Somtow Sucharitkul
 

Verbanne noch dich von der Seligkeit …
 

Sie erinnern sich doch sicher noch an Stille, oder?

Einst gab es viele Arten von Stille: Stille vor einer großen Rede, Stille, bevor ein donnernder Applaus losbricht, Stille nach Gelächter. Nun ist die Stille für immer verschwunden. Lauscht man an den Stellen, an denen früher Stille herrschte, hört man ein leises, eindringliches Summen, wie von einem Schwärm weit entfernter Fliegen, das das Ende der Einsamkeit des Menschen verkündet …

Bei mir hat es sich folgendermaßen abgespielt: Es war Premierenabend, Hamlet starb gerade, und ich sah von den Kulissen aus zu, denn als Guildenstern war ich natürlich schon tot. Ich wollte sowieso bis zum Schlußvorhang warten, obwohl ich wußte, daß das Publikum mich nicht bemerken würde. Es war noch nicht allzu lange her, seit ich meine erste Rolle bekommen hatte, und ich war neu in New York. Hier aber drehte sich alles um Sir Francis FitzHenry, der mit seinem neuen Titel, der an ihm klebte wie Einwickelpapier, zu horrenden Kosten aus England herangeholt worden war.

Alles andere war so billig wie möglich, ich eingeschlossen. Die Bühne war streng ohne Kulissen aufgebaut, scheinbar, um dem Modernismus zu huldigen, aber in Wirklichkeit, weil die Geldgeber kein Geld mehr hatten, nachdem sie FitzHenry´s Vorschuß bezahlt hatten. Daher lag Sir Francis auf einer leeren Bühne, auf der außer einem alten ledernen Lehnsessel als Thron für Claudius und einem grellen grünen Scheinwerferspot auf Hamlet nichts zu sehen war. Nicht daß es da etwas von dem Avantgarde-Unsinn frei nach Joseph Papp gegeben hätte. Alles war reell. Ich selbst hatte nicht verstehen können, was die Leute an Sir Francis FitzHenry fanden, bis ich ihn persönlich erlebte – ich hatte ihn bisher nur in dem lächerlichen Ben Hur-Remake von Fellini gesehen –, aber er war eine Granate, genau das richtige für die alten jüdischen Damen.

Da lag er also und brachte seine letzten Worte so herzzerreißend, daß ich fast in einem Meer von Kunsthonig ertrunken wäre. Er stellte sich in elaboraten Posen dar, die direkt von der Akropolis stammen könnten, und jeder jambische Pentameter hörte sich bei ihm so an, als seien es die New Yorker Philharmoniker und der Tabernakelchor der Mormonen zur gleichen Zeit. Es ging ihnen ein wie Butter. Na ja, der letzte Trend lief nicht mehr in Richtung der wirklich modernen Interpretationen. Er war ein Triumph der alten Schule und machte dort auf der Bühne die anderen Schauspieler zu Pappmache-Dekorationen um ihn herum.

Er hatte die eine Stelle gerade erreicht, Sie wissen ja:

„Verbanne noch dich von der Seligkeit …

Um mein Geschick zu melden“

und wollte gerade mit perfekter Grazie in Horatios Arme sinken. Man konnte spüren, wie kollektiv der Atem angehalten wurde, die Stille war fast greifbar, und ich dachte, Mein Gott, was könnte das jemals übertreffen! … und bei mir stellte sich jenes gute Gefühl ein, das man spürt, wenn man weiß, daß man sich gleich den Gehaltsscheck für mindestens ein weiteres Jahr oder so abholen wird. Und vielleicht würde sogar Gail zurückkommen.

Dann …

Summ, summ, summ, summ. „Was ist los?“ Ich drehte mich zu dem kleinen Bühnenmanager um, der wild Knöpfe drückte. Das Summen wurde immer lauter. Man konnte kein Wort von dem verstehen, was Horatio sagte. Das Summen kam nun aus allen Richtungen und schmerzte in meinen Ohren. Sir Francis richtete sich mitten in der Bewegung auf und sah böse zu den Kulissen herüber. Dann übertönten die ersten Schreie das Geräusch, und endlich hatte ich genug Mut gefaßt, um meinen Kopf herauszustrecken, und sah den Tumult im Publikum …

„Verdammt noch mal, warum schaltet nicht jemand die Hauptbeleuchtung an?“ Cludius hatte sich von seinem Platz aufgerichtet, wo er tot dagelegen hatte, und stampfte auf der Bühne umher. Das Summen wurde immer intensiver, und nun mischten sich vereinzelte Schreckensschreie und der Donner einer beginnenden Panik hinein. Ich stieß laute Flüche über den einzelnen, dürftigen Scheinwerfer aus. Das Geschrei ertönte nun ununterbrochen. Überall auf der Bühne rannten Leute umher und stolperten über Schwerter und Schilde, eine Hofdame rannte in mich hinein und schmierte mir Make-up auf meinen Umhang, Leichen tappten in der Dunkelheit umher, bis ich endlich dort, wo der Bühnenmanager weggerannt war, den richtigen Knopf fand. Alle Lichter gingen an, und der Ledersessel flog in die Galerie über dem Proszenium.

In der ganzen Unruhe schnappte ich ein Wort auf …

Außerirdische.

Ein paar Minuten später wußten alle alles. Irgendwie wurden uns Botschaften in den Kopf geschickt. Zuerst hieß es nur: Keine Panik, keine Panik, und wir wurden hypnotisch beruhigt, aber dann wurde alles viel verwirrender, als uns die Ungeheuerlichkeit der ganzen Situation bewußt wurde. Oberflächlich wurde alles wieder normal, aber irgendwie verkrampft, künstlich. Da saßen sie alle, eine Reihe glasäugiger Mannequins in teuren Kleidern im grellen Licht der Beleuchtung, und wir wußten, daß wir in unseren Köpfen alle das gleiche hörten.

Sie brächten uns das Geschenk der Unsterblichkeit, sagten sie. Sie seien Vertreter einer Art galaktischer Föderation. Nein, wir würden wirklich nicht in der Lage sein zu verstehen, wer sie waren, aber sie würden uns nichts tun. Als Gegenleistung für ihr Geschenk sollten wir ihnen nur einen kleinen Gefallen tun. Sie wollten versuchen, es uns mit unseren Begriffen zu erklären. Offensichtlich war etwas wie eine Hyperraum-Oberschule mit einem Projekt über unzivilisierte Planeten beschäftigt, so ähnlich wie „Ein Tag im Leben einer barbarischen Welt.“ Das Sonnensystem befände sich zur Zeit in so etwas wie einer Zeitschleife, und ob wir bitte so freundlich wären, den gleichen Tag immer wieder zu wiederholen, nur eine Zeitlang, und jeden Morgen von sechs bis acht hätten wir frei, und dann würden ihre Kinder herkommen und sich alles genau ansehen. Wir hätten großes Glück, meinten sie noch, denn es sei ein ausgezeichnetes Geschäft. Nein, ändern könnten wir daran nichts.

Ich fragte mich, wie lange wohl „immer wieder, nur eine Zeitlang“ sein würde?

Sie gaben mir Antwort. „Oh, nicht lange. Ungefähr sieben Millionen von euren Jahren.“ Ich hatte das Gefühl, daß wir dabei zu kurz kamen, obwohl mir klar war, daß dies im Vergleich mit der Unsterblichkeit so gut wie nichts war.

Während ich stocksteif dastand und nicht wußte, was ich denken sollte, bot sich mir ein verblüffender Anblick. Wir sahen sie alle als hauchdünne Lichtschleier, die durch unser Gesichtsfeld schwebten und tanzten, fast unsichtbare, winzige Nordlichter, die funkelten und verschwanden … Ich sah Sir Francis’ Gesicht durch einen Gazeschleier von schimmernden blauen Lichtern. Ich wünschte mir so sehr, sie zu berühren. Ich streckte meine Hand aus, und sie ging durch sie durch, ohne daß ich dabei etwas spürte. Dann waren sie verschwunden.

Wir drehten die Hauptbeleuchtung ab – uns blieb bis Mitternacht Zeit – und machten mit dem Stück weiter. Das Summen verschwand fast vollständig, aber trotzdem war es die ganze Zeit hindurch sehr deutlich da. Also plapperten alle schnell ihre Parts herunter und versuchten, die Pausen dazwischen möglichst kurz zu halten, um das Geräusch zu verdecken. Der Applaus war mechanisch, und Sir Francis schien sehr besorgt darüber, daß er so leicht an die Wand gespielt worden war.

Einige Minuten vor Mitternacht ging ich nach Hause. Ich bemerkte seltsame Pfähle mit bunten Metallköpfen, die wie riesige Parkuhren in Abständen von zwei Blocks auf dem gesamten Broadway standen. Die Straßen waren praktisch leer, einige Taxis hatten sich überschlagen, und ein alter Chevy ragte aus einem Schaufenster. Mich aber hatten die Ereignisse völlig verwirrt. Ich versuchte, an nichts anderes zu denken als an Gail und die böse Sache, die heute morgen passiert war.

Ich stieg die schmutzige Treppe zu meiner kleinen Wohnung über einem indischen Gewürzladen hinauf und sprang mit allen meinen Kleidern ins Bett. Dabei dachte ich die ganze Zeit an die böse Sache zwischen Gail und mir, und um Mitternacht bemerkte ich plötzlich, daß ich meinen Schlafanzug trug und sie neben mir lag. Mit einem plötzlichen Ruck von Desorientierung wußte ich, daß es nicht mehr heute war – es war gestern, es war alles wahr. Ich drückte meine Augen fest zu und wünschte mir, ich wäre tot.

 

Ich wachte ungefähr um elf Uhr auf. Gail rührte sich unruhig. Ich versuchte ständig, mich loszureißen, weil ich wußte, was kam. Was die Fremden auch getan hatten, es hatte mich in eine Nadel in einer Rille verwandelt, die dem Weg des geringsten Widerstands folgte.

Wir standen auf und frühstückten. Sie sah auf ihre bedrohliche Art unordentlich aus, und schwarze Haarsträhnen bildeten vor ihren verblüffend blauen Augen ein Netz.

„John?“

Der kleine Küchentisch schien breit wie der Weltraum zwischen uns zu stehen. Sie sah unglaublich unerreichbar aus, wie die Sterne. „Hm?“ fand ich mich selbst in banaler Stimme sagen. Ich wußte, was sie sagen würde; ich wußte, was sie tun würde. Was es auch war, es ging doch nur um Äußerlichkeiten. In meinen Gedanken war ich frei, als sei ich jemand, der außerhalb von alldem stand und meine eigene Vergangenheit als Aufzeichnung erfuhr. Ich wunderte mich über meine Abgeklärtheit.

„John, ich verlasse dich.“

Wut stieg in mir hoch. Ich sprang auf, warf dabei die Kaffeetasse um und brüllte wie ein Idiot: „Warum, mit wem?“ bevor ich in zusammenhanglose Flüche ausbrach.

„Francis FitzHenry hat mich darum gebeten, zu ihm zu kommen – in seine Suite im Plaza!“

Wieder kochte die Wut hoch. Ich schlug ihr blind ins Gesicht. Sie wurde zuerst blaß, dann rot, und dann sagte sie ruhig, gefährlich: „Du bist zu kleinkariert, John. Das ist der Grund, warum du für den Rest deines Lebens Guildenstern bleiben wirst.“ Das tat weh.

Dann verschwand sie aus meinem Leben.

Ich rasierte mich und ging langsam zum Theater hinüber. Wir spielten vor einem vollen Haus. Die Fremden kamen. Sir Francis schien sehr besorgt darüber, daß er so leicht an die Wand gespielt worden war. Ich ging nach Hause und bemerkte beiläufig die beiden umgestürzten Taxis und den alten Chevy, der aus einem Schaufenster ragte, ging an den überdimensionalen Parkuhren vorbei in meine kleine Wohnung über dem indischen Gewürzladen. Ich warf mich mit allen meinen Kleidern ins Bett. Ich schlief ein.

Ich wachte ungefähr um elf Uhr auf. Gail rührte sich unruhig. Wir liebten uns mechanisch, und ich wußte, daß die beiden Menschen, die da beieinander lagen, vollständig von sich selbst getrennt worden waren. Sie vollzogen vorausbestimmte Bewegungen, die keinerlei Beziehung mehr damit hatten, was sich in ihren Köpfen abspielte. Und es gab keinerlei Kommunikationsmöglichkeit.

Wir frühstückten. Sie sah auf ihre bedrohliche Art unordentlich aus, und ich wünschte verzweifelt, ich könne mich bei ihr entschuldigen. Als ich aber zu sprechen versuchte, waren die Muskeln in meinem Gesicht eingefroren, und das Summen wurde lauter und erstickte meine Gedanken. Kam das Summen von außen, oder war es ein geistiger Monitor, um den Status quo durchzudrücken?

„Ich verlasse dich.“

Wut stieg in mir hoch. Ich unterdrückte sie sofort, aber das änderte weder an meiner Haltung noch an meinen Worten etwas.

„Francis FitzHenry hat mich darum gebeten, zu ihm zu kommen – in seine Suite im Plaza!“

Ich schlug sie ins Gesicht. Plötzlich kamen die Lichtschleier, liebkosten die stickige, schlechte Luft in meiner Wohnung, berührten den Staub und brachten ihn wie goldenen Schnee zwischen uns zum Glänzen. Sie verblaßten. Man hatte uns beobachtet; wir waren in einem galaktischen Peyton Place gefangen.

„Du bist zu kleinkariert, John. Das ist der Grund, warum du für den Rest deines Lebens Guildenstern bleiben wirst.“ Und verschwand aus meinem Leben. Es tat mir jedesmal mehr weh. Auch in diesem Drama war ich dazu verurteilt, Guildenstern zu sein, ein Guildenstern für die alten Damen und ein Guildenstern für die Lichtschleier. Es war die Hölle.

Ich rasierte mich und ging langsam zum Theater hinüber. Wir spielten vor einem vollen Haus. Die Fremden kamen; Sir Francis schien sehr besorgt darüber, daß er so leicht an die Wand gespielt worden war. Ich ging an den umgestürzten Autos und den riesigen Parkuhren, die aus dem Nichts erschienen waren, vorbei nach Hause.

Als ich kurz vor Mitternacht am Einschlafen war, kam mir ein Gedanke: Wir sollten doch jeden Morgen zwei Stunden frei haben, oder? Ich hatte nun schon seit Monaten diese beiden Stunden verschlafen.

Ich beschloß, mich um sechs Uhr zum Aufwachen zu zwingen.

 

Um 6.30 Uhr riß ich mich hoch, zog unauffällige Jeans und ein T-Shirt an und ging hinunter.

Der leuchtend helle Sommermorgen traf mich wie ein Hammer. Gestern abend war es noch Herbst gewesen. Alles war zu bewundern: der Abfall, den der leichte Wind langsam über den Bürgersteig trieb, die Kühle der Luft, die Helle des Sonnenlichts …

Zwei Penner lehnten sich gegen den ersten von den Pfählen der Fremden. Sie hatten ihre Augen geschlossen und machten einen sehr friedlichen Eindruck, und deshalb schlich ich mich weg. Aus Gullys stieg Dampf, die Menschen drängten sich aneinander vorbei, und bis auf das beharrliche Summen wirkte alles erstaunlich normal.

Bei einem anderen Pfahl stand ein Mann in einem schwarzen, dreiteiligen Anzug mit einer schreienden orangenen Krawatte und hielt ein Schild hoch, auf dem VON DÄNIKEN LEBT! gekritzelt war. Er hatte ein heruntergekommen aussehendes Publikum um sich versammelt, dem ich mich einen Augenblick lang anschloß.

„… Mann, die Typen haben die Pyramiden gebaut! Das Empire State Building! Sie sind die Götter! Alexander der Große war einer! Richard M. Nixon war einer! Gott war einer! … Und auch ihr könnt gerettet werden, wenn ihr mir nur einen Fuffziger auf den Altar der Buße hier werft! Halleluja! Vielen Dank, die Dame …“

Ich ging weiter.

Bei der nächsten außerirdischen Parkuhr tanzten ein paar Hare-Krishna-Typen immer wieder im Kreis herum, als hätten sie einen Missionar im Topf. In ihrer Mitte liebkoste ein glattrasierter dürrer Mann mit einer Brille den Pfahl, der dunkelrot glühte. Er wirkte verwandelt, fast schön, weit realer, als das Francis FitzHenry je werden konnte. Ich sah lange fasziniert zu; meine Gedanken waren durch die hypnotische Wiederholung ihres Gesangs abgestumpft.

Sie hörten auf und rissen mich aus meiner Träumerei. Der dürre Mann kam zu mir herüber und begann, vertraulich und eindringlich auf mich einzuflüstern. „Wußtest du, daß sie nur einige Mikrons dick sind? Wußtest du, daß sie T’tat heißen? Wußtest du, daß sie ein geteiltes Bewußtsein besitzen, das weit über Raum und Zeit hinausreicht? Wußtest du, daß sie in ihrer Entwicklung unglaublich weit fortgeschritten sind, hä?“

„Sie reden aber nicht wie die Hare-Krishna-Leute.“

„He! … Ach, die Kleider meinst du. Eigentlich habe ich einen Doktor vom M.I.T. Ich rede mit ihnen, weißt du.“

„Ehrlich?“

„He, wirklich! Hör mal, komm her.“ Er zog mich grob zu dem Pfahl hinüber, der gerade aufgehört hatte zu glühen. „Setz dich hierher, entspanne dich, berühre den Pfahl. Totempfahl, göttliche Antenne, was es auch ist. Hörst du nichts …?“

Hallo.

Ich zitterte. Die Stimme war so nahe; sie redete in mir. Ich zog mich hastig zurück.

„He, wußtest du, daß sie viele Farben haben und daß eine jede Farbe den Status anzeigt, der vom Alter abhängig ist? Wußtest du das vielleicht, hä? Wußtest du, daß sie sich erst an das kollektive Bewußtsein anschließen, wenn sie fast eine halbe Milliarde Jahre alt sind, daß sie solche Lernzentren in der gesamten Galaxis betreiben, daß sie ursprünglich aus dem großen Andromeda-Nebel stammen? Ohne Scheiß, Mann!“

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

„Hier, greif noch mal zu, beim zweitenmal ist es nicht mehr so schlimm.“ Er war ein reines Nervenbündel und zuckte am ganzen Körper. „Tut mir leid, daß ich mich so aufführe. Das ist meine einzige Chance, mich normal zu verhalten, verstehst du, für den Rest des Tages bin ich entweder bekifft oder ich schlafe, wie es im Drehbuch steht. Ich kann es kaum erwarten, bis wir alle aufwachen!“

Ich streckte eine Hand aus. Hallo.

„Gibt es keine Methode, wie wir ihnen Widerstand leisten können?“

„Wozu? Willst du nicht ewig leben? Das hier ist doch nur so eine Art Fegefeuer, nicht? Irgendwann kommen wir alle in den Himmel.“

„Aber nehmen Sie einmal an, ich wollte, na, ihnen widersprechen oder so was.“

„Keine Ahnung. Alles können sie schließlich nicht kontrollieren.“ Er stockte kurz und sprudelte dann wieder einen Informationsstrom heraus, als hätte ich eine Münze in ihn hineingeworfen.

„Die allgemeinen Gleichungen habe ich ausgearbeitet.“ Er hielt mir kurz einen Zettel unter die Nase und steckte ihn dann wieder in die Tasche. „Aber man muß offensichtlich die vereinte Feldtheorie kontrollieren, und selbst dann wäre die Frage der Energiequelle noch zu klären. Ich habe mir da einige Theorien zurechtgelegt – wenn sie zum Beispiel so eine Art Mini-Quasar hätten, verstehst du, so was wie ein winziges weißes Loch, mit dem sie Raum/Zeit durchdringen und in ein transdimensionales Universum eindringen, könnten sie diese Energie abzapfen, verstehst du, und …“

Ich konnte ihm nicht mehr folgen. Ich berührte den Pfahl, und seine Stimme verlor sich im Nichts. Das Summen wurde stärker. Hallo.

„Wir sind für euch nur Dreck, Labortiere“, sagte ich bitter. „Ich wollte, es wäre wieder so wie vorher.“

Ihr könnt nichts dafür, daß ihr eine niedriger entwickelte Lebensform seid. Daran kann weder ich noch ihr etwas ändern.

„Na gut, aber können Sie mir eine Frage beantworten?“ Mir fiel plötzlich auf, daß alle weggegangen waren. Die Hare Krishnas hatten sich an den Händen gefaßt und waren weggetanzt.

Klar.

„Ist es die Sache für uns wirklich wert? Sieben Millionen Jahre sind eine sehr, sehr lange Zeit, praktisch eine Ewigkeit.“

Ha! Was wißt ihr schon.

„Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet.“

Alles zu seiner Zeit. Aber es ist fast acht Uhr. In ein paar Sekunden wirst du wieder nach gestern zurückversetzt. Ihr habt eigentlich recht viel Glück, weißt du. In manchen Teilen der Welt fallen die zwei Stunden auf eine lächerliche Zeit, und niemand steht dafür auf.

„Adieu.“

Adieu.

Ich wachte ungefähr um elf Uhr auf. Gail rührte sich unruhig. Wir liebten uns mechanisch, wie Maschinen, während lebende Lichtschleier, nur einige Mikrons dick, zwischen uns zuckten und zierliche, schnell vergängliche Muster in der Luft webten. Ich fühlte mich hohl, durchsichtig, leer.

 

Ich traf Amy Schlechter im Grand-Central-Bahnhof, als ich aus der Herbstnacht in einen beißend kalten Schneesturm an einem Wintermorgen hinaustrat.

Wir standen beide neben einem Doughnut-Stand. Ich sah sie an, wie sie hilflos und zerbrechlich dastand und in einen Becher kalten Kaffee starrte. Ich hatte sie schon vorher gesehen, aber an diesem Morgen waren nur wir beide da. Plötzlich sah sie zu mir auf. Ihre Augen waren braun und verloren.

„Hallo, Amy.“

„John.“

Eine Pause, erfüllt von lautem Summen, senkte sich zwischen uns.

Eine Zeitlang beobachtete ich, wie der Nebel ihres Atems sich um ihr Gesicht erhob und sich wieder auflöste. Ich wollte mit ihr sprechen, aber mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte.

„Willst du mit mir sprechen? Niemand redet mit mir. Sie ziehen sich immer zurück, als ob sie es wüßten.“

„Okay.“

„Ich stehe hier schon seit fünf Jahren und warte auf meinen Zug. Manchmal komme ich schon ungefähr eine Stunde vor acht Uhr, du weißt ja, nur um hier herumzustehen. Dort, wo ich wohne, gibt es nichts für mich.“ Ihre Stimme war wirklich leise, und man konnte sie über dem Summen kaum verstehen.

„Wohin fährst du?“

„Ach, nach Havertown, Pennsylvania. Du hast noch nie davon gehört.“ Das hatte ich tatsächlich nicht. „Das ist eine Art Vorort von Philadelphia“, fügte sie hilfreich hinzu. „Meine Verwandten wohnen dort.“

„Möchtest du einen Doughnut?“

„Du machst wohl Witze!“ Sie lachte hastig und unterbrach sich selbst. Dann senkte sie ihre Augen, als wolle sie ein hypothetisches Insekt in ihrem Styropor-Becher prüfen. Darauf drehte sie mir den Rücken zu, zog ihren schäbigen, alten Mantel um ihren dünnen Körper zusammen und drückte den Becher fest zusammen, um ihn in den Abfalleimer zu werfen.

„Warte, komm zurück! Uns bleiben noch anderthalb Stunden, bevor du gehen mußt …“

„Aha, du bist also auf eine schnelle Affäre aus, was? Spielt sich nichts ab, mein Freund.“

„Na, dann gebe ich dir eben wirklich einen Doughnut aus.“

„Also gut. Eine romantische Erinnerung“, meinte sie zynisch. „Bis zum Mittagessen bin ich sowieso tot.“

„Was?“

Sie kam näher. Wir lehnten uns beide an die schmierige Theke, so daß wir uns fast berührten. „Ich gehöre zu den Geistern, weißt du“, sagte sie.

„Das verstehe ich nicht.“

„Was machst du denn jeden Tag?“

„Meine Freundin läuft mir weg, und dann spiele ich einen schlechten drittklassigen Statisten für einen eingebildeten englischen Schauspieler in Hamlet.“

„Dann hast du Glück. In meinem Drehbuch stößt der Zug fünfundzwanzig Meilen vor Philadelphia mit einem Neunachser zusammen. Peng! Alle tot. Und dann finde ich mich jeden Morgen wieder am Bahnhof. Am Anfang war ich ganz schön durcheinander, denn mir haben die Fremden keine Erklärungen abgegeben, während ich in den Trümmern lag. Also wiederhole ich alles immer und immer wieder. Vielleicht macht es mir eines Tages sogar Spaß.“

Ich machte mir nicht klar, was das hieß. „Mit Schokoladenguß?“ fragte ich dumm.

„Ja.“

Eine weitere Pause folgte. Mir wurde klar, wie sehr ich eine andere Person brauchte, nicht Gail, wie sehr ich jemanden brauchte, der real war …

„Wir sollten uns vielleicht besser kennenlernen“, schlug ich vor. „Wenn das einmal alles vorbei ist, könnten wir vielleicht …“

„Nein, John. Das geht nicht. Ich bin ein Geist. Ich bin nicht unsterblich, verstehst du nicht! In dem ganzen Geschäft werde ich vollständig ignoriert! Ich bin schon tot, tot, für immer tot! Wenn man im Verlauf des Tages stirbt, wird man an dem Geschäft nicht beteiligt. Man muß bis Mitternacht überleben, verstehst du das nicht?“

„… o Gott.“ Ich verstand.

„Sie haben mich nur in der Show behalten, weil sie alles so genau wie möglich hinbekommen wollten. Ich bin ein Echo. Ich bin nichts.“

Ich sagte kein Wort. Ich packte sie nur und küßte sie, direkt dort bei dem Doughnut-Stand. Sie war ganz kalt, wie Marmor, wie Stein.

„Dann komm mit“, sagte sie. Um die Ecke fanden wir ein Stundenhotel. Ich bezahlte die acht Dollar, und für eine schrecklich kurze Zeit klammerten wir uns gierig, verzweifelt aneinander.

Ich wachte ungefähr um elf Uhr auf. Gail rührte sich unruhig. Während ich die Bewegungen zum tausendstenmal vollzog, dachte ich die ganze Zeit: Das ist nicht fair, das ist nicht fair. Gail war am Leben, sie würde ewig am Leben bleiben, und sie ist wie eine Maschine, sie könnte ebensogut tot sein. Amy aber, sie war tot, aber so sehr lebendig. Dann wurde mir eine schreckliche Tatsache klar: Unsterblichkeit ist tödlich! Ich war sehr bitter, sehr zornig, und das Summen wurde lauter, wie eine Warnung, und ich wußte, daß ich versuchen würde, etwas Entsetzliches zu tun. („Alles können sie schließlich nicht kontrollieren.“ Hatte das der Krishna-Jünger gesagt?)

Ich mühte mich ab und versuchte, aus der Rille herauszukommen, versuchte, ein kleines Detail einer kleinen Bewegung zu ändern, aber immer wieder kehrte ich zu der unveränderlichen Vergangenheit zurück …

Wir standen auf und frühstückten. Sie sah auf ihre bedrohliche Art unordentlich aus, und schwarze Haarsträhnen bildeten vor ihren verblüffend blauen Augen ein Netz.

„John?“

„Hm?“

„John, ich verlasse dich.“

„Warum, mit wem?“

„Francis FitzHenry hat mich darum gebeten, zu ihm zu kommen – in seine Suite im Plaza!“

Ich hob meine Hand, und dann nahm ich alle Kraft zusammen, die ich aus jeder verborgenen Quelle aufraffen konnte.

Ich schlug ihr nicht ins Gesicht.

Für den Bruchteil einer Sekunde überzog ein Ausdruck völliger Verwirrung ihr Gesicht, und ich sah sie an, und sie sah mich mit unlesbaren Gefühlen an. Und dann schwang alles wieder grotesk in die alte Spur, und sie sagte ruhig, gefährlich: „Du bist zu kleinkariert, John. Das ist der Grund, warum du für den Rest deines Lebens Guildenstern bleiben wirst.“ Als hätte sich nichts verändert. Das tat weh.

Dann verschwand sie aus meinem Leben.

Aber ich hatte etwas verändert! Und wir hatten kommuniziert – den Bruchteil einer Sekunde lang hatte sich zwischen uns etwas abgespielt!

Aus dem Summen wurde ein Brüllen. In hundert durchsichtige Lichtschleier gebadet ging ich langsam ins Theater.

 

Ungefähr zwei Minuten vor acht klingelte das Telefon in meiner Wohnung. Ich entschloß mich hinzurennen und eilte daher nackt in meine kleine Küche.

„Ja?“

„Hier ist Michael, John.“ Michael spielte den Horatio. Er schluchzte und wirkte sehr verstört. Ich kannte ihn nicht sehr gut und blieb daher kühl. „John, ich werde etwas Entsetzliches tun! Ich halte es nicht aus, und du bist die erste Person, die ich heute morgen erreichen kann. Ich werde versuchen …“

Ich wachte ungefähr um elf Uhr auf. Gail rührte sich unruhig. Wir frühstückten, und ich schlug ihr nicht ins Gesicht.

Das schien zu selbstverständlich. Mir wurde klar, daß ich das Muster geändert hatte. So würde es von jetzt an immer bleiben.

Ich hatte sie nie ins Gesicht geschlagen.