KAPITEL NEUN

Elizabeth Martin Ross

Ben verbrachte einen guten Teil des Abends mit dem Studium von Bradshaws Eisenbahnfahrplan und machte sich früh am nächsten Morgen auf den Weg in Richtung Harrogate. Nach Möglichkeit wollte er abends wieder zurückkommen, doch er befürchtete, wenigstens für eine Nacht außer Haus zu sein. Und falls er etwas von Interesse herausfand, dem er nachgehen musste, würde er vielleicht sogar für zwei Nächte wegbleiben. Er hatte eine telegraphische Nachricht an die Polizei von Yorkshire gesandt und sie informiert, dass er auf dem Weg war. Sie hatten ihm geantwortet, dass ein Inspector Barnes ihn in Harrogate vom Zug abholen würde.

»Nun, Bessie«, sagte ich, nachdem Ben zur King’s Cross Station aufgebrochen war. »Du und ich haben nun freie Zeit zur Verfügung, mit der wir machen können, wonach es uns beliebt. Ich schlage vor, wir fangen damit an, dass wir Mr. Horatio Jenkins einen Besuch abstatten, dem privaten Ermittlungsagenten, wie er sich selbst nennt.«

»Also ich weiß nicht, Missus«, entgegnete Bessie zweifelnd. »Klingt nach einer merkwürdigen Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn Sie mich fragen. Trotzdem«, sie wurde munter, »trotzdem kann es nicht schaden, ihn in Augenschein zu nehmen.«

Eine Droschke nach Camden wäre viel zu kostspielig gewesen, also fuhren wir mit dem Pferdeomnibus. Es ist eine langsame, beengte, unkomfortable Art zu reisen. Die häufigen Halts, um andere Fahrgäste ein- oder aussteigen zu lassen, zusammen mit dem übrigen Verkehr auf der Straße hatten zur Folge, dass die Pferde kaum jemals schneller vom Fleck kamen als im Schritttempo und nur gelegentlich ein kleines Stück weit trabten. Die Passagiere saßen oder standen unangenehm dicht beieinander, und wir waren gezwungen, unsere Habseligkeiten genau im Auge zu behalten wegen der vielen Taschendiebe, die sich auf Reisende im Omnibus spezialisiert hatten und im Gedränge nahezu ungestraft ihr Unwesen treiben konnten. Doch schließlich erreichten wir ohne jedes Malheur unser Fahrtziel, und schließlich standen wir in Camden auf dem Bürgersteig der High Street schräg gegenüber der Adresse, die auf der Karte genannt war. Bessie betrachtete düster ihre Kleidung.

»Es würde mich nicht überraschen, Missus, wenn Sie und ich nicht den einen oder anderen Floh in diesem Ommybus aufgelesen hätten.«

»Das werden wir später herausfinden, nicht jetzt, Bessie. Das ist die richtige Adresse, meinst du nicht auch?«

Uns gegenüber lag ein Gemüseladen. Über der Tür verkündete ein Schild INHABER A. WEISZ. Zu beiden Seiten des Eingangs standen Holztische mit Waren, alles hübsch ausgerichtet, Obst auf der einen und Gemüse auf der anderen Seite. Ein schlanker Mann mittlerer Größe in einem hahnentrittgemusterten Anzug bestehend aus Knickerbockerhosen und Jackett, das Gesicht im Schatten eines breitkrempigen Filzhutes, inspizierte das Obst. Er nahm ein Stück nach dem anderen in die Hand und untersuchte es von allen Seiten, bevor er es wieder zurücklegte und sich dem nächsten zuwandte.

In der Tür stand mit vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Gesichtsausdruck ein Mann in mittlerem Alter mit gewachstem Schnurrbart und grüner Schürze, wohl A. Weisz persönlich, und beobachtete den prospektiven Kunden aus zusammengekniffenen Augen.

»Es ist ein Geschäft«, sagte Bessie einfach. »Sind Sie sicher, dass wir an der richtigen Adresse sind, Missus?«

Ich nahm die Karte hervor und kontrollierte die Hausnummer. »Definitiv, Bessie. Gehen wir hin und fragen.«

Wir überquerten die Straße, und ich fragte den Ladeninhaber, ob er einen gewissen Horatio Jenkins kannte, den privaten Ermittlungsagenten.

»Die Treppe rauf«, antwortete Mr. Weisz knapp, ohne die Arme von der Brust zu nehmen oder seinen wählerischen Kunden auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt und blockierte immer noch den Eingang, also fragte ich: »Müssen wir durch den Laden?«

Endlich nahm Mr. Weisz die Arme herunter und zeigte nach links, ohne den Blick von dem Burschen in dem Knickerbockeranzug zu nehmen. »Tür.«

Nun bemerkte ich auch eine schmale Tür, ein wenig zurückgesetzt in einer Nische an der Seite des Ladens, neben den Schaufenstern. Sie war stark verwittert und benötigte dringend einen neuen Anstrich. Als wir hingingen, um sie näher in Augenschein zu nehmen, fanden wir wenig fachmännisch beschriftete kleine Namensschildchen: H. Jenkins, privater Ermittlungsagent – 1. Etage. Außerdem befanden sich auf der 1. Etage S. Baggins, Taxidermist, und auf der 2. Etage das Geschäft von Miss R. Poole, Hutmacherin.

Ich drückte probehalber gegen die Tür, und sie öffnete sich in ein dunkles Treppenhaus mit nackten Holzstufen.

»Komm, Bessie«, ermutigte ich unser Mädchen, und wir traten ein.

Wie erwartet fanden wir uns in der ersten Etage in einem staubigen, dunklen Korridor wieder. Zwei Türen gingen nach rechts ab, eine dritte war uns zugewandt am Ende des Gangs. An der ersten Tür zu unserer Rechten hing ein Schild mit der Aufschrift H. JENKINS, DETEKTIVAGENTUR in fetten Großbuchstaben. Es gab keine Glocke, also klopfte ich laut, und nach einem kurzen Augenblick vernahmen wir auf der anderen Seite Bewegung, und die Tür öffnete sich.

Der Mann, der uns nun gegenüberstand, war in mittlerem Alter, mit ergrauenden Locken, grobschlächtigen Gesichtszügen und kleinen dunklen Augen. Seine Jacke glänzte bereits, so abgewetzt war sie, und die Hose sah nicht allzu sauber aus. Auf seiner Hemdenbrust waren Krümel. Ich wollte gerade zum Reden ansetzen und fragen, ob er Jenkins wäre, als er mir zuvorkam.

»Wenn das nicht Mrs. Ross ist?«, sagte er und verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen, das nicht bis zu den Augen reichte. »Wie schön, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Warum kommen Sie nicht in mein Büro?«

Ich spürte Bessies warnenden Stoß sogar durch das Korsett hindurch. Ich ignorierte sie und trat hoch erhobenen Hauptes ein. Meine Stiefel klapperten auf dem nackten Dielenboden. Bessie folgte mir mit einem lauten Seufzer.

Gleich hinter der Tür stand – wie ein Diener, der nur darauf wartete, uns anzukündigen – einer von jenen Garderobenständern, die aussehen wie Bäume mit nach innen geschwungenen Ästen. Nichts hing an den kahlen Armen bis auf einen rostigen schwarzen Schirm und einen dazu passenden Bowlerhut. Der Rest des »Büros« war genauso wenig beeindruckend. Ein großer Schreibtisch mit einer Platte voller Tintenflecke hatte vor langer Zeit bessere Tage gesehen. Hinter dem Schreibtisch und der Tür zugewandt stand ein Sessel. Vor dem Schreibtisch und mit dem Rücken zur Tür gab es zwei Besuchersessel. Auf dem Schreibtisch lagen ein Stapel billiges Notizpapier sowie dazu passende Schreibutensilien, doch nichts deutete auf Arbeit hin. Stattdessen ließ die zusammengefaltete Ausgabe einer Sportzeitung Rückschlüsse darauf zu, wie Mr. Jenkins seinen bisherigen Vormittag verbracht hatte. In einer Ecke des Raums stand ein großer geflochtener Wäschekorb mit Deckel. Eine andere Ecke war durch einen Vorhang abgetrennt, und ich vermutete, dass Jenkins dort sein Bett stehen hatte. Das private Ermittlungsgeschäft schien nicht besonders gut zu gehen. In der Luft hing ein schwacher Geruch nach Zigarettenrauch und schalem Bier.

»Setzen Sie sich, Ladies«, sagte Mr. Jenkins einladend und deutete mit breiter, haariger Hand auf die beiden Besuchersessel. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

Ich setzte mich, und nach einigem Zögern folgte Bessie meinem Beispiel. Sie musterte unsere Umgebung unablässig, und ihre herabhängenden Mundwinkel ließen keinen Zweifel an ihrer Meinung. Ich entschied mich stattdessen, Jenkins direkt in die Augen zu sehen.

»Möchten Sie vielleicht Tee?«, fragte er. »Ruby Poole macht ihn für uns.« Er deutete zur Decke hinauf. »Dort oben, wo sie auch ihre Hüte näht. Wenn ich einen Klienten habe, klopfe ich mit diesem Ding hier …«, er deutete auf den Hutständer in der Ecke, »… an die Decke, für jede benötigte Tasse einmal.«

»Danke sehr«, sagte ich. »Aber ich bin sicher, Miss Poole hat zu tun, und wir wollen sie nicht bei ihrer Arbeit stören.«

»Sie macht eine sehr hübsche Trauerhaube«, informierte mich Jenkins. »Sollten Sie je Bedarf für ein solches Kleidungsstück haben – was ich Ihnen selbstverständlich nicht wünsche, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie verziert die Haube mit Federn und kleinen Satinrosen, alles in schwarz und komplett mit Schleier, sollten Sie das wünschen.«

»Mr. Jenkins!«, unterbrach ich ihn ungehalten. »Ich möchte weder Tee, noch benötige ich eine Trauerhaube oder sonst einen Hut! Was wollten Sie damit bezwecken, als Sie den Jungen am Bryanston Square beauftragten, mir Ihre Karte in die Hand zu drücken? Woher wissen Sie, wer ich bin? Waren Sie selbst ebenfalls am Bryanston Square? Sie müssen dort gewesen sein! Was hatten Sie dort zu suchen?«

Er bedachte mich mit einem weiteren langsamen, breiten, freudlosen Grinsen. »Mehr oder weniger genau das, was Sie auch getan haben, Miss Ross. Ich habe das Haus von Mr. Jonathan Tapley beobachtet.«

»Warum?«, verlangte ich in scharfem Ton zu erfahren.

»Nun, Mrs. Ross, auch das, wie ich gestehe, mehr oder weniger aus genau dem gleichen Grund wie Sie.«

Ich mochte seine vertrauliche, an Unverschämtheit grenzende Art nicht, genauso wenig, wie mir die Vorstellung behagte, dass dieser Mann mich dabei beobachtet hatte, wie ich meinerseits das Haus von Jonathan Tapley beobachtet hatte.

In seinen kleinen dunklen Augen glitzerte es süffisant, und daran erkannte ich ihn wieder.

»Sie sind der Clown!«, stieß ich hervor.

Unvermittelt sprang Bessie auf und marschierte durch das Zimmer zu der großen Wäschekiste.

»Hey!«, rief Jenkins und wollte aus seinem Sessel hoch. »Halten Sie Ihre Nase da raus! Das geht Sie nichts an!«

»Halten Sie selber Ihre Nase raus!«, entgegnete Bessie und klappte den Deckel hoch. »Sie hatten Recht, Missus! Es ist alles hier drin! Sehen Sie nur!« Sie beugte sich vor, kramte in dem Korb und brachte die Clownsperücke zum Vorschein. »Jede Menge anderer Sachen, alles, um sich zu verkleiden!«

»Tarnen, nicht verkleiden! Das gehört zu meiner Arbeit!«, schnappte Jenkins. »Und es geht Sie überhaupt nichts an!«

»Ich nenne es verkleiden, und es geht mich eine Menge an, wenn Sie die gnädige Frau erschrecken!«, widersprach Bessie aufgebracht. »Ich finde es sehr verdächtig, verkleidet auf die Straße zu gehen, wenn Sie mich fragen. Nicht normal.«

Jenkins sank in seinen Sessel zurück und blickte mich flehend an. »Können Sie sie nicht im Zaum halten, wenigstens für ein paar Minuten?«

»Ich denke, Bessie und ich haben jedes Recht zu erfahren, was Sie in diesem Korb aufbewahren«, entgegnete ich. »Ich denke außerdem, dass Sie uns eine Erklärung schuldig sind, Mr. Jenkins.«

Er legte seine großen Hände flach auf den Tisch und beugte sich zu mir vor. »Ich bin Ermittlungsagent. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Und dazu ist es eben manchmal erforderlich, dass ich mich tarne.«

»Es ist mir völlig egal, warum Sie sich verkleiden – tarnen, wie Sie es nennen –, aber ich verlange zu erfahren, warum Sie Thomas Tapley ausspioniert haben.«

Er seufzte und sank zurück. »Ich wusste sofort, dass Sie mich entdeckt hatten«, sagte er. »Ich wusste es wegen der Art und Weise, wie Sie mich am Damm angesehen hatten. Sie hatten erraten, was ich dort machte.«

Nun ja, genau genommen hatte ich das nicht. Ich hatte lediglich eine irrationale Angst empfunden wegen des Clowns, das war alles. Doch jetzt war diese Angst verflogen, und ich beschloss, meinen Vorteil auszunutzen.

»Das ist richtig. Ich habe Ihnen angesehen, dass Sie etwas Verdächtiges im Schilde führten. Ich habe mit meinem Ehemann über Sie gesprochen.«

»Ah«, sagte Jenkins mit einem neuerlichen Seufzer. »Genau wie ich es befürchtet habe.«

»Mein Ehemann ist Inspector, in Zivil, beim Scotland Yard.«

»Ich weiß sehr genau, wer Ihr Mann ist, Mrs. Ross.« Er lehnte sich zurück. »Lassen Sie mich alles erklären, ja? Sind Sie sicher, dass ich nicht an die Decke klopfen soll für einen Tee?«

»Fangen Sie einfach an!«, erwiderte ich in scharfem Ton.

Bessie, die unterdessen im Wäschekorb gewühlt hatte, schloss endlich den Deckel und kehrte an ihren Platz zurück.

»Genug gesehen?«, fragte Jenkins säuerlich.

»Ja«, sagte Bessie. »Ich habe mir all das Zeug eingeprägt, was Sie in dieser Kiste haben, und ich erkenne Sie auf der Stelle, wenn ich Sie irgendwo in einer dieser Verkleidungen sehe.«

»Ich werde von heute an auch nach Ihnen Ausschau halten und auf der Hut sein!«, entgegnete Jenkins, dann wandte er sich wieder zu mir. »Am besten, ich fange ganz am Anfang an, damit Sie wissen, wer ich bin und wie ich in diesem Geschäft gelandet bin. Als ich noch ein junger Bursche war, beschloss ich, auf Wanderschaft zu gehen. Ich fuhr nach Amerika und landete in New York. Das ist eine Stadt, die Sie sich unbedingt ansehen sollten. Wie dem auch sei, ich arbeitete in den verschiedensten Berufen, aber keiner stellte mich zufrieden, und ich beschloss weiterzuziehen. Ich hatte gehört, dass man auf den kalifornischen Goldfeldern ein Vermögen verdienen konnte. Also machte ich mich auf den Weg nach Westen. Durch eine Reihe von Fügungen des Schicksals, mit denen ich Sie nicht langweilen möchte, landete ich in Chicago. Das ist nicht im Westen, sondern mehr in der Mitte. Ich brauchte Geld und musste eine Zeit lang arbeiten, bevor ich an eine Weiterreise denken konnte. Ich wollte immer noch nach Kalifornien, verstehen Sie? Ich fragte also herum, ob jemand eine Firma kannte, die Personal suchte. Ich lernte einen Burschen kennen, der erzählte, dass er für Pinkerton arbeitete. Ich hatte keinerlei Ahnung, was Pinkerton war, und so erklärte er mir, dass es sich um eine große private Detektivagentur handelte. Er schlug mir vor, dass ich mit ihm in die Büros kommen sollte, und meinte, vielleicht würden sie mich ja nehmen.

Also ging ich mit. Ich lernte den Burschen kennen, der die Agentur gegründet hatte, einen gewissen Allan Pinkerton. Er war kein Amerikaner von Geburt, sondern ein Schotte, den ebenfalls die Wanderlust gepackt hatte und der wie ich zu dem Schluss gekommen war, dass es ihm auf der anderen Seite des Atlantiks besser gehen würde. Ich bekam eine Anstellung und wurde einer seiner Detektive. Die Arbeit gefiel mir, ja man könnte sagen, ich war ein Naturtalent. Dort lernte ich auch, mich zu tarnen und eine falsche Identität anzunehmen, um beispielsweise Verbrecherbanden zu infiltrieren. Die Menschen, Mrs. Ross, beurteilen einander mehr oder weniger nach dem ersten Augenschein. Sie glauben, was sie sehen. Bedenken Sie außerdem, die meisten sind bei Weitem nicht so aufmerksam wie Sie! Die meisten Leute sehen einen Clown und denken, hey, ein Clown! Aber die Wahrheit ist, der Schein trügt, und zwar häufiger, als uns lieb sein kann.

Wie dem auch sei, es ging mir gut. Dann fing drüben der Bürgerkrieg an, und das waren keine guten Nachrichten! Zwei Dinge waren in meinen Augen ziemlich offensichtlich. Erstens, der Krieg würde eher Jahre dauern als Monate, und zweitens würde sich unsere Arbeit stark verändern. Pinkerton war auf der Seite der Union. Er wurde ein Vertrauter von Präsident Lincoln, nachdem er eine Verschwörung zu seiner Ermordung aufgedeckt hatte. Aber ich bin kein politischer Mensch und ganz gewiss niemand, der sich in die Politik eines fremden Landes einmischt. Außerdem sah ich keine Notwendigkeit, mich in einen Krieg hineinziehen zu lassen. Hätte ich das gewollt, wäre ich zur Army gegangen.

Ich verspürte auch nicht länger den Wunsch, nach Kalifornien zu gehen – ich hatte ein paar Männer kennen gelernt, die von dort kamen, und keiner von ihnen hatte es geschafft, ein Vermögen zu machen, oder er war von anderen, gerisseneren Kerlen betrogen und um sein Geld gebracht worden. Also beschloss ich, dass die Zeit gekommen war für mich, nach Hause zurückzukehren.

Ich hatte die Idee, dass ich mit meiner bei Pinkerton gesammelten Erfahrung etwas Ähnliches in England aufziehen konnte, eine private Detektivagentur. Das tat ich dann auch, aber ich muss zugeben, es lief nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Bei weitem nicht so gut wie bei Allan Pinkerton drüben in den Staaten. Auf der anderen Seite machen wir viele Dinge anders hier in England. Ich konnte von meiner Arbeit leben. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen, oder?«

Er hielt inne und sah mich an, während er auf eine Antwort wartete.

»Bitte fahren Sie fort, Mr. Jenkins«, war alles, was ich zu sagen hatte.

Während er von seinen amerikanischen Abenteuern berichtet hatte, war er entspannt gewesen. Jetzt fing er an, nervös zu werden. Ich sah es ihm an und hörte es an seiner Stimme. »Kürzlich kam ein neuer Klient auf mich zu. Ich hatte nicht viel zu tun und war froh über die Gelegenheit, ein wenig Geld zu verdienen. Vielleicht hätte ich vorsichtiger sein sollen, aber Bettler dürfen nicht wählerisch sein, nicht wahr? Es war ein Job, und Arbeit ist Arbeit.

Der Klient wollte, dass ich einen Mann für ihn finde, jemanden mit Namen Thomas Tapley. Tapley hatte viele Jahre lang in Frankreich gelebt, doch der Klient vermutete, dass er nach England zurückgekehrt war. Er hatte einen Verwandten, einen Mann namens Jonathan Tapley, der hier in London am Bryanston Square wohnt, doch als der Klient Erkundigungen einzog und herausfand, wer Mr. Jonathan Tapley war, erschien es ihm als keine besonders gute Idee, ihn direkt anzusprechen und Fragen zu stellen. Also kam er zu mir. Er gab mir eine Photographie von Thomas Tapley, ein Studioporträt, das in Frankreich aufgenommen worden war, zusammen mit einer sehr guten Beschreibung des gesuchten Individuums.«

»Haben Sie diese Photographie noch?«, unterbrach ich ihn.

»In der Tat, Ma’am. Aber lassen Sie mich meine Geschichte zu Ende erzählen bitte. Es gelang mir herauszufinden, dass Thomas Tapley tatsächlich nach England zurückgekehrt war. Ich konnte seine Spur von Southampton bis nach London verfolgen. Doch wo er in London untergeschlüpft war, das war eine ganz andere Frage. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Wenn man verschwinden will, ist London der perfekte Ort dafür, keine Frage.

Nach einigem Suchen probierte ich einen neuen Ansatz. Ich observierte das Haus am Bryanston Square. Ich fand ziemlich schnell heraus, dass Mr. Jonathan Tapley ein sehr auffälliges Gespann unterhielt. Pferde wie diese hatte ich in Amerika häufiger gesehen. Dort werden sie Palominos genannt. Sie waren beinahe golden, mit hellen Mähnen und Schweifen, von der Sorte, die den Damen gefallen würde, und es lebten Damen im Haus. Eines Nachmittags, als ich auf dem Weg zum Bryanston Square war, bemerkte ich das Gespann auf der Straße und auf dem Weg in Richtung Fluss. Es gibt kein zweites Gespann wie dieses in der Gegend, glauben Sie mir, und so machte ich mich sofort an die Verfolgung. Es herrschte jede Menge Verkehr an diesem Tag, und so fiel es mir nicht besonders schwer, das Gespann im Blick zu behalten, bis es bei der Waterloo Bridge ankam. Es überquerte die Brücke, und ich wollte hinterher, doch ich hatte Pech. Zwei Droschkenfahrer gerieten in Streit über die Frage, wer als Erster fahren durfte, und es gab einen Stau. Irgendwann war ich vorbei und über die Brücke, aber das Gespann war verschwunden. Ich hatte die Spur verloren.

Mein erster Gedanke war, dass es vielleicht zur Eisenbahnstation gefahren war, um jemanden zum Zug zu bringen. Also wandte ich mich in Richtung Bahnhof, doch das Gespann war auch dort nirgendwo zu sehen. Ich überlegte, wo das Gespann sonst noch hingefahren sein konnte und ob Thomas Tapley vielleicht auf der Südseite des Flusses wohnte und wer auch immer in der Kutsche saß, auf dem Weg war, ihn zu besuchen? Falls das so war, würde Tapley früher oder später über die Brücke kommen, überlegte ich. Auf der Südseite gibt es nämlich nichts außer dem Bahnhof. Also tarnte ich mich als Clown und bezog auf dem Damm Position. Und was soll ich sagen, am dritten Tag, den ich dort mit Jonglieren und Albereien verbrachte und mir damit den einen oder anderen Pence verdiente, sah ich ihn auf mich zukommen! Er ging an mir vorbei und passierte die Brücke in Richtung Norden. Ich wartete, bis er wieder zurückkam, und folgte ihm dann, um herauszufinden, wo er wohnte. In dieser Hinsicht hatte ich wirklich Glück gehabt. Mein Pech war nur, dass Sie mich dabei entdeckt haben.«

»Ihr Klient wollte Jonathan Tapley nicht direkt fragen, ob er wusste, wo Thomas Tapley zu finden war, weil er herausgefunden hatte, dass Jonathan Tapley als Anwalt arbeitet. Ihr Klient meidet das Gesetz, Mr. Jenkins. Das ist der Grund, aus dem er zu Ihnen kam.«

»Ich denke, da liegen Sie möglicherweise richtig, Mrs. Ross«, pflichtete Jenkins mir bei. »Andererseits möchte nicht jeder zur Polizei gehen oder zu einem Anwalt, richtig? Deswegen kommen die Leute zu mir, verstehen Sie? Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Wie dem auch sein mag, ich berichtete meinem Klienten, dass ich die Zielperson aufgespürt hatte. Ich erhielt mein Honorar, und zwar auf der Stelle, so wie wir es ausgemacht hatten.

Ich war recht zufrieden mit mir – ein gutes Stück Detektivarbeit und ein gutes Geschäft. Doch die Zufriedenheit verging ziemlich schnell, das kann ich Ihnen sagen. Ein paar Tage später las ich in der Zeitung, dass ein Mann ermordet genau in jener Straße aufgefunden worden war. Er war aus Southampton hergezogen. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich war sicher, dass sich der Tote als Thomas Tapley herausstellen würde, und ich hatte ihm nachgespürt! Es würde nicht lange dauern, bis die Polizei hinter mir her war. Schlimmer noch, am Tag nachdem die Meldung in der Presse erschienen war, tauchte mein Klient wieder in meinem Büro auf. Diesmal wollte er, dass ich mit Jonathan Tapley in Verbindung trat. Aber ich witterte Gefahr, und deswegen lehnte ich den Auftrag ab.«

»Wie reagierte Ihr Klient darauf?«, fragte ich. »Verärgert? Nervös? Überrascht?«

»Oh, er wurde sehr nervös. Genau wie ich, eh? Wir waren wie zwei Katzen auf heißen Steinen. Keiner von uns wollte in eine Mordsache verwickelt werden. Wir standen beide in sehr schlechtem Licht da. Mein Klient hatte Thomas Tapley nicht tot gewollt, Mrs. Ross. Mein Klient hatte ihn lebendig haben wollen. Ich wollte mir keinen Feind machen, der die Polizei auf mich hetzte, aber ich wollte auch nicht noch weiter in diese Sache hineingezogen werden. Eine ziemliche Bredouille, in der ich mich da befand. Also sagte ich zu dem Klienten, dass er mir Zeit geben sollte, damit ich mich umsehen kann, was passiert. Ich beobachtete das Haus am Bryanston Square weiter, weil es meiner Meinung nach das Zentrum von allem ist. Vergessen Sie nicht, ich habe meine Erfahrungen im Detektivgeschäft. Dann habe ich Sie wiedergesehen, und ich dachte bei mir, ha! Die Lady ist ebenfalls im Detektivgeschäft!«

»Wie dem auch sei«, sagte ich entschieden. »Sie müssen jetzt zur Polizei gehen. Wenn Sie weitermachen wie bisher und auf eigene Faust herumschnüffeln, riskieren Sie, alles nur noch schlimmer zu machen für sich. Reden Sie mit Ihrem Klienten, überzeugen Sie ihn, mit Ihnen zum Scotland Yard zu gehen. Mein Mann ist zurzeit außerhalb von London, und er kommt nicht vor morgen Abend zurück, vielleicht auch erst übermorgen. Fragen Sie nach Sergeant Morris oder auch gleich nach Superintendent Dunn.«

Jenkins schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, nein, auf keinen Fall! Mein Klient will nichts davon wissen! Und wenn wir schon dabei sind, es ist kein ›Er‹, verstehen Sie? Es ist eine ›Sie‹.«

»Eine Lady?«, fragte ich überrascht.

»Ja, eine Lady, Mrs. Ross, und eine ausländische Lady obendrein. Eine französische Lady. Ich hatte erwähnt, dass ich zu Scotland Yard gehen wollte, doch die Vorstellung versetzte sie in Angst. Ich konnte herausfinden, dass Inspector Ross die Ermittlungen leitet, und sie war einverstanden, den Inspector hier in diesem Büro zu treffen. Sie spricht ein wenig Englisch, doch sie braucht wahrscheinlich Hilfe. Rein zufällig kann ich ein wenig Französisch und könnte bei einer Befragung aushelfen. Werden Sie das Ihrem Mann ausrichten?«

Mir lag auf der Zungenspitze zu erwidern, dass ich selbst sehr gut Französisch sprach und dolmetschen konnte, falls erforderlich, doch ich hielt inne. Je weniger Informationen Jenkins über mich hatte, desto besser. Er war durchaus imstande, selbst genug herauszufinden.

»Dann sollte ich wohl zum Yard gehen und berichten«, sagte ich. »Dies ist eine Mordermittlung, und sämtliche Informationen müssen sofort an die Polizei weitergeleitet werden. Ich werde alles erzählen, was Sie mir gesagt haben.«

Jenkins wurde ganz aufgeregt. »Nein, nein! Wenn Sie das tun, habe ich das ganze Büro voller Bullen! Das reinste Gift für eine private Ermittlungsagentur mit garantierter Diskretion! Ich würde nie wieder einen Auftrag von einem Klienten bekommen, wenn sich das herumspricht! Abgesehen davon, möglicherweise würde meine derzeitige Klientin Wind von der Sache bekommen und nicht mehr auftauchen. Entweder sie und Inspector Ross alleine treffen sich hier in diesem Büro oder überhaupt nicht.«

»Wie lautet der Name der Lady?«, erkundigte ich mich.

Er bedachte mich mit seinem trägen, entnervenden Grinsen. »Ich bin selbst ein halber Anwalt, Ma’am, oder ein Priester. Ich wahre die Geheimnisse meiner Klienten, es sei denn, sie gestatten mir zu reden. Es ist eine Frage des Vertrauens, wissen Sie? Klienten erzählen mir alle möglichen Dinge, weil sie denken, dass ihre Geheimnisse bei mir sicher sind.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich und erhob mich.

»Ich hätte gerne Ihr Wort«, sagte Jenkins.

Das brachte mich in Verlegenheit. »Mein Mann kommt heute spät in der Nacht zurück oder auch nicht«, sagte ich. »Ich warte bis morgen. Wenn er dann nicht gekommen ist – wenn er noch länger wegbleiben muss –, werde ich selbst zum Yard gehen. Ich schlage vor, Sie setzen sich mit dieser Lady in Verbindung. Sie haben den ganzen restlichen Tag Zeit dafür. Überzeugen Sie sie, sich den Behörden anzuvertrauen, nach Möglichkeit noch heute. Wenn sie nichts zu verbergen hat, muss sie keine Angst haben.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig war, was Sie ihm versprochen haben, Missus«, sagte Bessie, als wir wieder auf der Straße standen und uns auf den Heimweg machten.

»Das weiß ich auch nicht«, gestand ich. »Aber wenn ich geradewegs zu Superintendent Dunn laufe und er schickt Morris oder sonst jemanden zu Jenkins, dann wäre es durchaus möglich, dass diese geheimnisvolle Klientin von Jenkins verschwindet und nie wieder auftaucht. Wir kennen nicht einmal ihren Namen. Wir wissen nur, dass sie Französin ist. Wenn sie es mit der Angst zu tun bekommt, flüchtet sie schnurstracks nach Hause, nach Frankreich.«

»Was wollte sie überhaupt von unserem Mr. Thomas Tapley?«, fragte Bessie. »Und warum will sie jetzt unbedingt mit seinem Cousin Mr. Jonathan Tapley in Kontakt treten? Sie wollte vorher nichts mit ihm zu tun haben, jedenfalls nicht, nachdem sie herausgefunden hat, dass er Anwalt ist. Wenn Sie mich fragen, sie hat etwas zu verbergen. Das ist der Grund, aus dem sie sich außer Sichtweite hält.«

»Das wissen wir erst, wenn sie es uns erzählt – oder der Polizei. Und das wird nur geschehen, wenn Jenkins sie auftreiben kann. Ich werde tun, was ich Jenkins versprochen habe, und warten. Wenn der Inspector nicht heute Abend aus Harrogate zurückkehrt, werde ich morgen früh gleich als Erstes zu Superintendent Dunn gehen. Wir müssen das Risiko eingehen, die Lady zu verlieren.«

Während ich sprach, passierten wir einen Mann, der in einer Ecke stand und auf einem Apfel kaute. Seine Knickerbocker und sein Filzhut kamen mir irgendwie bekannt vor.

»Zuerst fasst er jedes einzelne Stück in der Auslage an«, murmelte Bessie, die ihn ebenfalls wiedererkannt hatte. »Und dann kauft er nur einen einzigen Apfel von dem armen Mann. Man sollte wirklich meinen, das wäre auch mit weniger Aufhebens gegangen.«

Ihre Bemerkung brachte mich dazu, den Kopf nach dem Fremden zu drehen, und ich begegnete seinem Blick. Seine Augen waren auf mich fixiert. Es waren sehr große, dunkle Augen mit einem spöttischen Glitzern darin. Er starrte mich so unverhohlen an, so taxierend und persönlich, dass ich verlegen wurde. Normalerweise lasse ich mich nicht aus der Fassung bringen, wenn ich angestarrt werde. Nicht, wie ich hinzufügen möchte, dass ich allzu viele Blicke von der offen bewundernden Sorte anziehe. Ich halte mich nicht für unattraktiv, doch ich war nie eine Schönheit von der Sorte, nach der sich alle umdrehen. Genauso wenig, wie der Bursche selbst weder besonders attraktiv noch sonderlich jung gewesen wäre. Er hatte einen dicken schwarzen Backenbart, und seine Haut war von einem hellen Olivton, wie man ihn in England kaum zu sehen bekam. Vielleicht war das der Grund, aus dem er einen Tweedanzug trug – vielleicht dachte er, damit weniger ausländisch zu erscheinen.

Er hatte meine Verlegenheit bemerkt, und das schien ihn zu amüsieren. Er grinste und entblößte dabei kräftige weiße Zähne, und dann biss er mit hörbarem Knirschen erneut in den Apfel.

Ich eilte an ihm vorüber mit einem Gefühl, das ich nicht genau erklären konnte, und ich verspürte nicht die geringste Lust, mich näher damit zu befassen.