KAPITEL FÜNF
Der Morgen brach bereits an, als ich mich endlich auf den Weg nach Hause machte. Ich mag diese Tageszeit, und obwohl ich müde war und der neue Fall mich beschäftigte, atmete ich in tiefen Zügen die noch vergleichsweise frische und saubere Morgenluft ein. Die ersten Arbeiter waren unterwegs zu den Fabriken und wichen den Pfützen aus, die sich vom nächtlichen Regen auf den kopfsteingepflasterten Straßen gebildet hatten. Aus den Schornsteinen quoll der erste Rauch, als Hausfrauen oder verschlafene Dienstmädchen den Herd befeuerten. Ich malte mir aus, dass das Kommen und Gehen in Mrs. Jamesons Haus in der vergangenen Nacht das vorrangige Gesprächsthema am Frühstückstisch sein würde.
Bisher war kein Geräusch aus unserer Küche zu hören, und das Feuer im Salon war längst ausgegangen. Doch der Raum war noch warm, und ich ließ mich im Sessel vor dem Kamin nieder und schlief ein.
Ich wurde geweckt von Bewegungen und dem Klang einer Stimme. Ich öffnete die Augen und erblickte Lizzie, die mit einer Tasse Tee in der Hand über mir stand. Ich warf einen Blick auf unsere Uhr und stellte fest, dass ich gerade anderthalb Stunden geschlafen hatte. Aus der Küche waren Bessie und Jenny zu hören, die das Frühstück zubereiteten.
»Mrs. Jameson kommt gleich nach unten«, informierte mich Lizzie. »Ich hoffe, die arme Frau hat ein wenig Schlaf gefunden. Ich für meinen Teil habe geschlafen wie ein Stein«, fügte sie unumwunden hinzu. »Ich bitte eines der Mädchen, eine Kanne mit heißem Wasser nach oben zu bringen, damit du dich rasieren kannst.«
Als ich wenig später rasiert und in ein neues Hemd gekleidet nach unten kam, saßen Mrs. Jameson und Lizzie bereits am Frühstückstisch. Ich fragte unseren Gast, wie er geschlafen hatte.
»Nicht gut, Mr. Ross, obwohl das Bett sehr bequem war und ich Ihnen und Ihrer Gattin überaus dankbar bin für Ihre Güte. Doch ich werde mich Ihnen keine zweite Nacht aufdrängen. Das Türschloss hat mich die ganze Zeit beschäftigt. Ich kenne einen Schlosser, und ich denke, er wird unverzüglich kommen. Ich muss umgehend nach Hause zurück. Ich möchte nicht, dass das Haus leer steht. Denken Sie nur, wenn jemand den Schlüssel genommen hat, ist er möglicherweise zurückgekehrt und mit sämtlichen Wertgegenständen, die er finden konnte, auf und davon.«
»Constable Butcher hat die Nacht über aufgepasst«, versicherte ich ihr, doch sie schien wenig überzeugt.
Bevor sie und Jenny uns verließen, bat ich die beiden Frauen in den Salon und befragte sie ein weiteres Mal. Ich fing mit Jenny an, da ich noch nicht ausführlicher mit ihr gesprochen und sie den Toten gefunden hatte. Ich befürchtete, sie könnte wieder anfangen, sich zu winden und zu heulen, doch unter den Augen ihrer Herrschaft riss sie sich halbwegs zusammen. Biddle hielt sie für ein hübsches Ding, und ich war geneigt, ihm zuzustimmen. Sie hatte einen rosigen Teint von der Sorte, die man normalerweise mit Milchmädchen in Verbindung bringt, große blaue Augen und kupferrotes Haar. Ich fragte mich erneut, ob es mögliche Verehrer gab. Ein hübsches Mädchen wie sie hatte doch sicherlich einen Liebsten? Vielleicht in ihrem Heimatort Chatham? Vielleicht war er die Hintertreppe hochgeschlichen und hatte den ahnungslosen Tapley erschlagen.
»Deine Herrin hat dir also aufgetragen nachzusehen, warum Mr. Tapley nicht zum Abendessen nach unten kam. Erzähl mir bitte genau, was du gemacht und was du gesehen oder gehört hast.«
»Ich habe nur an die Tür geklopft und seinen Namen gerufen, Sir. Ich habe vorher weder etwas Auffälliges gesehen noch etwas gehört. Ehrlich, Sir, ich habe an diesem Tag niemanden hereingelassen. Vielleicht ist jemand durch die Hintertür reingekommen, als ich nicht in der Küche war und auch auf dem gleichen Weg raus, aber es wäre schon sehr riskant für ihn gewesen, Sir, wo ich oder Mrs. Jameson jederzeit hätten reinkommen können. Er war ganz gerissen, wenn es so war.« Ihre großen blauen Augen sahen mich unschuldig an.
Ich war diesem Blick mehr als einmal begegnet, und oft genug waren es abgebrühte Kriminelle gewesen, die mich so angesehen hatten, weswegen ich mich davon wenig beeindruckt zeigte. Doch um ehrlich zu sein, erschien sie mir wie ein Mädchen, dass sein Herz auf der Zunge trug, und nicht wie eine Betrügerin. Auch lag es mir fern, sie zu verängstigen. Schuldig oder nicht, wenn man ihnen das Gefühl gibt, ihnen zu glauben, so entspannen sie sich und achten weniger auf das, was sie sagen.
»Sicher, sicher, Jenny. Mach da weiter, wo du an die Tür geklopft hast.«
»Er antwortete nicht, Sir, und ich dachte mir, er wär vielleicht in seinem Sessel eingedöst, er ist ja schon älter und alles. Ich hab es schon das ein oder andere Mal bei ihm erlebt. Ich öffnete also die Tür und sah rein, weil ich dachte, ich müsste ihn wecken. Und da … du heiliges Kanonenrohr!« Jenny unterbrach sich erschrocken und sah ihre Arbeitgeberin flehend an. »Bitte entschuldigen Sie, Missus, es ist mir einfach rausgerutscht. Ich wollte sagen, du heiliger Bimbam …«
Sogar Mrs. Jameson musste angesichts dieser hastigen »Verschlimmbesserung« schmunzeln.
Jenny fuhr fort. »Jedenfalls, er lag auf dem Teppich, der Schädel eingeschlagen, und alles war voller Blut. So was hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Noch nie. Mein Papa arbeitet im Hafen von Chatham. Manchmal passieren dort Unfälle, wo die Männer übel zerschunden werden, aber ich wette, der Anblick ist auch nicht schlimmer als der, den ich gesehen hab. Ich hoffe, dass ich so was Schreckliches nicht noch mal sehen muss, nein, im Leben nicht mehr!«
Als junger Mann hatte ich in meiner Heimat Derbyshire in den Minen gearbeitet. Auch ich hatte übel zerschundene Leiber gesehen. Und auch ich war schockiert gewesen, einen so malträtierten Leichnam in einem Privathaus zu finden. Jennys entsetzter Auftritt am Vortag war entschuldbar.
Wie dem auch sei, sie beharrte fest darauf, dass es im Verlauf des Tages keinerlei Besuche oder Aufwartungen gegeben hatte. Die Hintertür war wie üblich unversperrt gewesen, da sie häufig in den Hof musste. Es war ihr ein Rätsel, wie jemand an ihr vorbei ins Haus geschlüpft sein konnte.
»Es war ein niederträchtiger Dieb auf leisen Sohlen, Sir, das war er. Der arme Mr. Tapley hat ihn gestört, und der brutale Kerl hat dem armen alten Mann den Schädel eingeschlagen.«
Jenny konnte Recht haben, trotzdem war ich anderer Meinung. Die Art und Weise, wie Tapley ausgestreckt dagelegen hatte, ließ mich darauf schließen, dass der Mörder ihn überrascht hatte und nicht andersherum. Doch für den Augenblick beließ ich es dabei und sagte ihr, dass sie zurück zu Bessie in unsere Küche gehen durfte, während ich mich mit ihrer Herrin unterhielt.
Jenny erhob sich. Sie beteuerte immer wieder, dass es nicht ihre Schuld war, wenn sich jemand Zugang zum Haus verschafft hatte. Sie hatte viel Arbeit. Man konnte nicht von ihr verlangen, dass sie Augen im Hinterkopf hatte. Ich verwarf meine – ohnehin schwache – Hypothese, ein Verehrer von Jenny könnte für die grausame Tat verantwortlich sein. Das Mädchen mochte eine lebhafte Phantasie haben und zu Hysterie neigen – ich würde ihren Auftritt in unserer Küche nicht so schnell vergessen –, doch für so etwas war sie nicht verschlagen genug.
Als Jenny gegangen war, wandte ich mich der Witwe zu. Ihre Geschichte entsprach im Wesentlichen der Darstellung, die sie Lizzie gegenüber am Vorabend abgegeben hatte. Erneut war ich beeindruckt, wie leicht es Tapley gelungen war, sich einen Platz in ihrem kleinen Haushalt zu ergattern. Sie bemerkte es und äußerte sich reuevoll.
»Ich kann Jenny wirklich keinen Vorwurf machen, falls sich jemand ins Haus geschlichen haben sollte, wo ich doch selber Mr. Tapley so ganz ohne ordentliche Referenzen aufgenommen habe. Ich wünschte, ich hätte eine Erklärung dafür. Er war so eine angenehme, harmlos wirkende Person.«
Derlei »harmlose« Charaktere waren mir nicht unbekannt. »Mrs. Jameson, bitte seien Sie offen, hat Mr. Tapley Sie irgendwann einmal ersucht, ihm Geld zu leihen?«, lautete denn auch meine nächste Frage.
»O nein, Inspector!« Sie sah mich fassungslos an. »Selbstverständlich nicht! Er hat seine Miete stets pünktlich bezahlt und nie um einen Mietaufschub gebeten, um das Geld aufzutreiben.«
»Ich glaube nicht, dass er ein Hochstapler war, was, wie ich glaube, die Bezeichnung für derlei Leute ist«, fügte sie überraschend hinzu.
Lizzie hatte Recht. Mrs. Jameson war eine durch und durch vernünftige Person und in keinerlei Hinsicht naiv. Es war unklug von ihr gewesen, an Tapley zu vermieten, doch zum damaligen Zeitpunkt hatte es vermutlich keinen Grund gegeben, der dagegen gesprochen hatte. Verdächtigte ich Tapley zu unrecht?
Ich begleitete sie zu ihrem Haus zurück, und Jenny folgte uns trübsinnig. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis sie sich unter Verwendung ihrer Quäker-Referenzen auf die Suche nach einer neuen Anstellung machte. Bevor ich die beiden Frauen verließ, wies ich sie darauf hin, dass weder sie noch sonst jemand eines der an Tapley vermieteten Zimmer betreten durften. Bis die Polizei ihre Erlaubnis dazu gab, durfte nichts verändert werden.
»Ich werde wohl später noch einmal wiederkommen und einen Kollegen mitbringen«, sagte ich zu den beiden. »Wir müssen die Räume noch einmal gründlich bei Tageslicht durchsuchen.«
Die Zimmer erneut zu durchsuchen war alles, was wir für den Augenblick tun konnten. Abgesehen davon würde ich dafür sorgen, dass die Nachricht von dem Mord die Spätausgaben und Abendzeitungen erreichte. Mit ein wenig Glück meldete sich jemand, der Informationen hatte oder wenigstens die Identität unseres Mannes kannte. Wir konnten jedes kleinste bisschen Glück brauchen.
Als ich an diesem Morgen zum Yard kam, wurde ich bereits von Morris erwartet. Superintendent Dunn hatte ihn über den Fall in Kenntnis gesetzt und aufgefordert, dass er mir bei den Ermittlungen helfen sollte. Gott sei Dank dafür, dachte ich bei mir. Auf meinem Schreibtisch fand ich außerdem Biddles fein säuberlich ausformulierten Bericht.
»Schön«, sagte ich zu Morris. »Dieser Junge wird noch einmal ein guter Ermittler! Haben Sie das gelesen, Morris?«
»Das habe ich, Mr. Ross«, erwiderte Morris düster. »Und ich habe den Eindruck, dass es eine ganz böse Geschichte ist, äußerst unvorteilhaft, wie Sie es nennen würden.«
»Das kann man wohl sagen, Sergeant. Es gibt eine Menge Ungereimtheiten bezüglich des Verstorbenen. Darunter die Frage, wie es ihm immer wieder gelungen war, respektable Frauen so zu beschwatzen, dass sie ihm nicht nur Zimmer vermieteten, sondern im Fall der Witwe Jameson darüber hinaus sogar einen Haustürschlüssel anvertrauten, der ihm jederzeit freien Zugang verschaffte, und das mit nichts anderem als einem Empfehlungsschreiben seiner vorherigen Vermieterin. Er machte einen heruntergekommenen Eindruck. Er war eloquent, gebildet und wohlerzogen, doch er erschien quasi aus dem Nichts, auf eine Anzeige hin, die Mrs. Jameson nach eigener Aussage in der lokalen Presse aufgegeben hatte. Das könnte bedeuten, dass er bereits in der Nähe gewohnt hat – oder auch nicht!«
»Klingt nach einem Schmeichler, wenn Sie mich fragen, Sir«, stellte Morris fest.
»Wir können nicht sagen, ob er Ire, Waliser, Schotte oder Engländer war. Dieser respektablen Quäker-Witwe hat er erzählt, er hätte das Bedürfnis verspürt, nach London zurückzukehren, wo er früher viele Jahre gelebt hat. Das war alles, was er gesagt hat. Sie hat ihm ihr Vertrauen geschenkt. Doch das bedeutet nicht, dass wir ihm ebenso vertrauen sollten. Das umfasst auch seine scheinbar geregelten Verhältnisse. Er hat zu keiner Zeit versucht, sich Geld von ihr zu borgen, und hat auch nie um einen Zahlungsaufschub gebeten. Er hat ziemlich viel Geld in Bücher investiert, auch wenn die meisten davon aus zweiter Hand zu sein scheinen. Er ging jeden Morgen in ein Kaffeehaus frühstücken, obwohl seine Vermieterin ihm sicherlich gerne und ohne Aufpreis das Frühstück in ihrem Haus serviert hätte. Als Grund gab er an, dass er gerne die Zeitungen las. Abends aß er mit ihr zusammen.«
»Worüber haben sie sich beim Essen unterhalten?«, fragte Morris.
Wer Morris nicht kannte, neigte manchmal dazu, ihn zu unterschätzen. Das war ein Fehler, den schon viele Übeltäter bereut haben.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Doch Sie haben Recht! Wenn er nichts über sich erzählt hat, worüber hat er dann geredet? Über Religion wohl nicht. Die Witwe ist zwar eine Quäkerin, doch in Tapleys Zimmern war keine Bibel zu finden und auch kein Gebetsbuch. Wir müssen sie fragen, Morris.«
»Eine Quäkerin, sagen Sie? Quäker neigen dazu, immer nur das Gute in einem Menschen zu sehen.«
»Die Witwe ist nicht blauäugig, Morris. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie besitzt einen wachen Verstand. Das macht es umso bemerkenswerter, dass sie Tapley die beiden Zimmer vermietet hat.«
»Was ich damit sagen wollte, Sir«, erklärte Morris, »ist, dass sie selbst gute Menschen sind und dass sie stolz darauf sind, das Gute auch in anderen zu sehen – obwohl Stolz in ihren Augen eigentlich eine Sünde ist. Vielleicht hat diese Quäker-Witwe ihm vertraut, weil sie etwas in ihm gesehen hat, was andere nicht finden konnten.«
»Hm. Also gut. Ich behalte Ihre Vermutung im Hinterkopf, Morris. Aber jetzt muss ich zu Superintendent Dunn und mir anhören, was er zu der Sache sagt.«
Dunns Sicht der Dinge war vorhersehbar. Ich musste Sie nicht erst aus seinem Mund hören. Der Superintendent hielt den direkten Weg stets für den richtigen. Manchmal erwies es sich als schwierig, ihn von Schlussfolgerungen, zu denen er gelangt war, wieder abzubringen.
»Zugegeben, es ist eine hässliche Angelegenheit, wenn ein achtbarer Mann in einem respektablen Haus ermordet wird, kurz bevor der Braten auf den Tisch kommt, mit einer Bibellesenden Lady, die unten im Salon wartet. Aus Sicht der Polizei hingegen ist die Sache ganz einfach, Ross. Ein Dieb hat sich Zugang verschafft, Tapley hat ihn aufgescheucht – oder er hat sich erschreckt, als er den lesenden Tapley vorfand. Der Täter geriet in Panik und schlug mit einem Gegenstand zu, den er zur Ausübung seines kriminellen Handwerks bei sich trug. Dabei hat er den armen alten Mann getötet«, beendete Dunn seine Ausführungen und setzte eine zufriedene Miene auf. Doch wir kannten einander gut genug, und so wartete er auf meine Einwände.
»Es gab keine Anzeichen für einen Einbruch, Sir«, widersprach ich. »Keine eingeschlagene Scheibe.«
Dunn wischte den Einwand beiseite. »Dann ist er durch die Küche hereingeschlichen, als das Dienstmädchen ihm den Rücken zugewandt hat. Er ist die Dienstbotenstiege hinauf …«, Dunn klopfte auf meine Skizze vom ersten Obergeschoss. »Er hat die Wendeltreppe benutzt, um in den ersten Stock zu kommen. Nach seinem verabscheuenswürdigen Angriff ist er auf dem gleichen Weg wieder verschwunden. Wir müssen unter den einschlägigen Londoner Kriminellen suchen, Ross! Erste Anlaufstelle: bekannte Einbrecher.«
»Warum sollte er Tapley angreifen, wenn der völlig in sein Buch vertieft ist und nicht mitbekommt, wie sich hinter ihm die Tür öffnet, Sir? Es wäre unnötig und gelinde gesagt eine Tollheit. Es ist eine Sache, wegen Einbruchs angeklagt zu werden, aber eine völlig andere, wegen Mordes vor Gericht zu stehen. Heutzutage wird in diesem Land niemand mehr wegen Diebstahl gehängt, doch sehr wohl wegen Mord.«
»Einbrecher sind keine besonders hellen Mitbürger, Ross. Sie planen ihren Einbruch und sonst nichts. Alles andere ist eine Folge ihrer niederen, gewalttätigen Instinkte.« Dunn nickte bekräftigend zu seinen eigenen Worten.
Ich war nicht bereit aufzugeben. »Gewohnheitsmäßige Einbrecher agieren nachts oder im Morgengrauen, wenn sämtliche Bewohner schlafen, Sir. Ein Gelegenheitsdieb hingegen würde nicht ins erste Obergeschoss steigen, wo er möglicherweise in die Enge getrieben wird. Er lässt eine auf dem Tisch vergessene Geldbörse mitgehen, die linker Hand auf einem Tisch liegt, ein kleines wertvolles Schmuckstück, etwas in der Art, und macht sich auf dem schnellsten Wege wieder davon.«
Dunn machte einen zunehmend verärgerten Eindruck. »Sie wollen also behaupten, der Täter hat das Haus einzig und allein in der Absicht betreten, diesen unbescholtenen sechzigjährigen Mann umzubringen, der seine Tage im Kaffeehaus und seine Abende mit Büchern verbrachte? Der allem Anschein nach über ein kleines Einkommen verfügte, das ihn davor bewahrte, seine goldene Uhr zu verkaufen oder zu verpfänden, jedoch auf der anderen Seite nicht ausreichte, um sich eine neue Garderobe zuzulegen, geschweige denn, dass es wert gewesen wäre, ihn auszurauben?«
»Es hört sich merkwürdig an, Sir«, gab ich zu. »Trotzdem müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen. Das Opfer, Thomas Tapley, ist eine mysteriöse Person. Wir wissen nichts über ihn, genauso wenig wie seine Vermieterin.«
Dunn seufzte und gab missmutig nach. »Selbstverständlich werden Sie ermitteln und herausfinden, ob es tatsächlich vorsätzlicher Mord war. Ich stimme Ihnen zu, es ist eine seltsame Geschichte. Aber verschwenden Sie keine Zeit und Arbeitskraft, um nach Problemen zu suchen, wo keine sind, Ross. Hier am Scotland Yard fehlt es uns an beidem.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Sir.«
»Diese Frau, diese Witwe, hätte nicht an ihn vermieten sollen«, fuhr der Superintendent verärgert fort und fuhr sich mit den Händen durch die widerborstigen Haare. »Das war sehr unklug von ihr. Es musste früher oder später Ärger geben, vielleicht nicht gerade einen Mord, aber irgendein anderes Problem. Sie wusste rein gar nichts über den Kerl! Was um alles auf der Welt hat sie nur bewogen, ihn bei sich aufzunehmen?«
»Sergeant Morris denkt, dass sie möglicherweise einen guten Menschen in ihm sah«, warf ich ein.
Dunn schnaubte. »Ich wünschte, ich bekäme jedes Mal eine Guinee, wenn eine betrogene Frau mir das erzählt! Das ist die Standardentschuldigung, nachdem der Mann entweder alles Geld durchgebracht hat, mit dem Kindermädchen durchgebrannt ist oder sich herausgestellt hat, dass er ein elender Bigamist ist. Ihre Witwe war offensichtlich nicht die erste Frau, die er auf diese Weise um den Finger gewickelt hat«, polterte Dunn weiter. »Schließlich hat er ihr ein Empfehlungsschreiben seiner vorherigen Wirtin gezeigt … Wo war das noch gleich?«
»Southampton, Sir.«
»Eine Hafenstadt …«, stellte Dunn nachdenklich fest. »Gibt es dort nicht regelmäßige Fährverbindungen nach Frankreich?«
»Ich habe mich auch schon gefragt, ob das etwas zu bedeuten hat, Sir. Möglicherweise ist er erst vor kurzer Zeit wieder angekommen, nachdem er einige Jahre außer Landes gelebt hat. Das würde auch erklären, warum er keine anderen Referenzen vorlegen konnte.«
»Mag sein, dass er im Ausland war oder aber im Gefängnis oder in der Irrenanstalt. Liegt uns dieses Empfehlungsschreiben vor?« Dunn sah mich eindringlich an.
»Bis jetzt haben wir leider gar nichts, Sir. Das schließt den Haustürschlüssel mit ein – und es sieht zunehmend danach aus, als hätte der Täter ihn an sich genommen. Sollte das der Fall sein, so wird es ihm nichts mehr nützen. Mrs. Jameson ruft noch heute Morgen einen Schlosser. Es würde darauf hindeuten, dass der Täter vorhatte zurückzukehren, und daraus folgt, dass irgendetwas in Tapleys Wohnung für ihn von Interesse ist. Das gilt es zu finden. Doch solange wir nicht wissen, um was es sich handelt, haben wir ein Problem.«
»Tapley hat das Empfehlungsschreiben seiner früheren Wirtin sicherlich aufbewahrt«, grübelte Dunn. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Fenster. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und wippte auf den Fußballen, während er nach draußen sah. Seine glänzenden, glatten Stiefel sahen neu aus. Abwesend fragte ich mich, ob sie wohl drückten.
Der Superintendent wirbelte herum und fixierte mich aus kleinen, stechenden Augen. »Finden Sie diesen Brief, Ross! Es war die einzige wirkliche Empfehlung, die der Kerl hatte. Wenn er je vorgehabt haben sollte, sich eine neue Bleibe zu suchen, wäre er wieder darauf angewiesen gewesen. Er hat den Brief aufgehoben, merken Sie sich meine Worte. Wir müssen seine frühere Wirtin in Hampshire ausfindig machen. Sie ist möglicherweise unsere einzige Spur.«
»Ich werde nachher ohnehin noch mal mit Morris zum Haus der Witwe Jameson fahren, Sir, und mit ihm die beiden Zimmer gründlich durchsuchen«, antwortete ich. »Bevor wir aufbrechen, sorge ich dafür, dass der Bericht über den Mord in den Abendzeitungen erscheint. Der Presse werde ich erzählen, dass wir versuchen, die Identität des Toten zu klären, und dass er möglicherweise kurzzeitig in Southampton gelebt hat. Vielleicht erweckt das Aufmerksamkeit. Wenn es uns gelingt, das Kaffeehaus ausfindig zu machen, das er üblicherweise aufgesucht hat, finden wir vielleicht jemanden, mit dem er offener geredet hat. Ich setze Biddle darauf an, sobald er sich im Dienst meldet. Der Junge hat in der letzten Nacht einen guten Job gemacht, Sir!«
Dunn blickte mich von der Seite aus unergründlichen grauen Augen an. »Die Erfahrung sagt mir, Ross, dass dieser nette alte Gentleman, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, vor irgendjemandem oder irgendetwas auf der Flucht war!«
Es war nicht das erste Mal, dass Dunn seinen ursprünglichen Standpunkt aufgab und zu einem anderen wechselte. Das Tempo, mit dem er diesmal seine Meinung geändert hatte, wirkte allerdings beunruhigend. Statt nach einem polizeibekannten Einbrecher zu suchen, war ich nun auf der Jagd nach Tapleys Vergangenheit und nach einem Mordmotiv. Als Nächstes würde Dunn womöglich noch behaupten, dass dies von Anfang an seine Idee gewesen war.
»Jawohl, Sir«, antwortete ich.
Ich schickte einen Mann in die Zeitungsredaktionen, der dafür sorgen sollte, dass der Mord in die Spätausgaben kam. Dann begab ich mich mit Morris zum Haus der Witwe Jameson, wo wir den Schlosser bei der Arbeit vorfanden. Mrs. Jameson überwachte ihn dabei. Sie machte einen durchaus begründeten unzufriedenen Eindruck, da der Ausbau des alten Schlosses ein unansehnliches Loch rings um den neu angepassten Ersatz hinterlassen hatte. Als Nächstes würde sie, so vermutete ich, einen Tischler ins Haus bestellen.
Ich erklärte der Witwe, dass es äußerst hilfreich wäre, wenn sie gleich nach beendigter Arbeit für ein paar Stunden zu meiner Frau ginge – oder einer anderen Bekannten –, sodass wir das Haus in Ruhe durchsuchen konnten.
»Es ist besser, wenn Sie nicht dabei sind, Ma’am«, sagte ich zu ihr. »Es verschafft uns freie Hand bei der Durchsuchung der beiden Zimmer des Toten. Es würde Sie möglicherweise zu sehr aufregen. Doch ich bin froh, dass wir uns noch kurz unterhalten können. Hat Tapley bei den gemeinsamen Mahlzeiten viel von sich erzählt?«
Widerstrebend wandte Mrs. Jameson den Blick vom Schlosser ab und sah mich an. »Oh, nun ja, das hat er nicht, Inspector. Da Sie es erwähnen, muss ich gestehen, dass er so gut wie gar nichts gesagt hat. Es lag mir natürlich auch fern zu bohren.«
»Natürlich. Wenn ich fragen darf, worüber haben Sie sich unterhalten?«
Sie blickte vage die Straße hinauf und hinunter, als gäbe es dort etwas, das ihre Erinnerung auffrischen könnte. »Er las die Zeitung, jeden Tag ohne Ausnahme. Er muss sie im Kaffeehaus gelesen haben oder in einer Bücherei, da er niemals eine mit nach Hause brachte. Es wäre mir oder Jenny aufgefallen. Sehen Sie, Inspector, ich erlaube keine Zeitungen in meinem Haus. Zeitungen sind voll mit allerlei unanständigen Berichten über Leute, die sich auf jede erdenkliche Art und Weise danebenbenehmen. Ich würde nicht wollen, dass ein junger Mensch wie Jenny eine Zeitung findet und darin liest. Einen jungen Menschen im Haus zu haben bedeutet eine große Verantwortung, Inspector. Sie machen vermutlich die gleiche Erfahrung mit Ihrer Magd.«
Sie kannte Bessie nicht. Die Zeitungen aus unserem Haushalt zu verbannen hätte Bessie nicht davon abgehalten, den neuesten Tratsch zu hören, insbesondere die schockierenden Nachrichten. Dienstmädchen unterhielten eine Art eigenes Telegraphensystem, in dem sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer verbreiteten. Ohne Frage erhielt auch Jenny auf diese Art Informationen. Morris hatte Recht. Die Witwe hatte eine etwas unbedarfte Sicht auf die Welt. Jenny war um einiges wacher, was die Tücken des Lebens anging. Ich verwarf meine ohnehin nicht besonders wahrscheinliche Theorie, ein Verehrer Jennys könnte für den brutalen Mord verantwortlich sein.
»Abends kam er zum Essen nach unten und berichtete mir von jedem aktuellen Ereignis, von dem er meinte, es könnte mich interessieren«, sagte Mrs. Jameson. »Vermutlich hätte ich nie erfahren, was in der Welt passiert, wenn der arme Mr. Tapley es mir nicht erzählt hätte. Womit ich nicht sagen möchte, dass er mir die grausigen Einzelheiten von irgendwelchen schrecklichen Morden erzählt hat …«
Sie brach ab und sah mich untröstlich an. »Ach du meine Güte … jetzt wird die Presse über seine Ermordung berichten.«
»Hat er Ihnen gegenüber auch von internationalen Angelegenheiten gesprochen? Oder über die Innenpolitik?« Ich versuchte beruhigend zu klingen. »Natürlich hat er von keinem Skandal berichtet.«
»Ja, genau, das tat er! Tatsächlich ist mir durch ihn bewusst geworden, wie unglaublich ignorant ich mich seit dem Tod des armen Ernest verhalten habe. Mr. Tapley wird mir fehlen.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schlosser zu. »Sind Sie fertig?«
Ich dachte zuerst, ihre Äußerung würde sich darauf beziehen, ob ich mit der Befragung fertig war, doch dann erkannte ich, dass die Frage dem Schlosser galt.
»Jawohl, Ma’am«, antwortete er. Es klang erleichtert.
»Dann dürfen Sie gehen. Ich komme vorbei, um die Rechnung bei Ihrem Arbeitgeber zu begleichen.«
Der Schlosser, ein kräftiger Bursche mit kurz geschorenen Haaren, packte sein Werkzeug zusammen und hob einen kleinen, schwer aussehenden Stoffsack auf.
»Warten Sie!«, rief ich und zeigte auf den Sack. »Ist dies das alte Schloss?«
»Das ist richtig, Sir … die Lady möchte es nicht. Mr. Pickles hat möglicherweise Verwendung dafür.«
»Er arbeitet für Mr. Pickles«, erklärte die Witwe. »Mr. Pickles ist ein Mitglied unserer Gesellschaft.«
»Gesellschaft?«, fragte ich.
»Die Religiöse Gesellschaft der Freunde. Er ist ein Mitglied unserer Quäkergemeinde.«
Ich nickte als Zeichen, dass ich verstanden hatte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, so würde ich gerne das Schloss bis auf Weiteres an mich nehmen. Ich stelle Ihnen eine Quittung aus.«
Sowohl Mrs. Jameson als auch der Schlosser blickten überrascht drein. »Was wollen Sie damit?«, fragte der Schlossergeselle.
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete ich. »Doch dieses Haus war vergangene Nacht Schauplatz eines Mordes, und das Schloss war zum fraglichen Zeitpunkt Teil des Hauses. Wir wissen noch nicht genau, wie der Mörder ins Haus gekommen ist. Wir müssen dieses Schloss untersuchen.«
»Dieses Schloss hat er nicht geknackt«, sagte der Schlosser und hielt den Sack hoch. »Dieses Schloss ist ein Bramah. Das kriegt man nur mit einem passenden Schlüssel auf. Es ist das Beste, was man kaufen kann, das wird Ihnen jeder in diesem Handwerk bestätigen.«
»Tatsächlich?«, hakte ich nach.
»Ja, tatsächlich«, erwiderte der Schlosser. »Vor ein paar Jahren hat mal einer eins geknackt, oder zumindest wollte er, aber er hat Stunden über Stunden gebraucht. Und niemand hat es gesehen. Es war ein Spezialschloss, das die Firma in einem Schaufenster ausgestellt hatte. Sie hatten demjenigen zweihundert Pfund Belohnung versprochen, dem es gelang, es zu knacken. Da sehen Sie, was der Firma das Goldstück wert war. Dieser Kerl also hat sich daran versucht, und nach einer Ewigkeit hat er es endlich auf. Aber niemand war dabei, he? Deshalb weiß auch niemand, wie er es gemacht hat. Vielleicht hat er es geknackt, vielleicht aber auch nicht. Ich für meinen Teil kenn mich aus mit Schlössern, und ich könnt ein solches Schloss, wie ich es aus der Haustür der Lady ausgebaut hab, nicht aufbringen«, fügte der Schlosser hinzu.
»Nun lassen Sie es einfach da«, ordnete Mrs. Jameson an und unterbrach damit den Strom an Informationen, den ich eigentlich recht interessant fand.
Der Schlosser zuckte die Schultern, stellte den Sack mit dem alten Schloss auf den Boden und trottete davon. Ich kritzelte eine Quittung und händigte sie der Witwe aus. »Das ist doch nicht nötig«, murmelte sie.
»Die Dienstvorschrift verlangt, Ma’am, dass ich Ihnen eine Quittung ausstelle, sobald ich etwas vom Tatort an mich nehme.«
Mrs. Jameson hielt große Stücke auf Vorschriften. Sie sagte, sie wolle den Tag bei einer Freundin verbringen, die ebenfalls der Quäkergemeinde angehörte. Im Austausch gegen die Quittung über das alte Schloss gab sie mir einen Zettel mit der Adresse ihrer Freundin. Ich dankte ihr für ihre Hilfe und ihre Geduld. Dann brach die Witwe mit Jenny im Gefolge auf.
Im Vorbeigehen flüsterte mir Jenny zu: »Ich bin froh, dass wir den Tag woanders verbringen, Sir. Ich fühl mich nicht mehr wohl in diesem Haus. Ich krieg regelrecht Gänsehaut. Bei jedem kleinen Geräusch springe ich auf. Ich weiß nicht, wie ich dort jemals wieder ein Auge zutun soll. Ich kann nicht mal meiner Arbeit nachgehen, ohne alle zwei Minuten über die Schulter zu schauen.«
Wie ich bereits vermutet hatte, würde sich Jenny wohl bald mit ihren Quäker-Referenzen im Gepäck eine neue Anstellung suchen.
»Solltest du in den nächsten Wochen von hier fortgehen, musst du uns deine neue Anschrift mitteilen«, informierte ich sie. »Möglicherweise brauchen wir dich noch.«
»Warum denn das?«, empörte sich Jenny.
»Es ist Vorschrift«, versicherte ich ihr.
»Wenn ich eine neue Stelle habe, wird meine neue Missus wenig begeistert sein, wenn ich meine Arbeit antrete und im selben Moment die Polizei in der Tür steht!«, protestierte Jenny völlig zu Recht.
»Dann schlage ich vor, du bleibst hier, bis wir unsere Ermittlungen abgeschlossen haben.«
Jenny verdrehte die Augen. In diesem Moment rief die Witwe nach ihr, und sie eilte ohne ein weiteres Wort davon.
»Sie wird bei der Witwe bleiben, wenigstens für die nächsten Wochen«, bemerkte Morris, der dem Gespräch gelauscht hatte. »Sie hat gar keine andere Wahl. Jedermann weiß, dass sie aus einem Haus kommt, in dem die Polizei ermittelt. Es wirft gewissermaßen einen Schatten auf sie. Sie wird so schnell keine neue Stelle finden. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich alles ein wenig beruhigt hat.«
Wir hatten nun das Haus für uns alleine und gingen nach oben, um Tapleys Zimmer gründlich zu durchsuchen.
»Der Brief, Morris, von Tapleys Vermieterin in Southampton, er muss hier irgendwo sein. Der Superintendent hat Recht, wenn er sagt, dass Tapley ihn vermutlich aufbewahrt hat. Den fehlenden Haustürschlüssel suchen wir ebenfalls. Sollte der Mörder ihn an sich genommen haben, so kann er ihn jetzt nicht mehr benutzen, aber ich möchte es doch zumindest wissen.«
Wir suchten unter den Teppichen. Wir zogen Schubladen heraus und sahen nach, ob irgendetwas auf die Rückseite geklebt worden war. Schließlich fanden wir den Brief dort, wo Tapley ihn am wahrscheinlichsten verstecken würde … im Bücherschrank. Wir mussten jedes Buch herausnehmen und die einzelnen Seiten durchblättern … Der Brief der früheren Wirtin ruhte ordentlich in einem dicken Gedichtband von Cowper. Das Buch hatte einen grünlichen Leinen-Einband, und ich nahm mir vor, mir vor dem Essen besonders sorgfältig die Hände zu waschen. Buchbinder verwendeten zwar heutzutage die neuen chemischen Farbstoffe für die grüne Farbe, doch dieses Buch war vor vierzig Jahren gedruckt worden, als man noch Arsenik verwendet hatte.
Der Name der früheren Vermieterin lautete Mrs. Holland, wohnhaft in der St. Michaels Alley in Southampton. Thomas Tapley hatte von Februar bis Ende Juli des Vorjahres bei ihr gewohnt. Dann war er ausgezogen. Er war ein vorzüglicher Untermieter gewesen, hatte keinerlei Unruhe gleich welcher Art verursacht, pünktlich die Miete gezahlt und sich stets zuvorkommend und hilfsbereit verhalten. Sie bedauerte seinen Auszug.
»Schön«, sagte ich zu Morris. »Das ist, was wir erwartet haben. Es stimmt mit dem überein, woran sich die Witwe Jameson erinnern konnte. Es verrät uns nichts Neues über Tapley. Ich telegraphiere an die Dienststelle in Southampton und bitte einen Kollegen vor Ort, sich mit Mrs. Holland zu unterhalten und herauszufinden, wo Tapley gewohnt hat, bevor er auf der Schwelle von Mrs. Holland aufgetaucht ist, eingehüllt in eine Wolke aus Glaubwürdigkeit, die diese beiden Ladies so ungemein beeindruckt hat. Mrs. Jameson sagt, er habe zu keiner Zeit versucht, sich von ihr Geld zu leihen; möglicherweise hat Mrs. Holland andere Erfahrungen gemacht.«
»Der Inhalt des Briefes klingt nicht danach«, stellte Morris fest und starrte finster auf das Blatt Papier in meiner Hand.
»Stimmt, das tut er nicht. Doch sie soll es bestätigen. Es würde zumindest zeigen, dass er über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Ich wüsste gerne, welcher Art das gewesen ist.«
Ungeachtet unserer gründlichen Suche blieb der Schlüssel verschollen. Falls der Mörder ihn hatte, so würde er schnell bemerken, dass er nutzlos geworden war. Es bedeutete allerdings, dass er vorgehabt hatte zurückzukehren. Was hatte er gesucht, und warum hatten wir keine persönlichen Unterlagen gefunden?
Wir kehrten zum Scotland Yard zurück. Ich schickte ein Telegramm nach Southampton und bat um Informationen über Tapley, der für eine kurze Zeit in der St. Michaels Alley gewohnt hatte, und darum, dass jemand die Vermieterin aufsuchte und befragte.
Biddle kam am späten Nachmittag zurück, verschwitzt und mit wunden Füßen. Er hatte sämtliche Kaffeehäuser südlich des Flusses in der Umgebung der Waterloo Bridge Station abgeklappert. Er war auch auf der anderen Seite gewesen und hatte sich in den Kaffeehäusern und Rauchlokalen von The Strand umgehört. Zwei Tage zuvor hatte Lizzie auf ihrem Spaziergang Tapley nahe der Waterloo Bridge getroffen. Der alte Mann war auf dem Weg in das geschäftige Viertel auf der anderen Seite gewesen. Nur wenig später hatte sie ihn erneut gesehen, diesmal auf der Brücke in Richtung Südufer und nach Hause. Ich wollte wissen, wo er sich in der Zwischenzeit aufgehalten hatte.
Doch Biddles Suche war eigenartig ergebnislos geblieben. Mehrere Kellner meinten sich an einen kleinen Mann in einem abgetragenen Mantel zu erinnern, der gelegentlich vorbeikam, doch er war kein Stammgast, da waren sich alle Kellner einig. Sie kannten ihre Stammgäste. Abgesehen davon verkehrten in den Lokalen viele kleine, abgerissene Männer, die nur darauf aus waren, in einem geheizten Raum kostenlos die Zeitung zu lesen, ohne dabei viel Geld ausgeben zu müssen. Niemand vermochte mit Bestimmtheit zu sagen, ob sich der Mann, den Biddle suchte, unter ihnen befunden hatte.
Wer trotzdem meinte, sich an Tapley persönlich zu erinnern, stimmte mit den anderen überein, dass er wenig gesprächig gewesen war. »Kein besonders mitteilsamer Mann, bis auf die eine oder andere Bemerkung über das Wetter, besonders, wenn es regnete. Das tun die meisten. Sie kommen aus dem Regen und reden darüber, als würde es niemals regnen in London.« Tapley? Der hatte in seiner Zeitung gelesen, seinen Kaffee getrunken – manchmal auch eine Zigarre geraucht – und war dann wieder verschwunden. Niemand konnte sich erinnern, von ihm gegrüßt worden zu sein oder gesehen zu haben, dass er einen Bekannten grüßte. Auf der anderen Seite mochte niemand beschwören, dass es sich um Tapley gehandelt hatte.
Alle vagen Erinnerungen zusammengefasst, war nur eine Sache sicher: Wer auch immer Tapley gewesen war, Trinkgeld hatte er nie gegeben. Daran hätten sie sich erinnert.
»Er zog häufig um und wechselte die Lokale«, sagte ich missmutig zu Superintendent Dunn, als ich gegen Feierabend über den Mangel an Fortschritten Bericht erstattete. »Wenn Sie mich fragen, so wollte er nicht auffallen und Fragen aus dem Weg gehen.«
Dunn lehnte sich in seinem Sessel zurück und strich sich mit der Hand durch das kurze graue Haar. »Warum sollte er?«, erwiderte er.
»Entweder wollte er niemandem Rechenschaft abgeben … oder er bemühte sich, keine Spuren zu hinterlassen.«
»Sie denken, er hat sich versteckt?«, überlegte Dunn. »Das ist es! Wie ich bereits sagte, er war auf der Flucht.«
»Es wäre möglich, Sir. Wie man es auch dreht und wendet, dieser Mann hatte ein Geheimnis.«
»Dann finden Sie heraus, was das für ein Geheimnis war, Ross!«, entgegnete Dunn mit der ernsten Gelassenheit eines Mannes, der die Arbeit nicht selbst tun musste.