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Der Gleiterpilot war ein graugekleideter Zeitwächter mit schmalem Gesicht und einer levantinischen Nase. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätte ich ihn in der Tat für einen Juden gehalten.

„Duncan Allen MacElroy?“ fragte er mich.

Ich stand auf und bürstete mir den dunklen Lehm ab, der an der Sitzfläche meiner Hose hängengeblieben war.

, ‚Höchstpersönlich.’’

„Bestens. Hallo Partner.“ Er streckte mir seine Hand entgegen. „Ich bin Dal Corst.“

Ich ergriff die Hand und schüttelte sie. Mittendrin hörte ich auf und blickte staunend auf den Neuankömmling. Mein Mund stand vor Überraschung weit offen.

Diese Worte waren gutes, altes Amerika-Englisch, texanischer Dialekt!

„Hm?“

Er grinste. „Du bist aus Arizona, oder?“ fragte er, nun wieder in Temporalsprache.

„Ich bin in Michigan geboren. Warum sprichst du Englisch?“

„Ich habe einige Jahre in Euro-Amerika verbracht.“

„Wo?“

„Euro-Amerika. Deine eigene Zeitlinie. Als wir beim erstenmal unsere Station in New York einrichteten, verschafften wir uns einen Überblick über eure Literatur, um festzustellen, wieviel ihr über Alternativ- Universen wußtet. Dieser Ausdruck stammt aus einigen SF-Romanen der frühen sechziger Jahre. Er gefiel uns so gut, daß wir ihn übernahmen.“

Haret hörte diesem Informationsaustausch stumm zu. Die Nachwirkungen des Hundert-Kilometer-Marsches und eine auf dem harten Boden verbrachte unruhige Nacht begannen, ihren Tribut zu fordern.

„Gut, daß du uns getroffen hast, Zeitwächter“, sagte sie. „Ich bin nicht sicher, ob ich den Rest des Weges noch geschafft hätte.“

„Es war mir ein Vergnügen, Zeitwacht-Anwärterin“, erwiderte Corst und verbeugte sich tief. „Ich habe Ausschau nach euch gehalten, seitdem euer Gleiter heute morgen am Grund eines Sees gefunden wurde.“

„Ausschau gehalten nach uns?“ fragte ich. „Warum?“

Corst schaute in die Runde. Das Glühen am westlichen Himmel war fast verschwunden, und Zwielicht hatte sich über die Ebene gesenkt. „Das könnten wir vielleicht drinnen diskutieren. Mir scheint, daß es ein wenig kühl wird.“ Und damit verlud er uns in den Gleiter, Haret auf den Rücksitz, mich neben ihn nach vorne. Schnell ließ er den Gleiter steigen und richtete seine Nase auf den fünfzehn Kilometer über verfinstertes Grasland entfernten Komplex der Akademie. Wir schwebten gemächlich vorwärts. Anscheinend war Corst nicht in Eile, nach Hause zu kommen.

„Duncan, ich muß sagen, daß ich viel Bewundernswertes während meines Aufenthalts in Euro-Amerika gesehen habe.“

„Was?“ fragte ich. „Wir sind nur ein gewöhnlicher Haufen von Hinterwäldlern, die bis jetzt noch nicht über das Geheimnis der Reise durch die Parazeit gestolpert sind.“

Er schüttelte den Kopf – eine unnatürliche Geste für einen Taladoraner. „Im Gegenteil, ihr seid ein sehr interessantes Volk. Ich habe vor, eine These über meine Erlebnisse zu verfassen, wenn ich die Zeit dazu habe. Zum Beispiel euer Raumfahrtprogramm und die Umweltschützer – zwei verwandte Phänomene, die in der Parazeit einmalig sind.“

„Hm? Was hat das eine mit dem andern zu tun?“

„Alles. Sie sind zwei Ausschnitte aus der Reaktion deiner Gesellschaft auf ihre Unfähigkeit, die Zeit zu durchqueren. Nimm die Aussage: ´Es gibt nur eine Erde, daher müssen wir sie sorgsam behandeln.´ Solch ein Gedanke würde niemals einem Taladoraner oder einem Dalgiri einfallen … insbesondere einem Dalgiri nicht. Wieso auch? Diese Behauptung ist nachweislich falsch. Wir haben buchstäblich Tausende von Erden zu unserer Verfügung. Unsere Ressourcen sind unbegrenzt, wogegen eure in der Tat sehr begrenzt sind. Das färbt unsere Sicht der Dinge unterschiedlich ein.“

Ich nickte. Ich hatte einige Industrie-Zeitlinien der Konföderation gesehen. Sie hatten Smog-Probleme, die nicht gelöst werden konnten.

„Ich verstehe nicht, was das mit dem Weltraum zu tun hat“, sagte ich. Ich begann nun selbst, die Auswirkungen unseres Ausflugs in die Wildnis zu spüren. Das war alles, womit ich noch die Augen offenhalten konnte.

„Aber ist das nicht offensichtlich? Euro-Amerika ist eine einsame Zeitlinie, auf der alle Grenzen erforscht sind. Ihr seid eine reife Kultur ohne echte Horizonte. Was also macht ihr? Ihr schafft euch eure eigenen Horizonte. Wo andere sich der Parazeit als Grenze zuwenden, wart ihr gezwungen, eure Augen auf das endlose Vakuum über euch zu richten. Ihr habt Menschen zum Mond geschickt. Keine andere uns bekannte Zeitlinie hat ein ähnliches Kunststück vollbracht. Warum sollten sie? Sie haben eine Unendlichkeit an lebenden, atmenden Planeten zu erforschen.“

Aus dieser Sicht betrachtet, ergab es Sinn. Die Entdeckung der Parazeitreise schloß automatisch jeden Gedanken an die Erkundung des Raums aus. Warum? Jede Alternativ-Erde hatte alles, was die Menschheit sich wünschen konnte.

Wir waren auf halbem Weg zur Akademie, als die Unterhaltung zum Stillstand kam. Ich sank im Sitz zurück und stützte meinen Kopf gegen das Seitenfenster. Meine Augenlider waren auf halbmast gesackt, meine Gedanken untätig. Ich war zu erschöpft, um wenigstens nach dem Ausgang des Kampfes, dessen Zeugen wir am vorherigen Morgen gewesen waren, zu fragen.

Als wir uns dem Hauptkomplex näherten, schaute ich flüchtig in das wachsende Dunkel und versuchte abwesend, meine eigene Unterkunft aus all den anderen herauszupicken. Ich dachte erwartungsvoll an den Komfort der Gravitationsplatten an meinem Bett.

Plötzlich war ich hellwach. Ein Adrenalinstoß zwang meine Augen zu voller Aufmerksamkeit. Irgend etwas war nicht in Ordnung!

Die Akademie der Zeitwacht ist mehr als ein Ort, um neues Blut für die notorisch unterbesetzte Wacht auszubilden. Sie ist auch ein Forschungszentrum für die Beschäftigung mit dem Wissensstoff auf dem Gebiet der Zeitphysik. Sie ist das geeignete Übungsgelände für erfahrene Zeitwächter, die zurückkehren; sie ist ein kulturelles Zentrum, wo junge, fähige und forschende Geister sich treffen und Ideen austauschen, wo sie neue Philosophien, Gedankengänge und Kunstrichtungen hervorbringen können.

In anderen Worten, die Akademie hat ein aktives Nachtleben.

Als Dal Corst den Luftgleiter auf die große, auf der Spitze stehende Pyramide des Hauptgebäudes der Akademie zusteuerte, wurde mir klar, daß die Lichter des Komplexes schon lange angeschaltet sein mußten. Wir überflogen einen mehr als einen Kilometer langen Streifen mit dunklen Wohnheimen, Cafeterias, Labors, Simulatorräumen und Übungsplätzen. Im letzten Jahr hatte ich mindestens sechs von zehn Nächten in der großen Zentralbibliothek zugebracht. Ihre Fassade aus leuchtenden, farbigen Lichtern hätte ein über mehrere hundert Kilometer weithin sichtbarer Leuchtturm sein sollen. Jetzt, als wir keine zwanzig Meter über dem Dach die Bibliothek überflogen, waren die sonst funkelnden Wände leblos.

„Wo sind die Leute alle hin?“ fragte ich. „Und warum sind die Lichter aus?“

„Die meisten sind in die Konföderation zurückgekehrt“, antwortete Dal, als er den Gleiter vor dem Hauptgebäude landete. „Der Überfall hat den Regierenden Rat aufgerüttelt. Es wurde angeordnet, sowohl Salfa Null als auch Salfa Eins zu evakuieren.“