KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

»Nun, Inspector, ich bin auf Ihre Bitte hergekommen …« Jonathan Tapley nahm vor meinem Schreibtisch Platz und verschränkte die Hände über dem elfenbeinernen Schädelknauf seines Gehstocks und sah mich an. »Ich nehme an, Sie haben mir etwas zu sagen? Da Sie die Missetäter sicher in Gewahrsam haben, kann ich mir nicht vorstellen, was das sein soll, das mein Herkommen mit solcher Dringlichkeit erforderlich macht.«

Morris postierte sich diskret hinter unserem Besucher, und der junge Constable Biddle schlüpfte noch diskreter in das Zimmer und setzte sich mit Block und Bleistift in der Hand in eine Ecke. Ich war sicher, dass Jonathan Tapley ihn nicht bemerkt hatte – er hätte sonst ganz sicher einen diesbezüglichen Einwand erhoben.

»Ich habe Ihnen in der Tat etwas Interessantes mitzuteilen, Sir«, begann ich höflich. »Wir haben neue Informationen erhalten.«

»Wie? Woher? Von der französischen Polizei?«

»Nein, Mr. Tapley. Eine Zeugin hat sich zu Wort gemeldet.«

Er versteifte sich unmerklich. »Eine Zeugin? Eine Zeugin für was?«

»Die Zeugin hat sich gemeldet – zugegebenermaßen ein wenig verspätet –, um auszusagen, das sie Sie am Nachmittag der Ermordung Ihres Cousins kurz nach drei Uhr gesehen hat. Sie sind in der Straße vor dem Haus auf und ab gegangen, in dem der Mord stattgefunden hat. Sie wurden beobachtet, wie Sie zum Fenster Ihres Cousins nach oben gesehen haben, als suchten Sie etwas.«

»Ich habe Ihnen lückenlos belegt, wo ich mich am Todestag meines Cousins aufgehalten habe«, sagte er kalt. »Ich habe Ihnen eine Liste mit den Namen von Zeugen überlassen.«

»Sie haben uns eine Liste mit Namen von Zeugen überlassen für den Zeitraum ab half fünf.«

Er blickte verärgert drein. »Da sehen Sie! Das reicht doch wohl aus! Der Pathologe hat festgestellt, dass mein Cousin am fraglichen Nachmittag nach siebzehn Uhr verstarb.« Er klopfte ungeduldig mit der Stockspitze auf den Boden. »Hören Sie, was soll das alles?«

»Der Pathologe hat den Todeszeitpunkt noch einmal überdacht. Er ist der Ansicht, dass der Tod bereits um vier oder sogar noch früher eingetreten ist, möglicherweise um halb vier.« Ich wartete, um zu sehen, wie er diesen Schlag verdauen würde.

Jeder andere Mann mit schlechtem Gewissen hätte Schock oder Panik gezeigt. Tapley hingegen war an die Finten und das Taktieren vor Gericht gewöhnt. Es war sein tägliches Brot – bis hin zu überraschenden Zeugen, die unerwartete Aussagen machten.

»Tatsächlich?«, fragte er trocken. »Und was hat diesen Pathologen veranlasst, seine ärztliche Meinung zu ändern, die er ursprünglich mit meinem toten Cousin zu seinen Füßen gefasst hat?«

»Ich erinnere mich nicht, Ihnen erzählt zu haben, dass der Leichnam auf dem Boden lag«, entgegnete ich. »Wie ich bereits sagte, ich bin überzeugt, dass der Mörder von hinten kam und Ihren Cousin erschlug, als dieser lesend in seinem Sessel saß.«

»Pah!«, sagte Tapley wegwerfend. »Sessel, Boden … Wenn er in einem Sessel saß, als er erschlagen wurde, dann ist er doch wohl zu Boden gerutscht, oder? Meinen Sie nicht?«

»Oh, allerdings, das ist er«, räumte ich widerwillig ein.

»Es scheint offensichtlich, wenn Sie mich fragen. Ich wiederhole, was hat diesen Pathologen dazu gebracht, seine Meinung zu ändern? Es erscheint mir höchst ungewöhnlich, dass er den Todeszeitpunkt von fünf Uhr nachmittags um volle anderthalb Stunden nach vorne verlegt.«

»Der Pathologe hat bei seiner ersten Einschätzung die sehr niedrige Temperatur im Zimmer des Toten nicht berücksichtigt«, sagte ich vorsichtig. »Kälte kann das Eintreten der Totenstarre verzögern. Und es war das Fehlen von Totenstarre bei dem Toten, das ihn zunächst veranlasste, den Todeszeitpunkt auf fünf Uhr zu veranschlagen.«

Jetzt wusste er, worauf ich hinauswollte, und er war bereit.

»Ich bin kein Strafverteidiger«, sagte Tapley mit einem Anflug von Verachtung. »Aber ich habe häufiger Kollegen über ähnliche Fälle diskutieren gehört. Aus ihren Unterhaltungen weiß ich, dass ein Leichnam, der an einem kalten Ort liegt, bemerkenswert beweglich bleiben kann, wie Sie sagen. Kann, muss aber nicht. Es gibt keine absolute Gesetzmäßigkeit. Wenn Ihr Pathologe in den Zeugenstand müsste, würde er das einräumen. Es ist unklug von ihm, allein basierend auf der im Zimmer herrschenden Temperatur den Todeszeitpunkt zu revidieren.«

Ein Rascheln in der Ecke, als Biddle die Seite seines Notizblocks umblätterte, veranlasste Tapley zu einem Blick über die Schulter.    

»Warum schreibt Ihr junger Kollege alles mit?«, erkundigte er sich in scharfem Ton.

»Das ist so üblich, Mr. Tapley.«

Er ließ sich zu einem schwachen Lächeln hinreißen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »So, so, so«, sagte er. »Ich könnte beinahe den Eindruck gewinnen, Sie wollen mich des Mordes an meinem Cousin beschuldigen, Inspector.«

»Da könnten Sie Recht haben, Sir.«

»Es wäre töricht von Ihnen. Selbst wenn mein Cousin vor fünf Uhr gestorben sein sollte – was nicht feststeht, trotz der Unentschlossenheit Ihres Pathologen –, ich war …«

»Im Gericht hat man Sie nach zehn vor drei nicht mehr gesehen«, unterbrach ich ihn. »Ein Zeuge war erkrankt, und die Verhandlung, in der Sie als Anwalt auftraten, wurde vertagt. Das war um halb drei. Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten mit einem Kollegen, dann verließen Sie das Gebäude.«

»Sie haben gründlich gearbeitet, Inspector«, sagte Tapley nach kurzer Pause. »Und Sie haben einen Zeugen, der mich beim Verlassen des Gerichtsgebäudes gesehen hat?«

Den hatte ich nicht. Er hatte mit traumwandlerischer Sicherheit eine Schwachstelle gefunden. Es würde nicht einfach werden, so viel war jetzt schon klar. »Nein, Sir. Aber niemand im Gebäude hat Sie nach diesem Zeitpunkt kurz vor drei noch gesehen oder mit Ihnen gesprochen.«

»Mit anderen Worten, Sie haben keinen Zeugen. Ts, ts, Inspector, schon wieder eine Vermutung. Eine Hypothese, die Sie nicht beweisen können. Ich nehme an, als Nächstes werden Sie behaupten, dass ich in eine Kutsche gestiegen und sogleich zu dem Haus gefahren bin, in dem mein Cousin gelebt hat.«

»Jawohl, Sir, ich denke, genau das ist passiert. Ich nehme an, Sie haben dem Kutscher Waterloo Station als Fahrtziel genannt, weil Ihnen das gestattete, ihn um größtmögliche Eile zu bitten, ohne dass es verdächtig erschien. Sie erzählten ihm, Sie müssten einen Zug bekommen. Hätten Sie die Straße als Ziel genannt, in der Ihr Cousin gelebt hat, hätte er sich später möglicherweise an Sie oder die Adresse erinnert – falls wir ihn gefunden hätten. Wir suchen übrigens nach ihm. Aber Sie hatten sich ausgerechnet, dass kein Kutscher einen Fahrgast von vielen in Erinnerung behält, die alle mehr oder weniger schnell zum Bahnhof wollen. Das Fahrtziel ist zu gewöhnlich.

Sie können die Tat nicht geplant haben, weil Sie nicht wissen konnten, dass das Gericht sich vertagen würde. Doch sie hatten vor, Ihren Cousin zur Rede zu stellen, und zwar schon bald. Sie hatten erfahren, dass er nach London zurückgekehrt war. Ich denke, Sie hatten auch erfahren, dass Ihre Nichte, Miss Flora, sich mit ihrem Vater getroffen hatte. Ich nehme an, Ihr Kutscher hat Ihnen von der Eskapade der jungen Lady erzählt, die er verkleidet als Junge und begleitet von einer Freundin an einen Ort ganz in der Nähe des Hauses gefahren hatte. Der Kutscher hat es Ihrer Frau gestanden. Ihre Frau befürchtete, Sie könnten es ebenfalls erfahren, und befahl dem Kutscher, Stillschweigen zu bewahren. Doch Sie sind sein Arbeitgeber. Er ist von Ihnen abhängig. Ich denke, er hat es Ihnen gesagt. Sie stellten Ihre Frau zur Rede, und sie gab es zu.

Im Gegensatz zu Ihrer Frau gingen Sie nicht davon aus, dass Flora ein romantisches Stelldichein mit irgendeinem ungeeigneten jungen Mann hatte. Sie dachten sich gleich – und sie dachten richtig –, dass es ihr Vater war, den sie besucht hatte. Sie waren wütend und alarmiert. Thomas hatte sein Wort gebrochen, das er Ihnen gegeben hatte, und war nach England gekommen. So viel wussten Sie bereits vorher, weil Fred Thorpe es Ihnen gesagt hatte. Sie hatten gehofft, Ihr Cousin wäre nur kurz in England gewesen und wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Und jetzt hatten Sie herausgefunden, dass er in London lebte und dass er, schlimmer noch, von Ihrem Standpunkt aus betrachtet, mit seiner Tochter Kontakt aufgenommen hatte. Das hatte zu einer möglicherweise skandalösen Eskapade geführt, in deren Verlauf Flora sich als Junge verkleidet in die Öffentlichkeit begeben hatte. Sie und Ihre Frau hatten die größten Hoffnungen, das Flora ihren jungen Verehrer aus den besten Kreisen heiraten würde, doch jetzt drohte gefährliches Gerede. Ich glaube, die adlige Familie, in welche Sie Flora verheiraten wollten, hätte die Nachricht von einer zukünftigen Schwiegertochter, die in Männersachen durch London fährt, alles andere als positiv aufgenommen. Und die Möglichkeit, dass Thomas wie Banquo’s Geist bei den Hochzeitsfeierlichkeiten auftauchte … nein. Sie mussten etwas unternehmen.

Sobald Sie erfuhren, was Flora getan hatte, ließen Sie sich von Ihrem Kutscher zu der Stelle fahren, wo er Flora abgesetzt hatte. Es dauerte nicht lange, bis Sie durch Herumfragen herausgefunden hatten, wo Ihr Cousin wohnte. Sie unternahmen noch nichts – je weniger Ihr Kutscher Joliffe sah oder hörte, desto besser. Sie ließen sich von ihm wieder nach Hause zum Bryanston Square fahren. Während Sie immer noch überlegten, was zu tun war, vertagte sich ein paar Tage später unerwartet das Gericht am frühen Nachmittag, und sie ergriffen die Gelegenheit. Sie begaben sich zu dem Haus, in dem ihr Cousin wohnte, um ihn zur Rede zu stellen. Vielleicht wollten Sie lediglich erreichen, dass er eine formelle schriftliche Zustimmung zur Hochzeit gab und anschließend unverzüglich nach Frankreich zurückkehrte, um danach nie wieder mit seiner Tochter in Verbindung zu treten. Sie konnten und durften nicht dulden, dass Thomas alles ruinierte.«

Ich legte ihm dar, wie die Situation meiner Meinung nach letzten Endes zum Mord geführt hatte, und verstummte.

»Selbst wenn ich all das getan hätte, Inspector, und ich gestehe nichts dergleichen, ist es ein weiter Schritt von ›jemanden zur Rede stellen‹ bis zu ›ihn kaltblütig ermorden‹«, erinnerte mich Tapley. Er hatte aufmerksam gelauscht, während ich meinen Fall dargelegt hatte, genau so, wie er einem Gegner vor Gericht zugehört hätte.

Ich war noch nicht fertig, doch ich musste langsam und vorsichtig sein, weil es jetzt nicht mehr um das ging, was Jonathan gefühlt haben musste, sondern um das, was er getan hatte.

»Sie schlichen sich heimlich in das Haus. Sie läuteten nicht an der Haustür, weil Sie nicht wollten, dass man Sie sieht und sich später an Sie erinnert. Es durfte keinerlei Verbindung zum Bryanston Square entstehen! Sie schlüpften in Abwesenheit der einzigen Dienstmagd durch die Küchentür, schlichen die Hintertreppe hinauf, fanden das Zimmer, öffneten leise die Tür … dort saß Ihr Cousin friedlich in seinem Sessel und las. Der Anblick erfüllte sie mit Zorn. Dort saß der Mann, der sein Wort gebrochen hatte und so viele Scherereien verursachte, als könnte er kein Wässerchen trüben. Sie waren außer sich vor Wut. Sie hoben Ihren Gehstock – diesen Stock dort! – und schlugen ihm mit dem Knauf über den Kopf. Er kippte aus dem Sessel und auf den Boden. Sie schlugen ein zweites Mal zu, um sicher zu sein, dass er tot war. Sie konnten nicht riskieren, dass er überlebte oder lange genug bei Bewusstsein blieb, um seinen Angreifer zu identifizieren.«

Tapley lehnte den Gehstock gegen das Knie und legte die Fingerspitzen zusammen. »Sie sind ein Genie, Inspector. Das muss man Ihnen lassen, Sie sind ein richtiges Genie. Aber Sie machen mich neugierig. Wie konnte ich wissen – wohlgemerkt, ich frage, ohne etwas zuzugeben! –, in welchem Zimmer sich mein Cousin aufhielt?«

»Sie hatten ein wenig Glück. Als sie vor dem Haus standen und nach oben sahen – die Zeugin hat Sie dabei beobachtet –, müssen Sie ihn durch ein Fenster im ersten Stock gesehen haben.«

»Tatsächlich? Ich muss Sie erneut bitten, Inspector, Ihre Zeugin zu benennen. Woher sollte ich sonst wissen, ob eine solche Person überhaupt existiert?«

»Die Besitzerin des Hauses hat Sie gesehen, durch das Fenster ihres Salons.«

»Die Besitzerin des Hauses?« Er sah mich perplex an. »Sie meinen die ältliche Quäker-Lady, die bei der Beerdigung war?«

»Genau die, Sir.«

Ärger schlich sich in seine Stimme. »Aber sie kannte mich doch gar nicht! Ich war nur ein Fremder auf der Straße. Woher um alles in der Welt will sie wissen, dass ich das war?«

»Sie hat Sie während der kurzen Zugfahrt wiedererkannt, am Tag der Beerdigung, als wir von der Kirche zum Friedhof fuhren, Sir. Sie hatte Gelegenheit, Sie genau zu studieren, und sie ist sich völlig sicher.«

»Das war eine ganze Weile, nachdem mein Cousin gestorben war!«, wandte er ein. »Sie konnte unmöglich sicher sein, dass ich die gleiche Person bin, die sie – wie sie selbst zugibt – nur flüchtig und durch ein Fenster hindurch viele Tage zuvor gesehen hatte. Gütiger Himmel, Inspector, Sie sind doch wirklich lange genug Ermittlungsbeamter, um zu wissen, dass sogar Zeugen ein und desselben Zwischenfalls völlig verschiedene Schilderungen abliefern! Der eine beschreibt eine Person als groß, der nächste beschreibt die gleiche Person als klein. Einer schwört, einen Gehstock gesehen zu haben …«, er deutete auf seinen Stock, »… ein anderer ist überzeugt, es hätte sich um einen Schirm gehandelt! Sie können unmöglich alle Recht haben und sich nicht irren! Wie können Sie auf der anderen Seite, mit einer einzigen Zeugin, wie können Sie sich so sicher sein, Inspector, dass sie sich nicht irrt? Die Lady ist in fortgeschrittenem Alter, wenn ich mich recht entsinne. Sie ist eine religiöse Person, die zweifellos viel Zeit damit verbringt, in der Bibel zu lesen. Ich bezweifle, dass ihr Augenlicht noch erstklassig ist. Wahrscheinlich benötigt sie eine Brille zum Lesen!«

»Nein, Sir, tut sie nicht. Ich habe sie gefragt.« Ich lächelte ihn an.

Natürlich hatte er Recht. Mrs. Jamesons zweifelsfreie Versicherung, sie hätte Jonathan Tapley vor ihrem Haus gesehen, konnte von jedem geschickten Strafverteidiger mit Leichtigkeit entkräftet werden. Doch ich wusste, dass sie Recht hatte. Jonathan war dort gewesen, und jetzt wusste er, dass er gesehen worden war. Die Frustration traf mich wie ein physischer Schlag in den Magen. Ich brauchte mehr, um ihn zu überführen. Aber was?

Tapley ergriff seinen Gehstock und erhob sich majestätisch von seinem Stuhl. »Inspector Ross, ich habe mit größtmöglicher Geduld hier gesessen und mir diese wirre Geschichte angehört. Ihre beiden Hauptzeugen, der Pathologe und die Hausbesitzerin, würden in einem Kreuzverhör keine fünf Minuten überstehen. Genauso wenig wie die Aussage eines Kutschers – sollten Sie einen finden! –, der behauptet, mich an jenem Tag zur fraglichen Zeit zum fraglichen Ort befördert zu haben, vor Gericht Bestand haben würde. Wie Sie selbst bereits festgestellt haben, ich wäre ein Fahrgast unter vielen gewesen. Und selbst wenn wir annehmen – ich betone, rein hypothetisch! –, ich würde einräumen, an jenem Tag das Gerichtsgebäude früher verlassen zu haben. Angenommen, ich würde einräumen, mich zu dem fraglichen Haus begeben zu haben, unschlüssig, ob ich hineingehen und meinen Cousin zur Rede stellen soll oder nicht. Und nehmen wir an, ich würde behaupten, meine Meinung geändert zu haben und wieder gegangen zu sein, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Was dann, Ross? Sie können nicht beweisen, dass ich in diesem Haus war, in diesem Zimmer, bei meinem Cousin. Wenn Sie sonst nichts zu sagen haben, Inspector, dann werde ich jetzt gehen, es sei denn, Sie wollen mich verhaften, oder vielleicht haben Sie ganz den Verstand verloren und wollen Anklage erheben? Falls nicht, gehe ich jetzt.«

Er stand vor mir, die gleiche schicke Gestalt, die vor nicht allzu langer Zeit in mein Büro gekommen war und gesagt hatte, dass sie glaubte, das Opfer identifizieren zu können. Ich erinnerte mich, wie er in der Leichenhalle gestanden und ohne jede Spur von Emotionen auf seinen toten Cousin hinuntergestarrt hatte. Hier stand er nun, der gleiche elegante Mann in seinem teuren Mantel mit dem charakteristischen Gehstock und blickte auf mich hinunter mit einem Ausdruck von Triumph, den ich nur schwer ertragen konnte. Er war ein Mörder! Ich durfte ihn nicht gewinnen lassen! Ich würde ihn nicht gewinnen lassen. Wir waren wie zwei Duellanten, die einander im Dunst der Morgendämmerung gegenüberstanden, die Pistolen gezogen und jeder nur mit einem einzigen Schuss. Doch er hatte seinen Schuss bereits abgefeuert. Jetzt war ich an der Reihe. Jetzt kam es darauf an, ob seine Nerven durchhielten – oder meine Entschlossenheit.

»Ihr Auftritt ist beeindruckend, Mr. Tapley«, sagte ich. »Aber das gehört vermutlich zu Ihrem Handwerk, habe ich Recht? Sie haben mich schon bei unserer ersten Begegnung beeindruckt. Es wäre durchaus möglich, dass ein Droschkenkutscher sich an einen so distinguierten Gentleman erinnert. Genau dieses Auftreten war es auch, das Mrs. Jamesons Aufmerksamkeit fesselte, als sie durch ihr Fenster nach draußen sah – Ihr distinguiertes Auftreten, Mr. Tapley. Deswegen war Mrs. Jameson so sicher, Sie wiederzuerkennen, als sie Sie im Zug sah. Insbesondere erwähnte sie Ihren perfekt sitzenden Gehrock und …«

In diesem Moment sah ich es. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, doch ich sah das Erschrecken in seinen Augen. Ich bemerkte das unfreiwillige Zucken seiner Schulter, als wollte er den Arm bewegen, doch er unterdrückte die Bewegung. Der Mantel!, dachte ich. Dieser perfekt geschnittene Gehrock … es muss irgendetwas mit seinem Gehrock zu tun haben …

Ich durfte nicht riskieren, ihn gehen zu lassen. Wenn er etwas übersehen hatte, das ihn belasten konnte, dann würde er es korrigieren, sobald er Scotland Yard verlassen hatte. Es konnte kein Blutfleck sein – den hätte er sofort gesehen und zweifelsohne längst beseitigt. Was konnte sonst noch an diesem Mantel sein? Taschen, dachte ich. Er hat Taschen. Wäre es möglich …?

Er hatte mir bereits zu verstehen gegeben, dass er mich für einen Narren und Dummkopf hielt, weil ich versuchte, ihm eine Straftat nachzuweisen. Da spielte es keine Rolle mehr, ob ich mich auch noch als Trottel entblödete.

»Mr. Tapley«, sagte ich. »Wären Sie so freundlich, Ihre Manteltaschen auszuleeren und den Inhalt auf meinen Schreibtisch zu legen?«

»Was?«, brüllte er, und mit einem Mal war seine Beherrschung dahin. »Sie wagen es, mich wie einen straffälligen Schuljungen zu behandeln? Wie einen gewöhnlichen Taschendieb?«

»Wenn Sie die Güte hätten, Sir, meiner Bitte nachzukommen?«, beharrte ich in freundlichem Ton. Seine verlorene Contenance bestätigte meinen Verdacht, dass ich auf der richtigen Spur war.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das tue! Das wird Ihnen noch leidtun, Ross! Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren! Ich bin ein angesehener Mann von beträchtlichem Einfluss! Ich praktiziere als Anwalt und habe zahlreiche bedeutende Klienten, deren Angelegenheiten ich vor Gericht vertrete. Wenn sie davon erfahren, von dieser unsinnigen Anschuldigung, die Sie gegen mich erheben, werden sie Scotland Yard der Lächerlichkeit preisgeben, und Ihre Vorgesetzten werden alles andere als erbaut sein!«

»Ich habe die Angelegenheit bereits mit meinem direkten Vorgesetzten besprochen, Superintendent Dunn, bevor ich Sie bitten ließ, in den Yard zu kommen, Sir. Mr. Dunn ist in diesem Augenblick wegen genau dieser Angelegenheit in einer Besprechung mit dem stellvertretenden Commissioner. Es ist nicht ungewöhnlich, Mr. Tapley, dass gegen Ende einer Ermittlung, kurz vor der entscheidenden Enthüllung, eine einflussreiche Persönlichkeit versucht, den ermittelnden Beamten mit der Drohung einer Beschwerde bei seinen Vorgesetzten einzuschüchtern.«

Tapley setzte eine finstere Miene auf. Seine Strategie war nicht aufgegangen, und er wusste es. Langsam und mit deutlich zur Schau gestelltem Missmut stellte er seinen Gehstock ab, schob die Hand in die rechte Manteltasche und zog ein Taschentuch sowie ein paar lose Münzen hervor. Er legte alles auf meinen Schreibtisch. Aus der linken Manteltasche zog er einen Bleistiftstummel, den er mit gelinder Überraschung betrachtete, bevor er ihn ebenfalls auf meinen Schreibtisch legte.

»Wollen Sie auch meine Brieftasche? Sie ist in der Innentasche.« Er knöpfte den Mantel auf und zog eine feine schweinslederne Hülle hervor, die er zu den anderen Dingen legte.

Nichts von alledem war, wonach ich suchte. »Die Vorgehensweise, Mr. Tapley, besteht darin, die Taschen umzustülpen, um ganz sicher zu sein, dass nichts übersehen wurde. Wenn ich Sie also bitten dürfte?«

»Warum zum Teufel sollte ich das tun?«, explodierte er erneut, und diesmal lief er rot an im Gesicht. »Ich protestiere auf das Entschiedenste! Ihr Verhalten ist die reinste Impertinenz und weiter nichts, Ross! Ich weigere mich!«

»Warum denn das? Wenn Sie nichts übersehen haben, Sir, dann gibt es doch nichts, weswegen Sie sich sorgen müssten? Kommen Sie, Mr. Tapley, bringen wir es hinter uns.«

Tapley stand sekundenlang stocksteif vor Wut da, und ich fing bereits an zu denken, er würde bei seiner Weigerung bleiben. Ich war jetzt sicher, dass er etwas in einer seiner Taschen hatte, das er uns nicht zeigen wollte – wären sie tatsächlich leer gewesen, hätte er die Gelegenheit nicht versäumt, mich wie einen Narren dastehen zu lassen.

Doch was sollte ich tun, falls er sich fortgesetzt weigerte? Ich wollte Morris nicht beauftragen, die Taschen des Mannes zu untersuchen. Das würde, falls er etwas fand, in der Folge zu der Anschuldigung führen, der Sergeant hätte es hineingeschmuggelt. Ich hielt Tapleys wütendem Blick stand und wartete. Er muss es selbst tun, sagte ich mir. Er muss … nicht, weil ich es ihm als Polizeibeamter sage, sondern weil er schuldig ist und weil wir beide es wissen. Er muss, weil er sich mit den Beweisen auseinandersetzen muss, die gegen ihn vorliegen, genauso, wie er sich bisher mit meinen Anschuldigungen auseinandergesetzt hat. Jetzt muss er es durchstehen, komme, was da wolle, bis zum bitteren Ende … bis zum Schafott.

Zu guter Letzt, nach einer endlos scheinenden Zeitspanne, drehte Tapley die rechte Tasche seines Gehrocks nach außen. Nichts kam zum Vorschein. Selbst Biddle in seiner Ecke hielt nun den Atem an, die Hand mit dem Stift reglos in der Luft. Morris schwitzte. Ich versuchte nicht über das nachzudenken, was mein Gesichtsausdruck zeigte. Tapleys Hand bewegte sich zur linken Tasche …

Ein kleiner Gegenstand fiel klappernd zu Boden.

»Es ist etwas herausgefallen, Sir«, sagte Morris heiser.

Er blickte zu Boden. Tapley ebenfalls. Ich kam um meinen Schreibtisch herum zu ihnen, und Biddle erhob sich von seinem Stuhl und schob sich verstohlen näher heran, um zu sehen, was das war.

Wir alle starrten nach unten auf das metallene Objekt. Es war ein Schlüssel. Hatte Tapley in seiner Verzweiflung versucht, ihn in der Handfläche zu verstecken, ihn in den Ärmel zu schieben, und war mangels Geschicklichkeit gescheitert? Ich glaubte für einen kurzen Augenblick so etwas wie Enttäuschung in seinem Gesicht zu erkennen. Doch der Augenblick war schnell wieder vorbei. Er rührte sich nicht.

»Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, den Schlüssel aufzuheben und auf den Schreibtisch zu legen?«, forderte ich ihn auf.

Morris hatte bemerkt, dass Biddle zu uns gekommen war, und winkte ihn unwirsch in die Ecke zurück.

Ich glaubte, Tapley würde erneut lauthals protestieren, doch er bückte sich widerspruchslos, hob den Schlüssel auf und warf ihn mit verächtlicher Geste auf den Schreibtisch. Er landete klappernd, rutschte ein Stück und blieb mitten auf der Platte liegen.

»Nun denn, Mr. Tapley«, sagte ich. »Was ist das für ein Schlüssel?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er gepresst. »Ich muss ihn versehentlich irgendwo eingesteckt haben.«

»Nein, Mr. Tapley. Sie haben ihn vom Nachttisch im Schlafzimmer Ihres Cousins Tom mitgenommen. Es handelt sich, wie wir meiner Meinung nach feststellen werden, um den Schlüssel für Mrs. Jamesons Haustür. Wir wissen, dass Ihr Cousin einen Schlüssel hatte, doch wir konnten ihn bisher trotz gründlicher Suche nicht finden. Nachdem Sie Ihren Cousin getötet hatten, mussten Sie sich überzeugen, dass es in den Zimmern nichts gab, von dem Sie nicht wollten, dass andere es zu Gesicht bekommen. Vielleicht hatte Tom angefangen, einen Brief an seine Tochter zu schreiben? Vielleicht – schlimmer noch – hatte seine Tochter ihm geschrieben, an seine Londoner Adresse, nachdem sie erfahren hatte, wo er wohnte. Es war wichtig in Ihren Augen, dass jede Verbindung zwischen Vater und Tochter vernichtet wurde. Flora musste so erscheinen, als hätte sie nichts davon gewusst, dass ihr Vater in London wohnte, falls ihr Ruf keinen Schaden nehmen sollte. Sie konnten nicht lange bleiben wegen der Leiche auf dem Boden. Jeden Augenblick konnte jemand kommen. Sie mussten zurück in Ihre Kanzlei wegen einer Konferenz, die später am Nachmittag anberaumt war. Sie durften auf keinen Fall zu spät kommen – das hätte eine Erklärung erfordert und die Situation komplizierter gemacht. Sie sahen sich hastig im Wohnzimmer um, gingen ins Schlafzimmer und durchsuchten es oberflächlich. Sie fanden nichts, doch Sie waren noch nicht zufrieden. Sie brauchten mehr Zeit. Auf einem Tablett auf dem Nachttisch lag ein Schlüssel, der aussah, als könnte er zur Haustür passen. Perfekt! Sie nahmen ihn und steckten ihn in Ihre Tasche in der Absicht, sich damit bei Ihrer Rückkehr Einlass zu verschaffen. Anschließend verließen Sie das Haus auf dem gleichen Weg, auf dem Sie es betreten hatten.

Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, wie Ihnen schnell klar wurde, als Sie bereits in der Abendzeitung von dem Mord an Ihrem Cousin lasen. Sie mussten ihren Plan aufgeben, in das Haus zurückzukehren … wenigstens für eine Weile. Doch der Schlüssel blieb in Ihrer Tasche. Vielleicht, weil Sie glaubten, es wäre der sicherste Platz dafür. Niemand würde ihn dort finden.«

»Wenn Sie glauben …«, sagte Tapley in gemessenem Ton und blickte mich herausfordernd an, »… wenn Sie allen Ernstes glauben, dass das der Schlüssel zu Mrs. Jamesons Haus ist, dann schlage ich vor, Sie nehmen ihn und schließen damit die Tür auf.«

Ich war darauf gefasst gewesen, und zum zweiten Mal erlaubte ich mir ein dünnes Lächeln. »Sie schlagen vor, dass ich es versuchen soll, weil Sie wissen, dass er nicht mehr passt. Das Schloss wurde ausgetauscht, gleich am nächsten Morgen, auf meine Empfehlung hin. Andererseits haben Sie soeben offenbart, dass Ihnen das durchaus bekannt ist, Sir. Also sind Sie tatsächlich noch einmal zum Haus der Witwe Jameson zurückgekehrt, habe ich Recht? Und Sie konnten nicht hinein. Sie wollten nicht riskieren, noch einmal durch den Hintereingang zu gehen – oder vielleicht haben Sie es an der Küchentür probiert und festgestellt, dass das Dienstmädchen sie abgesperrt hatte. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass sich im Haus ein Mord ereignet hatte, als die Tür das letzte Mal unverschlossen geblieben war. Alle waren übervorsichtig.«

»Wenn das Schloss der Haustür ausgewechselt wurde«, sagte Tapley, »wie wollen Sie dann beweisen, dass dieser Schlüssel zum alten Schloss gepasst hat?«

»Ach, wissen Sie, Mr. Tapley«, entgegnete ich. »Ich habe im Verlauf meiner Ermittlungen eine Reihe von sehr interessanten Leuten kennengelernt. Einer von ihnen war ein Tierpräparator.«

Tapley sah mich erstaunt an. »Was zum Teufel hat ein Tierpräparator mit alledem zu tun?«

»Genau genommen nichts. Bis auf die Tatsache, dass er einen riesigen Schlüsselbund mit sich herumtrug mit viel mehr Schlüsseln daran, als er eigentlich benötigte. Ich fragte ihn danach, und er antwortete, dass er niemals einen Schlüssel wegwarf, weil man nie wissen konnte, ob er nicht noch einmal nützlich werden würde. Es gibt viele Menschen, Mr. Tapley, die wie der Präparator sind und alte Schlüssel horten. Sie haben eine Schachtel oder eine Schublade in der Küche oder in einem Schreibtisch, in der sie sie aufbewahren, oder einen großen Ring wie der Taxidermist. Wenn der Schlüssel zu irgendetwas verloren geht, öffnet der eine oder andere alte Schlüssel gelegentlich ein widerspenstiges Schloss. Ich selbst habe ein paar Schlüssel zu Hause herumliegen, die ich nicht mehr benötige. Vielleicht war es das, was mich inspirierte, das alte Schloss von Mrs. Jamesons Haustür sicherzustellen, nachdem der Schlosser es ausgewechselt hatte, zusammen mit Mrs. Jamesons eigenem Schlüssel. Vielleicht war es jene Unwilligkeit, sich von einem Schlüssel zu trennen, der vielleicht noch einmal nützlich werden konnte. Ganz besonders in diesem Fall, weil ein Haustürschlüssel verschwunden war – der Schlüssel, von dem wir wussten, dass Thomas Tapley ihn in seinem Besitz gehabt hatte. Wir hatten gehofft, dass wir ihn irgendwann finden würden. Und falls er auftauchte, war es wichtig, dass wir über jeden Zweifel hinweg nachweisen konnten, dass es der Schlüssel Ihres Cousins war. Constable, seien Sie doch bitte so freundlich und gehen die Tasche mit dem Schloss aus der Haustür der Witwe Jameson holen.«

Biddle legte seinen Notizblock und den Stift beiseite und huschte nach draußen. Wir warteten in unruhigem Schweigen. Ich denke, ich war genauso nervös wie Jonathan Tapley. Er ließ sich nichts anmerken. Ich muss gestehen, ich bewunderte seine Weigerung, sich geschlagen zu geben, und ich hoffte, meinerseits genauso zuversichtlich zu wirken.

Biddle kam zurück. Er hielt die Tasche in den Armen wie ein Baby, trug sie zum Tisch und stellte sie behutsam darauf ab.

»Nun, worauf warten Sie, Junge?«, grollte Morris. »Machen Sie die Tasche auf!«

»Jawohl, Sir!« Biddle errötete und zog an der Schnur. Er kippte die Tasche behutsam aus, und das alte Schloss rutschte auf den Schreibtisch. Es war ein meisterhaftes Stück Schlosserarbeit, und es hätte mich nicht gewundert, wenn es schon beim Bau des Jameson’schen Hauses vor mehr als siebzig Jahren in die Tür gesetzt worden war. Kein Ganove mit der Absicht, in das Haus der Witwe einzudringen, hätte dieses Schloss ohne den passenden Schlüssel überwinden können – genau wie der Schlosser es gesagt hatte. Ohne Schlüssel wäre dem Einbrecher nichts anderes übrig geblieben, als ein Fenster einzuschlagen. Oder darauf zu vertrauen, dass eine sorglose Magd die Hintertür nicht absperrte.

»Da ist es also«, sagte ich. »Und hier haben wir auch Mrs. Jamesons Schlüssel dazu.« Ich nahm ihn heraus und legte ihn neben Tapleys Schlüssel. »Ja, sie sehen vollkommen identisch aus, wenn Sie mich fragen. Aber wir sollten ganz sicher sein. Wir werden den Schlüssel aus Ihrer Tasche im Schloss ausprobieren. Wollen Sie es tun, Mr. Tapley, oder soll ich?«

Tapley war so still und starr wie eine Statue – und genauso schweigsam. Ich lächelte, nahm den Schlüssel, der ihm aus der Tasche gefallen war, und steckte ihn in das Schlüsselloch des alten Schlosses. Er ließ sich ohne Mühe drehen, und mit einem leisen Klicken sprang der Riegel hervor. Ich drehte den Schlüssel in die andere Richtung, und der Riegel schob sich leise zurück. Tapley sagte kein Wort, doch seine Augen waren voller Wut, als er auf das kleine Objekt starrte, das ihn an den Galgen bringen würde.

»Sie haben mich vorhin aufgefordert, Sie zu verhaften, Sir«, sagte ich. »Ich denke, ich werde Ihre Einladung jetzt annehmen und genau das tun. Mr. Jonathan Tapley, ich verhafte Sie hiermit wegen des dringenden Verdachts der Ermordung Ihres Cousins Thomas Tapley.«    

Es ist eine rechte Leistung, Lizzie dazu zu bringen, dass sie schweigend zuhört, doch sie sagte nicht ein Wort, während ich ihr später die ganze Geschichte erzählte. Sie wagte kaum zu atmen.

»Jonathan beißt sich vor Wut bestimmt in den Hintern«, schloss ich. »Während er in der Zelle sitzt und darüber nachdenkt, wie unnötig all das war. Er hätte den Schlüssel in die Themse werfen sollen, als er feststellte, dass er ihm nichts mehr nützte. Ich frage mich, ob er dem gleichen merkwürdigen Instinkt nachgab, den so viele von uns haben, die alte Schlüssel sammeln. Wie dem auch sei, Strafrecht ist nicht sein Spezialgebiet, und er hat nie gelernt, wie ein Krimineller zu denken und Beweise sorgfältig zu beseitigen. Was nicht zuletzt wohl daher rührt, dass er nicht im Traum gedacht hat, er könnte eines Tages selbst einmal ein Verdächtiger sein. Schlimmer noch als sein Versäumnis, den Schlüssel zu beseitigen, ist die gallige Erkenntnis, dass Hector Mas einige Tage später zu seinem Cousin gegangen wäre und die niederträchtige Tat ausgeführt hätte. Er hätte überhaupt nichts tun müssen! Mas hätte die ganze Drecksarbeit erledigt.«

Lizzie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die arme Flora«, sagte sie. »Zuerst verliert sie ihren Vater durch einen grausigen Mord. Und nun sieht es so aus, als würde der Mann, der sie aufgezogen und den sie als Ersatzvater betrachtet hat, wegen ebendiesem Mord am Galgen enden. Stell dir vor, zu wissen, dass er ihren Vater umgebracht hat … und schlimmer noch, dass ihr eigenes Verhalten, ihr heimlicher Besuch bei ihrem Vater, letztendlich zu der fatalen Konfrontation geführt hat.«

»Wenn in derartigen Dingen die Wahrheit ans Licht kommt, leiden immer alle«, sagte ich zu ihr. »Die Unschuldigen genauso wie die Schuldigen. Denk nur an Maria Tapley. Sie mag keine liebenswerte Frau sein, aber auch sie wird leiden. Der Ruf ihrer Familie, der ihr so viel bedeutet, ist vollkommen zerstört.«

»Was ist mit Victorine und diesem elenden Mann, diesem Hector Mas?«, fragte Lizzie.

»Oh, die beiden werden angeklagt wegen des Mordes an Horatio Jenkins und der versuchten Entführung von Flora Tapley. Victorine wird ihr Bestes versuchen, sich aus allem herauszuwinden. Sie wird abstreiten, etwas von Mas’ Plänen gewusst zu haben. Aber sie hat ihn gedeckt, hinterher, zumindest das.«

Lizzie blickte nachdenklich drein. »Victorine hatte nichts mit dem Mord an ihrem Mann zu tun. Sie mag, so schauderhaft der Gedanke auch ist, dieses unaussprechliche Verbrechen zusammen mit Mas geplant haben, doch sie haben es nicht ausgeführt. Glaubst du, sie wird weiter versuchen, ihren Anspruch auf einen Teil von Thomas’ Nachlass durchzusetzen?«

»Mein Eindruck von Victorine Guillaume – oder besser, von der Witwe Tapley, wie wir sie korrekterweise nennen sollten, hat mich eines gelehrt«, sagte ich zu Lizzie. »Diese Dame gibt niemals auf, ganz gleich, wie schwierig die Lage sein mag, in der sie sich befindet.

Allerdings gehe ich davon aus, dass die Angelegenheit von Thomas Tapleys Hinterlassenschaft angesichts eines fehlenden gültigen Testaments von einem Gericht entschieden werden wird. Und wenn solche Dinge vor Gericht landen, Lizzie, dann dauert alles seine Weile. Es könnten Jahre vergehen, bevor alles endgültig geregelt ist. Hoffen wir, dass das Erbe nicht am Ende von Gerichtskosten und Anwaltsgebühren aufgezehrt wird. Flora braucht dringender als je zuvor eine gute Heirat. Sie ist befleckt von den Ereignissen, die Ärmste.«

»Aber der junge Mann, der sie vor dieser Geschichte heiraten wollte – er war nicht der Richtige«, sagte Lizzie entschieden. »Ganz gleich, was Jonathan und Maria Tapley von ihm halten mochten. Flora war nicht traurig, als seine Aufmerksamkeit verebbte. Ich hoffe für sie, dass sie eines Tages jemanden findet, der sie für ihre Intelligenz, ihre Loyalität und ihren Mut liebt und sich nicht um den alten Skandal schert. Dann wird sie auch glücklich …«, Lizzie streckte die Hand aus und ergriff meine. »Genauso glücklich wie du und ich.«