KAPITEL SIEBZEHN

Elizabeth Martin Ross

Der Tag des Begräbnisses dämmerte feucht und kühl herauf, als hätte der kürzlich zu Ende gegangene Winter beschlossen, uns noch einmal einen letzten schnellen Überraschungsbesuch abzustatten, gerade als wir glaubten, für eine Weile nichts mehr von ihm zu sehen. Über Nacht war vom Fluss her Nebel aufgezogen und trieb in dichten Schwaden durch die Straßen wie der Rauch eines in der Nähe schwelenden Feuers. Er war nicht ganz so schlimm wie der spezielle Londoner Nebel, jene dicke braune Suppe, die die Luft verpestet und Fußgänger zum Husten und Ersticken bringt und so undurchdringlich ist, dass Kutschen und Pferdewagen miteinander kollidieren. Doch er war immer noch schlimm genug. Was die Luft in unserer und den umliegenden Straßen noch verschlimmerte, war der Rauch aus den Dampflokomotiven des nahegelegenen Bahnhofs, der dicht über der Erde festhing. Bis der Tag vorüber war und wir wieder zu Hause angekommen waren, rochen wir wahrscheinlich allesamt wie geräucherte Bücklinge.

»In der Gegend von Marylebone ist es bestimmt besser«, verkündete Ben optimistisch.

Mrs. Jameson begleitete uns. Sie hatte ihrem Wunsch Ausdruck verliehen, dabei zu sein, wenn ihr verstorbener Untermieter zur letzten Ruhe gelegt wurde. Wir drei quetschten uns in Wally Slaters vierrädrige Kutsche, die wir eigens zu diesem Zweck angemietet hatten, und bewegten uns quälend langsam nach Norden über den Fluss. Wally hatte sich, der Gelegenheit angemessen, einen schwarzen Schal um den Hut gebunden, und Nelson hatte schwarze Rosetten am Zaumzeug. Ben hatte eine schwarze Armbinde umgelegt, und ich trug die Garderobe, die ich zum letzten Mal zum Tod meines armen Vaters angezogen hatte. Die Kleidungsstücke hatten seit damals weggepackt in einer Kiste gelegen und dementsprechend gelitten, deswegen war ich in gewisser Weise froh um das schlechte Licht, das halbwegs half, die Falten und die gestopften Stellen in meinem Rock und der passenden Jacke zu verbergen. Die Witwe Jameson trug ihre übliche nüchterne Garderobe, jedoch kein Schwarz. Es war kein Brauch bei den Quäkern, informierte sie uns, sich für eine so traurige Gelegenheit herauszuputzen, und sei es in Schwarz.

»Die Trauer ist im Herzen, Mrs. Ross. Es tut mir ausgesprochen leid, was dem armen Mr. Tapley zugestoßen ist. Es fällt mir immer noch schwer zu begreifen, dass irgendein Halsabschneider sich Zutritt zu meinem Haus verschafft und den armen Mann in seinem eigenen Wohnzimmer von hinten totgeschlagen hat. Ich bete, dass er nun seinen Frieden hat und dass sein Angreifer für seine Tat büßen muss.«

Trotz Bens optimistischer Einschätzung war die Luft nicht viel besser, als wir endlich die St. Marylebone Church erreicht hatten. Wir warteten draußen unter vor Feuchtigkeit tropfenden Bäumen auf das Eintreffen des Leichenwagens mit dem Sarg, während die Kälte sich langsam in unsere Glieder schlich. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich umzublicken und zu sehen, wer alles gekommen war oder noch kam. Ich erwartete keine große Menge. Superintendent Dunn war bereits vor uns eingetroffen. Die Familie war noch nicht da, und außer Ben und der Witwe Jameson und mir selbst hatte sich nur eine ältere Frau eingefunden. Sie erzählte uns, während sie in ein Taschentuch schniefte, dass sie die Gouvernante »der lieben kleinen Flora« gewesen war vom Tag ihrer Ankunft im Haushalt der Tapleys bis zu dem Tag, an dem sie alt genug geworden war, um die Internatsschule zu besuchen.

»Die Familie war immer sehr gut zu mir«, vertraute sie mir an. »Mr. Tapley – Mr. Jonathan Tapley, heißt das – zahlt mir eine kleine Rente in Anerkennung meiner Dienste. Der Gedanke, dass der andere Mr. Tapley, Floras Papa, heute begraben wird … das arme, arme Kind!« Sie suchte in ihrem Taschentuch Zuflucht.

»Kannten Sie Mr. Thomas Tapley?«, erkundigte ich mich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin dem Gentleman nie begegnet. Er war in den ersten Jahren einige Male zu Besuch, um seine Tochter zu sehen, aber das war, bevor er nach Frankreich ging. Ich habe ihn stets nur flüchtig gesehen, ohne mit ihm zu reden, wenn Flora von ihrer Tante aus dem Kinderzimmer nach unten gerufen wurde. Ich brachte sie dann nach unten und ließ sie an der Tür warten. Er blieb nie lange, Floras Papa, meine ich.«

Eine weitere Gruppe von Gästen traf ein. Sie bestand aus vier Gentlemen, von denen Ben, wie sich herausstellte, drei kannte. Alle vier waren eigens zur Beerdigung aus Harrogate hergekommen, zwei Anwälte namens Thorpe – Vater und Sohn, wie ich den Unterhaltungen entnahm – sowie ein Major Griffiths, Mieter von The Old Hall, dem Haus, in dem Thomas Tapley aufgewachsen war. Der vierte Gentleman war ein wahrer John Bull von einem Mann, von stämmiger Statur, mit rotem Gesicht und einem schmalkrempigen Hut, einem Mantel aus schwarzem Tuch sowie altmodischen Reithosen und Gamaschen. Er informierte uns, dass er ein Freund von Thomas gewesen war, aus Kindertagen.

»Auch wenn ich seit Jahren nichts mehr von ihm gehört habe«, erklärte er. »Nicht mehr, seit er ins Ausland gegangen ist. Ich musste nicht viel nachdenken, um nach London zu seiner Beerdigung zu kommen.« Er schüttelte den Kopf. »Der arme Kerl, er war ein bescheidener Reiter und ein schlechter Schütze, aber wenn es ums Lesen ging, da konnte er Shakespeare am Meter zitieren.«

An dieser Stelle kündeten das Rumpeln von Rädern und Hufgeklapper das Eintreffen des Leichenwagens in seiner ganzen traurigen Pracht an. Der Wagen wurde gezogen von einem Paar pechschwarzer Pferde mit im Gleichtakt wackelnden schwarzen Federbüschen über den Ohren. Die Kutsche mit den Tapleys folgte dahinter, und nun sah ich zum ersten Mal selbst das außergewöhnliche Paar »goldener Zugpferde«, die Joey so lebhaft beschrieben hatte. Ich gestehe, sie wirkten seltsam deplatziert und auffällig für die traurige Gelegenheit, und das, obwohl auch sie schwarze Federbüschel und Rosetten trugen. Als Erstes stieg Jonathan aus der Kutsche. Er hatte einen schwarzen Seidenschal um seinen Zylinder gewickelt und hob die Hand, um zuerst seiner Frau und dann Victorine beim Aussteigen behilflich zu sein. Ich hatte mich gefragt, ob sie ihr erlauben würden, mit ihnen zu kommen – schließlich war sie ein Mitglied der Familie. Wie auch immer die Befindlichkeiten zwischen Victorine und den Tapleys sein mochten, ich nehme an, sie konnten es sich einfach nicht leisten, die Witwe nicht mitzubringen. Es hätte zu Gerede geführt, und die Tapleys fürchteten Gerede wie der Teufel das Weihwasser.

Ich musterte Victorine Tapley so eingehend, wie ich konnte, ohne sie allzu unverblümt anzustarren. Sie war unbestreitbar eine attraktive Frau, auch wenn sie die erste Jugend längst hinter sich gelassen hatte. Sie hatte die Haltung einer Königin – andererseits war sie ja auch eine ausgebildete Tänzerin gewesen. Sie trug einen teuer aussehenden Hut, verziert mit schwarz gefärbten Straußenfedern und vermittels langer Nadeln sicher an ihre kunstvolle Lockenpracht geheftet. Ein Hut wie dieser kam sicher aus Paris, dachte ich und war mir zugleich schmerzhaft meiner altmodischen Trauerhaube bewusst. Ich war mehr als je zuvor überzeugt, dass Victorine ihre gesamte Trauergarderobe aus Frankreich mitgebracht hatte, und das, obwohl sie neben der Hutschachtel wenigstens zwei Koffer benötigte. Sie hatte meiner festen Meinung nach damit gerechnet, dass der arme Thomas tot war oder bald sterben würde. Aber war sie eine Mörderin?

Als Letzte stieg Flora aus, mit ein wenig Abstand, als wäre sie beinahe vergessen worden. Sie trug eine kleine Trauerhaube mit einem gemusterten Schleier und folgte Onkel, Tante und Stiefmutter mit gesenktem Kopf. Maria Tapley blickte sich einmal zu ihr um, doch ansonsten gewann ich den Eindruck, als hätten sowohl Jonathan als auch seine Frau nur Augen für die Witwe.

Der Sarg wurde in die Kirche getragen, die Familie folgte, und wir anderen alle folgten der Familie. Unsere kleine Schar wirkte in dem großzügigen, weiß-goldenen Innenraum noch kläglicher. Der Gottesdienst war kurz. Wir verließen die Kirche. Ben, Mrs. Jameson und ich stiegen in Wally Slaters Kutsche, und Superintendent Dunn kam hinzu. Wir folgten dem Leichenwagen, der Familienkutsche und der Droschke mit den Thorpes und der John-Bull-Inkarnation sowie der ehemaligen Gouvernante, die sie freundlicherweise bei sich mitfahren ließen. Unser Ziel war der einfache Bahnhof in der Nähe des großen Waterloo Terminus, wo die private Eisenbahnlinie zu dem riesigen Friedhofsgelände der Brookwood Necropolis vierzig Kilometer außerhalb von London ihren Anfang nahm.

Während der Sarg mit den Sargträgern eingeladen wurde und wir Trauergäste in einen separaten Waggon stiegen, gesellten sich zwei weitere Personen zu unserer Gesellschaft, ein Mann und eine Frau in mittlerem Alter, plump und untersetzt, anscheinend ein Ehepaar. Sie stellten sich nicht vor, redeten unterwegs mit niemandem, und ich konnte mich nicht erinnern, sie in der Kirche gesehen zu haben. Ich fragte mich, ob sie sich vielleicht aus Versehen der falschen Beerdigung angeschlossen hatten. Wir waren nicht die einzige Trauergesellschaft gewesen am Bahnhof, die darauf gewartet hatte, nach Brookwood zu fahren. Es gab wenigstens noch zwei weitere Beerdigungen an diesem Nachmittag. Ich wusste nicht, ob sie sich der Möglichkeit bewusst waren, doch falls es so war, dann saßen sie es mit wahrer britischer Entschlossenheit aus.

Mrs. Jameson schien fasziniert von der Witwe Tapley und mehr noch von Jonathan Tapley. Nach einem oder zwei eher ratlosen Blicken auf die Französin im Verlauf der Reise nach Brookwood beobachtete sie ihn unablässig, nur um jedes Mal, wenn sie glaubte, irgendjemand hätte es bemerkt, hastig die Augen niederzuschlagen oder zur Seite zu sehen. Einmal begegnete sie dabei meinem Blick, erkannte, dass ich ihr Tun bemerkt hatte, und lief dunkelrot an. Es war keine große Überraschung, dass sie Mühe hatte, die stattliche, prosperierende Gestalt von Jonathan Tapley mit dem dürren, heruntergekommenen Mann in Verbindung zu bringen, der sich bei ihr als Untermieter einquartiert hatte. Sie fragte sich wahrscheinlich zum wiederholten Male, wie es dazu hatte kommen können, dass Thomas Tapley sein Leben als Untermieter in ihrem Haus ausgehaucht hatte.

Flora blieb die ganze Zeit über hinter ihrem Schleier. Das Blättermuster auf dem dünnen Seidenmaterial ließ ihre Gesichtszüge nur erahnen, und selbst das nur stellenweise. Während der Schleier sich beim Schaukeln des Waggons bewegte, entstand der Eindruck einer Laterna magica, die ständig andere Bereiche ihres Gesichts zeigte. Ich sah ein Auge, dann eine Seite ihres Mundes, dann ihre Wange, alles erstarrt in düsterer Schwermut. Manchmal hatte ich das eigenartige Gefühl, dass nicht Flora hinter dem Schleier saß, sondern eine Porzellanmaske. Von Zeit zu Zeit warf ihre Tante Maria einen Blick zu ihr, doch sie fand keine tröstenden Worte für ihre Ziehtochter, nicht einmal ein behutsames Streicheln über den Arm. Flora hielt sich tapfer, und das war alles, was zählte.

Der Bahnhof der Nekropole besaß zwei getrennte Bahnsteige, wo Trauergäste aussteigen konnten. Einen für die Angehörigen der Kirche von England und einen anderen für alle anderen Konfessionen oder Religionen. Hier hätte das unbekannte Paar die Gelegenheit gehabt, sich davonzustehlen und auf die richtige Gesellschaft zu warten, doch die beiden blieben bei uns. Anscheinend waren sie doch zu Tom Tapleys Beerdigung gekommen.

Die vierzig Kilometer von London bis zum Friedhof waren nicht weit genug gewesen, um die letzten Spuren des Nebels abzuschütteln. Dunst lag über der großen, parkähnlichen Landschaft voller Grabstätten, die eigens als letzte Ruhestätte für die vielen Londoner Toten geschaffen worden war, die nicht bedeutend genug waren oder nicht genügend Geld hatten, um sich ein Grab in London zu kaufen. Was nicht heißen soll, dass die Grabstätten hier billig gewesen wären. Der Dunst hing zwischen den Bäumen und über den Grabsteinen und Monumenten und behinderte unsere Sicht. Der Tag war dunkler, als er um diese Zeit eigentlich hätte sein sollen. Die Sonnenstrahlen hatten die dichte Wolkendecke den ganzen Tag lang nicht zu durchdringen vermocht.

Wir gingen in feierlicher Prozession mit knirschenden Schritten auf den gekiesten Wegen, passierten steinerne Urnen auf Sockeln unter gemeißelten Girlanden und Engel mit blinden Augen und ausgebreiteten Flügeln, die niemals flattern und sie vom Erdboden abheben lassen würden. Es war viel kälter geworden als in London. Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Es war ein ziemlich weiter Weg bei unserer geringen Geschwindigkeit, und bis wir das Grab endlich erreicht hatten, wurde es bereits dunkel. Der Geistliche, der uns von der Kirche bis hierher begleitet hatte, sprach die erforderlichen Worte, und der arme Tom Tapley wurde in seinem Sarg in den Boden gelassen. Wir nahmen Abschied und wandten uns ab, um zum Bahnhof zurückzukehren.

Nachdem das Begräbnis vorbei war, breitete sich in der kleinen Gesellschaft spürbare Erleichterung aus. Unsere bis dahin disziplinierte Prozession hatte sich aufgeteilt und ging in kleinen Grüppchen. Die Sargträger des Bestatters hielten sich im Hintergrund. Der dicke Mann und seine gleichermaßen dicke Frau hatten sich endlich an Jonathan und Maria Tapley gewandt und ihnen ihr Beileid ausgesprochen. Die Tapleys nahmen es mit Fassung entgegen, auch wenn ich den starken Verdacht hegte, dass sie keine Ahnung hatten, wer die Leute waren. Victorine Tapley, Toms Witwe, hatte sich abgesondert und blieb für sich allein. Ben unterhielt sich mit Major Griffiths und Superintendent Dunn mit dem stämmigen Burschen in Reithosen. Die kleine Gouvernante unterhielt sich flüsternd mit den beiden Anwälten aus Harrogate, und Flora …

Ich blickte mich halb alarmiert um. Wo steckte Flora? Hastig sah ich in alle Richtungen, doch da war nichts außer Bäumen, Grabsteinen und Statuen auf Säulen.

Ich rief ihren Namen, so laut ich konnte, ohne Rücksicht auf die Unschicklichkeit angesichts unserer Umgebung. »Flora!«

Fast im gleichen Augenblick brach heller Aufruhr los, und Panik drohte auszubrechen. »Wo zum Teufel ist sie?«, rief Jonathan. Seine Frau stieß einen Schreckensschrei aus und kippte hintenüber, um von dem unglücklichen Geistlichen aufgefangen zu werden. Die vier Gentlemen aus Harrogate rannten in verschiedene Richtungen auseinander. Der dicke Bursche in Reithosen rief immer wieder »Hallooo!«, als wäre er auf der Jagd, und wir sahen, wie er auf eine Stelle in einiger Entfernung deutete, wo sich durch Nebel und einsetzende Dunkelheit nur undeutlich erkennbar etwas bewegte, ein eigenartiger Umriss, der sich ständig veränderte. Dann löste er sich aus dem Schatten der Bäume, und ich sah, dass es eine Frau und ein Mann waren, die miteinander rangen. Sämtliche Männer unserer Gesellschaft einschließlich der Sargträger rannten laut schreiend in die Richtung. Nur der Geistliche, der immer noch Maria Tapley hielt, bildete eine Ausnahme.

»Polizei! Stehen bleiben!«, rief Ben ununterbrochen. Die männliche Gestalt löste sich von der Frau, und die Frau sank zu Boden.

»Mas!«, brüllte Dunn. »Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht Hector Mas ist! Schnappt den Halunken, haltet ihn!«

Und dann war die Jagd in vollem Gang. Die Gestalt rannte mit weiten Sätzen davon. Ihre Verfolger hatten sich verteilt und bemühten sich, ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Maria Tapley hatte sich von ihrem Schrecken erholt und lief, dicht gefolgt von der ehemaligen Gouvernante, auf die reglos am Boden liegende Flora zu. Der Geistliche hastete mit wehenden Rockschößen hinter ihnen her, das Gebetbuch fest an die Brust gedrückt und verzweifelt darum bemüht, einen Rest an Würde zu bewahren. Ich sah mich nach Victorine um und stellte fest, dass sie ebenfalls rannte, allerdings nicht in die gleiche Richtung wie alle anderen, sondern in die entgegengesetzte.

Ich raffte meine Röcke und machte mich an die Verfolgung. Ich wusste nicht, wohin sie wollte oder warum, und es war niemand da, der mir hätte helfen können und ihr den Weg abschneiden. Ich bemühte mich nach Kräften, setzte über Gräber hinweg und lief über freie Rasenflächen. Sie wusste, dass ich hinter ihr war. Sie blickte sich einmal zu mir um, dann rannte sie weiter.

Ich war jünger als sie und besser in Form und holte Stück für Stück auf. Als sie das erkannte, bückte sie sich im Laufen, packte eine kleine marmorne Vase von einem Grab, wirbelte herum und schleuderte sie mit der Kraft und Genauigkeit eines Werfers bei einem Kricketspiel nach mir. Ich duckte mich, und die Vase segelte über meinen Kopf hinweg.

Weiter rannte sie, und weiter rannte ich.

Durch das Bücken und Werfen hatte sie wertvolle Zeit verschwendet, und ich war bis auf wenige Meter herangekommen. Ich warf mich mit ausgestreckten Armen nach vorn und bekam ein Stück vom Stoff ihres Rockes zu fassen.

Sie drehte sich um, fauchte wütend und versuchte mich abzuschütteln, doch ich war nicht bereit, ohne Weiteres von meiner Beute abzulassen, nachdem ich sie endlich gepackt hatte. In diesem Moment stolperte sie über die Graniteinfassung eines Grabes und fiel auf die Knie. Ich warf mich auf sie und schlang die Arme um ihre Taille. Sie beschimpfte mich wütend auf Französisch, was Erinnerungen an meine Französischstunden aus längst vergangenen Tagen in mir weckte. Ich antwortete heftig in der gleichen Sprache.

Ich schätze, es überraschte sie so sehr, dass sie ihre Gegenwehr einstellte. Wir saßen beide auf dem Boden, erschöpft und atemlos. Meine Haube war heruntergefallen und hing an dünnen Bändchen um meinen Hals. Victorine lehnte mit dem Rücken an einem Grabstein. Ihr Atem ging abgehackt und stoßweise. Ihr modischer Pariser Hut mit den schwarzen Straußenfedern war ebenfalls heruntergefallen … zusammen mit den glänzenden schwarzen Haaren. Die kunstvolle Perücke lag auf dem Boden. Victorines eigenes Haar war kurz geschnitten und beinahe weiß. Es war eine alte Frau, die schwer atmend und immer noch Gift und Galle spuckend vor Wut vor mir saß.

Ben kam herbei, ebenfalls außer Atem. Auch er hatte seinen Hut verloren. »Ist alles in Ordnung, Lizzie?«, fragte er besorgt.

»Ja, alles bestens«, versicherte ich ihm. »Aber wie geht es Flora? Ist sie verletzt? Habt ihr den Kerl geschnappt, der sie angegriffen hat?«

»Flora ist mit dem Schrecken davongekommen. Sie hat sich ein wenig zurückfallen lassen und sagt, plötzlich wäre ein fremder Mann hinter einem Grabstein aufgetaucht, hätte sie angesprungen, ihr die Hand auf den Mund gedrückt und sie hinterrücks von unserer Gesellschaft weggezerrt. Sie biss ihn geistesgegenwärtig in die Hand, er lockerte seinen Griff, und es begann die Rauferei, die wir sahen. Leider haben wir ihn nicht schnappen können. Das Licht ist schlecht, und wir rannten mitten hinein in eine andere Beerdigungsgesellschaft. In dem sich anschließenden Durcheinander konnte er unerkannt entwischen.«

Ben wandte sich an Victorine, die immer noch an den Grabstein gelehnt am Boden saß. »Allerdings glaube ich, dass Sie sehr genau wissen, wer er ist, Madame. Es war Hector Mas, nicht wahr? Was hatte er vor? Wollte er Ihren Anspruch auf das Erbe vielleicht dadurch bekräftigen, dass er die andere Haupterbin aus der Gleichung entfernt?«

Victorine hatte ihre Fassung zurückgewonnen. Sie streckte eine Hand nach ihrer Perücke aus, setzte sie sich behutsam auf und drehte sich zu mir um. »Sitzt sie gerade?«, wollte sie wissen.

»Ja. Absolut gerade«, hörte ich mich sagen.

»Sie sprechen sehr gut Französisch«, sagte sie.

Ben stieß ein ungeduldiges Schnaufen aus. »So kommen Sie nicht davon, Madame! Sie werden nicht die Unschuld vom Lande spielen, als wäre nichts geschehen! Sie stehen unter Arrest. Sie haben zusammen mit Ihrem Komplizen Hector Mas versucht, Flora Tapley zu entführen, in der Absicht, ihr schweren Schaden zuzufügen. Außerdem stehen Sie im Verdacht der Verschwörung zum Mord an den Herren Thomas Tapley und Horatio Jenkins.«

»Monsieur Mas ist nach Frankreich zurückgekehrt«, sagte sie kalt. »Ich weiß nicht, wer dieser Mann war, der vor Ihnen weggelaufen ist. Wahrscheinlich irgendein dahergelaufener Tramp, der uns bestehlen wollte. Zu behaupten, ich hätte geplant, meinen armen Mann zu töten, ist durch und durch unwürdig! Es ist an den Haaren herbeigezogen! Selbstverständlich habe ich das nicht getan! Und was Jenkins angeht«, fuhr sie fort. »Jeder könnte ihn umgebracht haben!«

»Darüber unterhalten wir uns im Yard ausführlicher, Madame.«

Der weitere Verlauf hatte etwas Absurdes, denn der Beerdigungsgesellschaft blieb nichts anderes übrig, als mit dem Sonderzug nach London zurückzukehren, alle zusammen im gleichen Wagon wie schon auf dem Hinweg. Mit dem einzigen Unterschied, dass Victorine Tapley diesmal zwischen Ben und Superintendent Dunn saß und niemand in ihre Richtung sah mit Ausnahme des dicken John Bull. Hin und wieder stieß er ein leises »Beim Jupiter!« aus. Er schien hocherfreut, dass er eine Mordgeschichte zu erzählen hatte, wenn er wieder zu Hause war.

Am Bahnhof trennten sich unsere Wege. Ben, der Superintendent und Victorine stiegen in eine Kutsche und fuhren zum Yard. Die Tapleys stiegen in ihre eigene Kutsche mit den goldenen Pferden, andere nahmen ebenfalls eine Droschke, und Mrs. Jameson und ich gingen das relativ kurze Stück bis in unsere Straße zu Fuß. Vor ihrer Haustür verabschiedeten wir uns.

»Es ist wirklich eine merkwürdige Sache, Mrs. Ross«, sagte die Witwe Jameson. Es war die erste Bemerkung zu den Ereignissen auf dem Friedhof, die ich von irgendjemandem hörte (mit Ausnahme der »Beim Jupiter!»-Rufe des dicken Gentlemans in Reithosen und Gamaschen während der Rückfahrt).

»Das ist wahr«, sagte ich. »Und wir kennen noch längst nicht die ganze Geschichte.«

»In der Tat. In der Tat.« Sie schwieg für einen Moment. »Ist es wirklich möglich, dass diese französische Person mit diesem ungewöhnlichen Federhut die Witwe des armen Mr. Tapley ist?«, fragte sie schließlich.

»Es scheint zumindest so«, antwortete ich.

»Und dieser schicke Gentleman in dem prächtigen Mantel ist der Cousin von Mr. Tapley?«

»Ja, Mrs. Jameson, das ist er.«

»Hmmm«, sagte Mrs. Jameson. »Das ist alles sehr verwirrend, und ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Gute Nacht, Mrs. Ross. Ich bin wirklich froh, dass ich heute Ihre Gesellschaft hatte.«

Mit diesen Worten ging sie ins Haus, und ich setzte meinen Weg zu unserem eigenen Haus fort, wo Bessie wie auf glühenden Kohlen saß und darauf wartete, dass ich ihr von der Beerdigung erzählte. Und was ich zu erzählen hatte! Eine ganze Menge mehr, als sie für möglich gehalten hätte.