjotr schaute herein. „Ist alles in Ordnung, Jake?“
„Selbstverständlich nicht – aber die Hälfte von mir ist noch übrig. Du hast mich wieder ganz bis zum Schluß aufgehoben, was?“
„Du hast darauf bestanden. Eigentlich konnten wir dich gar nicht zum Gehen überreden, bis du völlig das Bewußtsein verloren hattest.“
„Na, ich … oh! Meine Gitarre. Ach, Pjotr, ich glaube, jetzt werde ich etwas tun, das mir sehr große Schmerzen einbringen wird.“
„Was?“
„Ich werde lächeln.“
Es brachte mir tatsächlich Schmerzen ein. Wenn Sie zufällig gerade keinen Kater haben, entspannen Sie Ihr Gesicht, und setzen Sie einen Finger hinter und unter jedes Ohr. Konzentrieren Sie sich. Jetzt lächeln. Mein gesamtes Genick war ein Knoten von Schmerz, und die beiden Muskeln, deren Bewegung Sie gerade gespürt haben, waren die Endpunkte des Knotens. Lächelte ich, so wurde der Knoten fester, aber ich mußte lächeln, und die Schmerzen machten mir nichts aus. Lady Macbeth lebte! Das Leben war schön.
Die Stimmung hielt nicht lange an. Mein Stoffwechsel war noch nicht in der Lage, gute Laune zu tragen. Die Lady lebte nicht. Vielleicht von den Toten zurückgekehrt – aber sie lag noch in tiefem Koma auf der Intensivstation. Zugegeben, der größte Chirurg der Welt kümmerte sich um sie, aber Jugend stand nicht auf ihrer Seite, und auf der des Chirurgen auch nicht.
Pjotr muß bemerkt haben, wie mein Lächeln verblaßte, und er muß auch den Grund dafür erraten haben, denn er sagte genau das richtige.
„Die Hoffnung ist da, mein Freund.“
Ich sah ihn zum erstenmal richtig an. „Danke, Pjotr. Großer Gott, du siehst ja noch schlimmer aus als ich. Ich muß dich geweckt haben, wieviel Uhr ist es denn? Ich traue mich nicht, meinen Kopf zu drehen und nachzusehen.“
„Praktisch die gleiche Zeit wie gestern. Du hast rund um die Uhr geschlafen, und ich habe gerade meine gewohnten sechs Stunden hinter mir. Ich gebe zu, daß ich mich nicht sehr ausgeruht fühle.“
„Du brütest sicher etwas aus. Ehrlich, du siehst so aus, wie ich mich fühle.“
„Also, ehrlich gesagt, ich fühle mich nicht so schlimm, wie ich das erwartet hatte. Das Aspirin muß wohl geholfen haben. Vielen Dank, Bruder.“
Er senkte den Kopf mit einem Gefühl, das ich für Bescheidenheit oder Schüchternheit hielt.
„Du solltest selbst zwei nehmen.“
Er schüttelte den Kopf. „Ich gehöre zu den Leuten, die Aspirin nicht vertragen …“
„Kein Problem. Ich habe hier die andere Sorte, die ist für jeden Magen verträglich.“
„Nein, danke.“
„Bist du sicher? Was hast du gesagt, wieviel Uhr es ist?“
„Normale Leute sitzen gerade beim Abendessen.“
„Beim Abendessen?“ Ich kümmerte mich nicht um den Schmerz, richtete mich auf und torkelte schnurstracks aus dem Zimmer, durch den Gang und in die Küche. Ich weinte vor Freude über so viele Nahrungsmittel an einer Stelle. Ich spürte den gleichen Heißhunger wie am Tag zuvor, nur dieses Mal wollte ich Pjotr nicht kochen lassen. Ich schämte mich schon genug, als ich bemerkte, daß er die Überreste des „Spätstücks“ von gestern saubergemacht und weggeräumt hatte, offensichtlich, bevor er sich hingelegt hatte.
Ich entwarf ein Megaomelette und begann, die Rohstoffe dafür zusammenzustellen. Ich sah es für zwei Personen vor. „Pjotr, du alter slawischer Samariter, ich weiß, du hast etwas dagegen, wenn dir die Leute am nächsten Tag ein Essen ausgeben, und das verstehe ich auch, weil damit die Großzügigkeit reiner wird, aber wir sind jetzt schon fast vierzig Stunden zusammen, in denen du keinen Bissen zu dir genommen hast. Du kommst deshalb jetzt her, hältst deinen Mund und ißt das Omelett, oder ich schiebe es dir in die Nase hinein. Ist das klar?“
Er starrte entsetzt auf den wachsenden Haufen bei dem Schnittbrett. „Jake, nein danke, nein!“
„Also, verdammt noch einmal, ich bitte dich nicht um eine Strukturanalyse deiner Verdauungsapparatur! Sag mir bloß, welche Zutaten ich weglassen soll, und ich verdopple den Rest.“
„Nein, ehrlich …“
„Verdammt, jeder verträgt Eier.“
„Jake, vielen Dank, aber ich bin wirklich nicht hungrig.“
Ich gab es auf. Die acht Eier hatte ich schon aufgeschlagen, und so gab ich noch die richtigen Zutaten bei, die für ein Omelett mit acht Eiern notwendig sind. Ich überlegte mir, daß ich die andere Hälfte ja den Katzen geben könnte. Als ich eine Pause einlegte, um mir den Mund abzuwischen, war aber zu meiner Überraschung bis auf ein Stück Speckschwarte, das ich schon einmal ausgespuckt hatte, nichts mehr auf meinem Teller. Ich aß es also auch noch auf, trank den Rest, der sich noch in der Kaffeekanne fand, und sah auf.
„Mensch, du bist vielleicht wirklich krank. Ich rufe Doc Webster an …“
„Nein, Jake, vielen Dank. Ich würde mich freuen, wenn du mich nach Hause fahren würdest. Ich will mich auf mein Bett legen und ruhen. Wenn du dir das zutraust …“
„Klar, ich fühle mich schon wieder fast menschlich. Nur mein Genick macht mir noch zu schaffen. Ich dusche nur noch und ziehe mich an, und dann geht’s los.“
Ich hielt vor Pjotrs Haus an, einer kleinen, einzelnstehenden Hütte, die ungefähr einen halben Block von Callahans Kneipe entfernt ist. Ich stieg mit ihm aus. „Ich komme nur noch einen Augenblick mit dir rein, Pjotr, damit auch alles in Ordnung geht.“
„Vielen Dank für das Angebot, aber mir geht es jetzt gut. Heute nacht schlafe ich, und wir sehen uns dann morgen. Wiedersehen, Jake – ich bin froh, daß deine Gitarre nicht verloren ist.“
Also stieg ich wieder in das Auto und fuhr den halben Block bis zu Callahans Kneipe.
„´n Abend, Jake. Was darf´s sein?“
„Kaffee, bitte, schwach und süß.“
Callahan nickte billigend. „Kommt sofort.“
Longdrink schnaubte neben mir. „Wird dir wohl zuviel, was, Kleiner?“
„Kann schon sein, Drink. An den beiden letzten Morgen hatte ich die ersten Kater in meinem Leben. Ich werde wohl alt.“
„Hah!“ Drink machte plötzlich ein verwirrtes Gesicht. „Weißt du, wenn ich es mir so überlege … hm. Das ist mir nie in den Sinn gekommen.“
„Hätte auch keiner von dir erwartet.“
„Nein, ich meine, mir wird gerade klar, wie verdammt lange es her ist, seit ich einen Kater gehabt habe.“
„Wirklich? Du?“ Drink ist einer von Callahans festesten (oder schwankendsten) Kunden. „Du mußt den gleichen merkwürdigen Stoffwechsel wie ich haben – autsch!“ Ich rieb mein Genick. „Oder früher hatte.“
„Nein“, sagte er nachdenklich. „Nein, früher hatte ich Kater. Jede Menge. Mir fällt nur gerade auf, daß ich mich nicht daran erinnern kann, wann ich zum letztenmal einen hatte.“
Der glatte Joe hatte mitgehört. „Ich aber. Ich erinnere mich an meinen letzten Kater, meine ich. Das war vor ungefähr vier Jahren. Kurz bevor ich angefangen habe hierherzukommen. Mann, das war vielleicht eine Granate …“
„Ist das nicht komisch?“ mischte sich Noah Gonzales ein. „Ich kann mich an keinen einzigen Kater erinnern, seit ich hierherkomme, und ich hatte früher ständig welche. Ich habe mir überlegt, daß das etwas mit der Stimmung in diesem Laden zu tun hat.“
Joe nickte. „Das habe ich auch gedacht. Die Kneipe hier ist irgendwie verzaubert, das weiß jeder. Nach jedem Besäufnis habe ich allerdings einen Wahnsinnshunger. Außerdem einen teuflisch steifen Hals.“
„Verzaubert, Quatsch“, sagte Longdrink. „Callahan, du elender Dieb, wir haben dich erwischt! Du verdünnst deinen Schnaps, bei Gott, und deshalb gibt es keinen ehrlichen Kater hier. Gib es zu.“
„Daß bei dir von Ehrlichkeit keine Rede sein kann, das will ich gerne zugeben“, knurrte Callahan, der mit meinem Kaffee zurückkam. Er kam mit seinem unrasierten Gesicht bis auf einen Zoll an Longdrink heran und blies ihm übelriechenden Zigarrenrauch entgegen. „Wenn ich meinen Stoff verwässere, wie kommt es dann, daß du ständig so abgefüllt bist?“
„Die Kraft der Einbildung“, brüllte Drink zurück. „Plazebo-Effekt. Die Typen hier haben darauf auch einen Einfluß. Sag es ihm, Doc.“
Doc Webster, der bisher ruhig über seinem Drink gehockt hatte, suchte sich diesen Augenblick aus, um seinen Kopf zurückzuwerfen und „ Weh mir!“ zu brüllen.
„He, Doc, was ist denn los?“ fragten zwei oder drei von uns sofort.
„Ich bin ruiniert.“
„Wieso?“
Er wendete seine ungeheure Masse uns zu. „Ich habe mir ein wenig Geld nebenbei als Theateragent verdient.“
„Ohne Scheiß?“
„Ehrlich, und jetzt hat sich mein vielversprechendster Klient, Dum-Dum, die menschliche Kanonenkugel, entschlossen, sich vom Geschäft zurückzuziehen.“
Longdrink sah ihn verständnislos an. „Mensch, das macht doch nichts. Bei der Arbeitslosigkeit und allem dürftest du doch keine Schwierigkeiten haben, ihn zu ersetzen. Teufel noch mal, wenn das Geld stimmt, dann mache ich es.“
Der Doc schüttelte den Kopf. „Dum-Dum ist ein Zwerg. Sie haben die Kanone speziell für ihn gebaut.“ Er nippte an seinem Bourbon und seufzte. „Ich fürchte, wir werden nie mehr einen Artisten seines Kalibers sehen.“
Callahan heulte auf, und wir anderen erwiesen dem Doc das größte Kompliment, das bei uns möglich ist: Wir hielten uns die Nasen zu und flohen schreiend aus seiner Nähe. Er saß da in seinem speziell für ihn angefertigten Sessel von Übergröße, und er sah ernst aus, aber man konnte sehen, daß er lachte, weil er wackelte wie Götterspeise. „Das war die Rache für gestern abend“, sagte er. „Ich werde es euch lehren, meine Rätsel zu raten.“ Er trank seinen Bourbon aus. „Also, ich muß weg. Ich habe heute im Smithtown-Krankenhaus eine Vertretung.“ Sein Glas traf genau mitten in den Kamin, und er ging unter einem dröhnenden Schweigen hinaus.
Wir schlichen uns alle auf unsere Plätze zurück und bestellten neu. Callahan war mit seiner Versorgung der Verwundeten kaum zu Ende gekommen, als die Tür wieder aufknallte. Wir drehten uns um, da wir glaubten, daß der Doc es sich anders überlegt hatte und doch noch etwas trinken wollte, und waren überrascht.
Da in der Tür stand nämlich der junge Tommy Jansen, die Tränen liefen an seinem Gesicht herab, und er war stinkbesoffen.
Ich erreichte ihn zuerst. „Was ist denn los, um Gottes willen? Komm, ich helfe dir.“
Er sang ein Stück aus dem alten Lied „Junkie’s Lament“ von James Taylor, „Ricky’s been kicking the gong …“, und das Blut gefror mir in den Adern. War es möglich, daß Tommy so dumm war und … aber nein, das war es nicht. Sein Atem roch nach Alkohol, und er hatte seine Ärmel hochgewickelt. Ich brachte ihn zu einem Stuhl, und Callahan zapfte ihm ein Bier. Er trank es halb aus und weinte noch ein bißchen. „Ricky“, schluchzte er. „O Ricky, du dummer Hund. Er hat mir das Zigarettenrauchen beigebracht, wußtet ihr das?“
„Ricky wer?“
„Ricky Maresca. Wir sind zusammen aufgewachsen. Wir … wir haben früher einmal zusammen an der Nadel gehangen.“ Er kicherte durch seine Tränen. „Ich habe ihn drauf gebracht, wie findet ihr das? Er hat mir Tabak gezeigt, und ich habe ihm seinen ersten Stoff gegeben.“ Seine Gesichtszüge brachen zusammen. „Großer Gott!“
„Was hat Ricky denn?“ fragte ihn Callahan.
„Nichts“, weinte er. „Nicht das geringste. Ricky hat keinerlei Probleme.“
„Ach, du Schande“, sagte ich leise.
„O Mann. Ich habe versucht, ihn dazu zu bewegen, daß er hierherkommt, und wie ich das versucht habe, das könnt ihr mir glauben. Ich dachte, ihr schafft bei ihm vielleicht das gleiche wie bei mir. Mensch, ich habe alles versucht, ihn hierherzubringen, aber ich konnte ihn ja nicht mit Gewalt herschleifen. Ich hätte ihn mit Gewalt herschleifen sollen!“ Er sank in sich zusammen, und Joe nahm ihn in die Arme.
Nach einiger Zeit fragte Callahan: „Überdosis?“
Tommy streckte eine Hand nach seinem Bier aus und warf es fast um. „Ach was. Er hat gestern abend versucht, eine Tankstelle auszunehmen, weil er Nachschub gebraucht hat, und der Tankstellenwart hatte eine Kanone in der Kasse. Ricky ist erledigt, Mann, voll erledigt. Er ist weg. Callahan, gib mir einen Whiskey!“
„Tommy“, sagte Callahan sanft, „unterhalten wir uns erst ein bißchen, nehmen einen Kaffee, und dann saufen wir einen. Okay?“
Tommy stellte sich mühsam auf die Füße und hielt sich an der Bar fest. „Versuche ja nie, einen Junkie aufs Kreuz zu legen! Du meinst, ich habe schon genug getrunken, aber da täuschst du dich gewaltig. Jetzt gib mir den Scheißwhiskey, oder ich komme rüber und hole ihn mir.“
„Nur ruhig bleiben, Kumpel.“
Ich versuchte, einen Arm um Tommy zu legen. „He, hör mal …“
Er schob mich weg. „Komm von deinem hohen Roß herunter, Jake! Du hast dir doch zwei Abende hintereinander die Rübe vollgeknallt, warum soll ich es dann nicht auch können?“
„Ich schenke dir so lange ein, wie du bestellen kannst“, sagte Callahan. „Du bist aber jetzt schon hart an der Grenze. Warum machst du dir nicht erst Luft? Darum geht es doch beim Trinken. Man macht seinem Herzen Luft und erzählt, bevor man umfällt.“
„Laßt mich mit eurem Geschwätz in Ruhe“, rief Tommy. „Warum, zum Teufel, bin ich überhaupt hergekommen? Saufen kann ich auch zu Hause.“ Er torkelte in der ungefähren Richtung der Tür los.
„Tommy“, rief ich, „warte doch …“
„Nein“, brüllte er. „Verdammt noch mal, laßt mich alle in Ruhe! Hört ihr mich? Ich will allein sein. Ich … ich kann noch nicht darüber reden. Laßt mich in Ruhe!“ Und weg war er und knallte die Tür hinter sich zu.
„Mike?“ fragte ich.
„Hmmm.“ Callahan schien sich nicht recht schlüssig zu sein. „Also, ich meine, man kann einem Mann nicht helfen, der sich nicht helfen lassen will. Laß ihn gehen. Morgen ist er wieder da.“ Er wischte die Bar mit einem besorgten Gesicht ab.
„Du meinst nicht, er …“
„Geht hin und setzt sich einen Schuß? Das glaube ich nicht. Tommy haßt das Dreckzeug inzwischen. Ich fürchte nur, er geht vielleicht zu Rickys Dealer und versucht ihn umzubringen.“
„Eine ausgezeichnete Idee, meiner Ansicht nach“, murmelte Longdrink.
„Er ist aber zu betrunken. Der bringt doch nichts mehr. Viel wahrscheinlicher erwischt es ihn. Oder er stellt sich dumm an und wird verhaftet.“
„Das wäre dann das zweite Mal“, sagte ich.
„Verdammt“, brach es aus Drink heraus, „ich gehe ihm nach.“
Als er aber auf dem halben Weg zur Tür war, hörten wir alle, wie draußen auf dem Parkplatz eine Autotür zuschlug. Er blieb stehen. „Alles in Ordnung“, sagte er. „Das ist mein Lieferwagen, das Geräusch würde ich überall erkennen. Tommy weiß, daß ich immer zwei Flaschen unter dem Sitz versteckt habe. Gegen Schlangenbisse. Da ist er gut aufgehoben – später gehe ich rüber zu ihm, lege ihn auf die Ladefläche und fahre ihn heim.“
„Hört sich gut an, Drink“, sagte ich. „Pjotr fällt heute aus, der ist krank, und da müssen wir für ihn einspringen.“
Callahan nickte langsam. „Also gut, das dürfte dann wohl klargehen.“ Die Gespräche in der Kneipe setzten wieder ein. Ich hatte Lust auf einen Drink, bestellte mir aber statt dessen noch mehr Kaffee, meine siebte Tasse an diesem Tag. Als er kam, trat eine jener zufälligen Gesprächspausen ein, und wir hörten alle deutlich das Geräusch von zerbrechendem Glas draußen auf dem Parkplatz. Callahan zuckte zusammen, verschüttete aber keinen Kaffee.
„Wie erklärst du dir so etwas wie Heroin, Mike? Es erwischt offenbar die ganz Dummen und die Hochbegabten. Bird, Lady Day, Tim Hardin, Janis und vielleicht noch ein Dutzend, die wir beide kennen – und eine halbe Million anonyme Verlierer, die tot in Seitenstraßen, öffentlichen Toiletten, Tankstellen und den Schlafzimmern anderer Leute liegen. Einer von einigen tausend ist dann ein Ray Charles oder ein James Taylor, die es schaffen, davon herunterzukommen und weiterarbeiten.“
„Das sagt dir einiges über die Welt, die wir aufbauen. Die sehr Dummen und die sehr Sensiblen können anscheinend darin nicht leben. Beide Arten von Menschen brauchen gefährliche Dosen von Betäubungsmitteln, nur um den Tag überstehen zu können. Ich meine, es wäre für alle Beteiligten weniger mühsam und lästig, wenn sie es sich legal besorgen könnten. Wenn dieser Ricky sterben wollte, na gut – aber er hätte nicht einen armen Tankstellenwart dazu zwingen dürfen, ihn zu erschießen.“
Von draußen kam wieder das Geräusch von zerbrechendem Glas, ebenso laut wie beim erstenmal.
„He, Drink“, sagte Callahan plötzlich, „wieviel Fusel hebst du in deinem Auto auf?“
Longdrink unterbrach eine Unterhaltung mit Margie Shorter. „Nun, ich habe mir überlegt, ich habe zwei Hände – und außerdem fährt vielleicht einmal jemand mit mir, der pingelig ist.“
„Zwei volle Flaschen?“
Wir verstanden alle sofort, aber Drink war der erste, der sich bewegte, und wenn er seine langen Beine erst einmal in Bewegung setzt, dann kommt er wirklich voran. Er war schon aus der Tür heraus, als wir uns gerade in Bewegung setzten, und als wir hinauskamen, konnten wir ihn undeutlich in der Ferne ausmachen. Er kniete auf der Ladefläche seines Lieferwagens und schüttelte den Kopf. Sie gingen alle auf den Wagen zu, aber ich winkte sie zurück, und sie gehorchten mir. Als ich den Lieferwagen erreichte, war es gerade hell genug, um die beiden Glashaufen ausmachen zu können, die früher einmal volle Flaschen Jack Daniels gewesen waren. Die Frage war jetzt nur – wieviel früher? Ich ließ mich auf alle viere nieder und tastete vorsichtig durch die Glasscherben. Ich nahm einige kleine Schnitte für die Antwort auf die Frage hin, ob der Boden um sie herum noch naß war.
Er war es nicht.
„Um Gottes willen, Drink, er hat zwei Flaschen hochprozentigen Whiskey ausgetrunken! Bringt ihn rein!“
„Kann man davon sterben?“
„Bringt ihn rein.“ Tommy hat einen außergewöhnlichen Magen, und er übergibt sich auch dann nicht, wenn das notwendig wäre. Ich rannte bereits los.
„Wohin läufst du – ach ja, richtig.“ Ich konnte hören, wie Tommy von dem Lieferwagen herabgezerrt wurde. Callahan hat aus Prinzip in seiner Kneipe kein Telefon, und deshalb wußte Drink, wohin ich rannte. Er hatte nur halb recht. Ich rannte durch hochspritzenden Kies aus dem Parkplatz heraus, rutschte am Bordstein in Hundescheiße aus, wurde von einem Wochenendcowboy in einem Camarro beinahe überfahren, sprang über den Kühler eines geparkten Chevys und platzte in die Tür des Delikatessenladens gegenüber von Callahan hinein, der die ganze Nacht geöffnet hat. Der Verkäufer fuhr erschreckt herum.
„Bernie“, brüllte ich, „ruf den Doc im Smithtown-Krankenhaus an. Alkoholvergiftung auf der anderen Straßenseite, los!“ Damit war ich schon wieder aus der Tür heraus und unterwegs zu meinem zweiten und wichtigsten Ziel.
Weil ich es wußte. Fragen Sie mich nicht, wie, ich wußte es einfach. Vielleicht hatte ich in meinem Unterbewußtsein bereits Verdacht geschöpft, bevor der Doc mich mit seinem blöden Wortspiel ablenkte – ich hatte eine Menge Kaffee getrunken, und man sagt ja, daß Kaffee den Intelligenzquotienten etwas anhebt. Vielleicht nicht – vielleicht wäre ich nie dahintergekommen, wenn ich es in diesem Augenblick nicht gemußt hätte, wenn das nicht die einzige Möglichkeit gewesen wäre, meinem dummen Freund Tommy das Leben zu retten. Ich hatte keine Beweise, wie ein Gericht sie anerkannt hätte – nur Hinweise und Vermutungen. Ich kann nur sagen, daß ich genau wußte, wohin ich schließlich gehen würde, als ich aus Callahans Tür herausrannte – die Anweisungen für Bernie waren nur eine Rückversicherung, und außerdem lag sein Laden auf dem Weg, so daß ich kaum Zeit verlor.
Ein halber Block ist kein weiter Weg. Praktisch überhaupt kein Weg. Hat man aber einen scheußlichen Kater, fürchtet, daß ein Freund stirbt, und ist sich außerdem auf geradezu übernatürliche Art sicher, daß etwas wahr ist, das man nicht glauben kann, dann kann ein halber Block unendlich weit sein. Bis ich dort ankam, glaubte ich es. Dann stand ich zum zweitenmal an diesem Tag vor einer kleinen, dunklen Hütte mit geschnitzten Ornamenten aus der Schweiz um Türen und Fenster. Dieses Mal fragte ich nicht, ob ich willkommen sei.
Ich verschwendete keine Zeit auf die Klingel oder die Haustür. Auf dem Rasen vor dem Haus stand ein großer Gartenstuhl aus Holz, vielleicht sechzig oder siebzig Pfund schwer, wie ich später erfuhr, aber in diesem Augenblick fühlte er sich an wie Balsaholz, als ich ihn über meinen Kopf hob und durch das große Wohnzimmerfenster schleuderte. Er nahm den größten Teil des Fensters und den Vorhang mit. Ich folgte ihm wie Dum-Dum, die menschliche Kanonenkugel, schräg in den Raum. Gott meinte es gut mit mir, denn ich landete auf nichts anderem als dem Teppich. Ich hörte einen weit entfernten Ausruf in einer Sprache, die ich nicht kannte, von der ich aber schwören konnte, daß es Rumänisch war. Ich folgte dem Geräusch durch völlige Finsternis, stieß mehrfach gegen harte Gegenstände und zerstörte einen kleinen Tisch. Völlige Dunkelheit, kein Mond, keine Sterne, keine Zeit für Streichhölzer. Endlich stand ich vor einer Tür. Ich trat sie auf, und da war er, wie er gerade eine Nachttischlampe anschaltete.
„Ich weiß es“, sagte ich. „Zum Lügen ist jetzt keine Zeit.“ Pjotr versuchte, einen verständnislosen Gesichtsausdruck aufzusetzen, aber das mißlang ihm, und dafür war wirklich keine Zeit.
„Du trinkst kein Blut, du filterst es.“ Er wurde blaß vor Schreck. „Ich kann mir sogar vorstellen, wie es gekommen sein muß, dein Verhalten bei Callahan, meine ich. Als du zum erstenmal in die Staaten kamst, bist du sicher in New York gelandet und hast einen Job bei der Blutbank bekommen, stimmt’s? Du holst dir nur ein wenig Nahrung aus einer Menge von Blut, und du kannst dich ernähren, ohne den Patienten, die eine Transfusion bekommen, wirklich Anämie zu geben. Ein ehrenhafter Vampir mit einer Verdauung, die mit Fleischbrühe Schwierigkeiten hat. Ich wette, du hast auch lange Eckzähne wie die Vampire im Film – nicht weil ihre Größe beim Blutablassen Vorteile bringt, sondern weil sie einige verdammt ungewöhnliche Drüsen enthalten. Du versenkst sie in fremdes Blut und filterst die Nährstoffe heraus, die es in gelöster Form mit sich führt. Du konntest nur nicht wissen, wie sie in New York ihr Blut bekommen, wer der typische Spender ist, und bevor du das herausbekommen hast, war es zu spät, und du warst ein steinharter Alkoholiker.“ Ich redete im Zeitraffer, aber ich konnte sehen, daß jeder Schuß ein Treffer war. Ich hatte keine Zeit dazu, mich um seine Not zu kümmern. Ich packte ihn, zerrte ihn aus dem Bett und warf ihm seine Kleider zu. „Das ist aber im Augenblick scheißegal! Du kennst doch den jungen Tommy Jansen? Er liegt einen halben Block weiter mit ungefähr drei Flaschen Schnaps im Leib, und die letzten beiden davon hat er ex ausgetrunken. Du bewegst also jetzt deinen knochigen transsylvanischen Arsch, oder ich trete ihn dir von deinem Rückgrat weg, verstehst du mich? Los, beeil dich, verdammt noch mal!“
Er verstand mich sofort und zog ohne ein Wort seine Kleider schnell genug für meinen Geschmack an. Einen Augenblick später rannten wir zusammen aus der Tür hinaus.
Der Sprint über den halben Block ließ mir genug Zeit, mir zu überlegen, wie ich die Sache über die Bühne bringen könnte, ohne Pjotr bloßzustellen. Es war die völlige Schwärze der Nacht, die die Idee in mir aufkommen ließ. Als wir zu Callahan kamen, rannte ich weiter um die Kneipe herum in den Hinterhof und rief ihm zu, er solle mir folgen. Als wir durch die Tür zum Hinterzimmer stürzten, suchte ich den Hauptschalter und warf ihn herum. Danach riß ich noch ein paar Sicherungen heraus, um kein Risiko einzugehen. Die Lichter gingen aus, und der Kühlschrank stellte sein Seufzen ein. Glücklicherweise brauche ich kein Licht, um in Callahans Kneipe meinen Weg zu finden, und gute Nachtsicht muß für eine Person mit der grundsätzlichen Mutation Pjotrs eine günstige zusätzliche Adaption bedeutet haben. In Sekunden hatten wir ohne einen Laut den Hauptraum erreicht.
Zumindest im Vergleich zu dem Stimmengewirr, das dort herrschte; jedermann brüllte zur gleichen Zeit herum. Ich rannte in der Dunkelheit in Callahan hinein – ich sah, wie der glühende Punkt seiner Zigarre an meiner Wange vorbeiglitt –, hielt ihn fest und flüsterte ihm ins Ohr: „Mike, vertrau mir. Du findest die Kerzen nicht, die du hinter der Bar aufbewahrst. Und mach das Fenster auf.“
„In Ordnung, Jake“, sagte er sofort ruhig und bewegte sich in der Dunkelheit von mir weg. Nachdem das Fenster offen war, gingen Streichhölzer sofort wieder aus, nachdem sie angesteckt worden waren. Beim Schein dieser Versuche, Streichhölzer anzuzünden, sah ich, daß Tommy an der gleichen Stelle auf der Bar lag, wo gestern Lady Macbeth gelegen hatte, und ich sah, daß Pjotr ihn erreichte.
„Zuhören, Leute!“ brüllte ich, so laut ich konnte, und es wurde still.
Ich will verdammt sein, wenn ich mich noch daran erinnere, was ich gesagt habe. Ich denke, ich sagte ihnen, daß der Doc unterwegs sei, ich erfand eine Geschichte von einem Stromausfall, ich erzählte ein paar Lügengeschichten über Leute, die mit zweimal so viel Alkohol im Blut überlebt hatten, und solche Dinge mehr. Ich weiß nur noch, daß ich sie allein durch die Kraft der Persönlichkeit, die aus meiner Stimme klang, festnagelte und ihre Aufmerksamkeit während der vier oder fünf Minuten, die mein flammender Monolog anhielt, ganz allein auf mich konzentrierte. Während dieser Zeit war Pjotr hinter ihnen an der Bar beschäftigt.
Als ich hörte, wie er sich räusperte, kam ich langsam zum Ende. Ich hörte, wie in der Entfernung eine Tür ins Schloß fiel, die Tür, die von dem Hinterzimmer nach draußen führte. „Deshalb ist es jetzt wichtig“, schloß ich und fand dabei eines jener künstlichen Holzscheite im Dunkeln, das ich in den Kamin legte, „nicht durchzudrehen und zu warten, bis der Krankenwagen kommt.“ Ich steckte den riesigen Feueranzünder in Brand und legte echte Ahorn- und Birkenscheite darauf. Das Feuer ging sofort an, was den größten Teil des Durcheinanders beseitigte. Callahan beugte sich über Tommy und rieb ihm tief am Genick mit einem Handtuch, sah auf und nickte. „Ich glaube, es geht ihm gut, Jake. Sein Atem geht viel leichter.“ Ein Beifallgeschrei erhob sich.
Als die Lichter wieder brannten, fuhr der Krankenwagen vor, und danach kam Webster wie ein wütendes Nilpferd zur Tür hereingestürzt. Er hatte drei Assistenten mitgebracht. Ich blieb nur noch so lange, bis ich von ihm die Bestätigung bekam, daß Tommy durchkommen würde, versprach Callahan, ihm die ganze Geschichte später zu erzählen, und verschwand durch die Hintertür.
Es machte weit mehr Spaß, den halben Block im Schritt als im Galopp hinter mich zu bringen. Ich fand Pjotr in seinem Schlafzimmer. Total betrunken, natürlich. Er torkelte in dem Zimmer herum und fluchte auf rumänisch.
„Hallo, Pjotr. Tut mir leid, daß ich dir die Scheibe eingeworfen habe.“
„Scheiß auf das Fenster. Jake, ist er …“
„Fein. Du hast ihm das Leben gerettet.“
Er runzelte grimmig die Stirn und setzte sich auf den Fußboden. „Es hat keinen Sinn, Jake. Vielen Dank, daß du versucht hast, mein Geheimnis zu bewahren, aber das geht nicht gut.“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“
„Ich kann nicht weitermachen. Mein Gewissen verbietet es mir. Ich habe dem jungen Jansen geholfen, aber das muß aufhören. Ich sauge euch alle ein.“
„Aus, Pjotr. Du saugst uns aus. Aber tritt dich nicht zu fest. Welche Wahl blieb dir denn? Außerdem hast du viele Leute vor vielen Katern bewahrt, als du bei ihnen deine Blutwäsche vorgenommen hast. Ich habe nur zufällig einen ungewöhnlichen Stoffwechsel. Deshalb hast du mir nicht den Kater genommen, sondern mir einen gegeben. Und für dich war er dann doppelt so stark: Das Blut, das ich dir in den letzten beiden Nächten gegeben habe, kann nicht besonders gut gewesen sein.“
„Ich habe es gestohlen.“
„Na gut, vielleicht. Den Alkohol hast du mir aber nicht gestohlen – wir sind beide davon blau geworden. Einige Nährstoffe hast du mir tatsächlich geraubt –, aber ich nehme an, du hast mir auch noch eine erhebliche Menge giftiger Nebenprodukte von Ermüdung, schlechter Ernährung und langer Verzweiflung genommen. Deshalb sind wir wahrscheinlich quitt.“
Er zuckte zusammen und rollte die Augen. „Diese Drüsen in meinen Zähnen – das war scharfsinnig geraten, Jake – sind unglücklicherweise nicht sehr wählerisch. Alkoholismus war nicht die einzige unangenehme Folge meiner Arbeit in der Blutbank – noch eine ausgezeichnete Vermutung –, aber sie ist die einzige, die mir geblieben ist. Das muß aber aufhören. Morgen abend, wenn ich wieder nüchtern bin, gehe ich in Mr. Callahans Kneipe und gestehe, was ich getan habe – und dann ziehe ich für eine Entzugskur weg, an einen Ort, an dem sie das Blut nicht von Alkoholikern bekommen. Vielleicht zu Hause, in dem alten Land.“ Er begann, leise zu schluchzen. „Das wird in vieler Beziehung eine Erleichterung sein. Es war hart für mich. Ich habe mich ständig geschämt, weil ihr dachtet, ich sei eine Art Altruist, und die ganze Zeit habe ich …“ Er weinte.
„Pjotr, hör mir zu.“ Ich setzte mich neben ihn auf den Boden. „Weißt du, was die Leute morgen tun werden, wenn du es ihnen erzählst?“
Kopf schütteln.
„Also, ich weiß es so sicher, wie Gott kleine grüne Streifen zum Verschluß von Plastiktüten gemacht hat, und du weißt es auch, wenn du nur ein bißchen dein Gehirn anstrengst. Ich bin so sicher, daß ich bereit bin, hier und jetzt eine Wette um hundert Dollar in Gold darüber abzuschließen.“
Er starrte mich verwirrt an, und die Tränen quollen aus seinen Augen.
„Sie werden eine Sammlung für dich veranstalten, du Arsch!“
Er glotzte mich an.
„Du hängst dort jetzt schon seit Jahren herum, und du weißt, daß ich recht habe. Jeder Mann und jede Frau, die dort in Frage kommen, ist bereits Blutspender, darauf achtet der Doc – willst du mir vielleicht weismachen, daß sie einem Mann, der mitten in der Nacht sein warmes Bett verläßt und die Aufdeckung seines Geheimnisses riskiert, um einem Jungen das Leben zu retten, nicht einen halben Liter oder so von ihrem Blut gönnen würden?“
Er begann, trunken zu kichern. „Weißt du was … hihi … ich glaube, du hast recht.“ Das Kichern enthüllte seine großen Zähne. Plötzlich verschwand es. „Oh“, rief er, „ich verdiene solche Freunde nicht. Weißt du, was mich zum erstenmal in Callahans Kneipe gelockt hat? Dort hängt kein Spiegel. Nein, nein, das ist ein alberner Aberglaube – Leute wie ich sehen sich so gut im Spiegel wie jeder andere. Das ist es ja. Ich habe mich geschämt, mein Bild im Spiegel zu anzusehen.“
Ich brachte ihn dazu, mich anzusehen. „Pjotr, hör mir zu. Du hast in den letzten Jahren für deine Brötchen hart gearbeitet. Du hast eine Menge Vollidioten daran gehindert, in der Unfallstatistik zu enden. Na gut, vielleicht hattest du noch ein Motiv, das wir nicht kannten, aber unter alldem geht es dir genauso wie allen anderen in Callahans Kneipe.“
„Wie bitte?“
„Du lebst von deinen Freunden.“
Das sah er Gott sei Dank ein, und alles kam zum Schluß in Ordnung.
Und zwei Wochen später spielte Pjotr uns allen einige rumänische Volkslieder vor – auf Lady Macbeth.
PYOTR’S STORY
by Spider Robinson
aus ANALOG October 12,1981
Übersetzung: Wolfgang Crass