KAPITEL VIERZEHN

Elizabeth Martin Ross

Wally Slater fuhr mich in gemächlichem Tempo quer durch London und setzte mich vor meiner Haustür ab. Er kletterte von seinem Kutschbock und nahm seinen Lohn mit einem Seufzer entgegen.

»Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Ma’am, aber ich freue mich überhaupt nicht darüber, dass Sie sich offensichtlich schon wieder in einen Mordfall einmischen. Es hat doch wohl einen gegeben, oder nicht? In der Nähe der Stelle, wo ich Sie aufgelesen habe? Der Polyp, der losgeschickt wurde, um eine Droschke für Sie zu suchen, hat es mir erzählt.«

»Der Constable hätte den Mund halten müssen!«, entgegnete ich erbost.

»Ich habe ihn gefragt, wissen Sie? Gleich als ich gesehen habe, dass er Sie im Schlepptau hatte. Was sagt eigentlich Ihr Ehemann dazu, dass Sie ständig Ihre Nase in fremde Angelegenheiten stecken?«

»Mein Ehemann hat gelernt damit zu leben«, erwiderte ich würdevoll.

Wally kicherte. »Nun denn, schön. Ich wage zu behaupten, er wusste, worauf er sich einließ, als er Sie geheiratet hat.«

»Sie wollen mir sagen, dass es sich nicht gehört«, unterbrach ich ihn. »Dass ich mich nicht respektabel verhalte.«

»Nein. Ich sage, dass es ein gefährliches Laster ist«, entgegnete er. »Aber ich denke, Sie tun trotzdem, was Sie wollen, habe ich Recht? Mrs. Slater ist aus dem gleichen Holz wie Sie, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie noch nicht angefangen hat, Mordfälle zu untersuchen.«

»Es geht ihr gut, hoffe ich?«, fragte ich höflich nach.

»Oh, dem alten Mädchen fehlt nichts, außer dass ihre Knie ihr Beschwerden verursachen. Aber keiner von uns wird jünger, nicht wahr? Genau wie Nelson hier.« Er tätschelte den Hals des Pferdes.

»Er sieht fit aus.«

»Er ist fit. Weil er gut versorgt wird. Ich verbringe jeden Morgen eine Stunde damit, ihn zu striegeln und fertig zu machen, bevor wir losziehen. Das und das Geschirr sauber zu halten und die Kutsche zu pflegen ist eigentlich eine Arbeit für sich allein, auch ohne den ganzen Tag damit in der Stadt herumzufahren.«

»Heißt das, Sie könnten Hilfe gebrauchen?«, fragte ich nachdenklich.

Er nickte, doch dann schnitt er eine Grimasse. »Ich müsste dafür bezahlen, und es müsste jemand sein, dem ich vertrauen könnte. Nelson und ich, wir sind schon eine Reihe von Jahren zusammen. Ich verlasse mich auf ihn, und er verlässt sich auf mich.«

Nelson schwang den Kopf herum und blies uns durch die Nüstern an.

»Er will wissen, was ich mir dabei denke, die ganze Zeit mit Ihnen zu schwatzen, anstatt mich auf die Suche nach einer Fuhre zu machen«, sagte Wally. Er wandte sich ab, um auf seinen Kutschbock zu klettern.

»Mr. Slater!«, rief ich ihm ungestüm hinterher. »Wenn ich einen Jungen finde, der Sie nicht viel kostet und der Pferde wirklich mag und der Ihnen helfen könnte, wären Sie interessiert?«

Er starrte zu mir herunter. »Kann schon sein. Ich sage nicht Ja, und ich sage nicht Nein. Es kommt darauf an.«

»Ich habe jemanden im Sinn, Wally. Er ist ein ziemlich kleiner Junge, ich meine die Körpergröße. Ich weiß nicht, wie alt er ist, aber ich schätze ihn auf zehn oder elf. Er ist sehr aufmerksam und ein aufgeweckter Junge.«

»Ich respektiere Ihre Meinung, Mrs. Ross«, sagte Wally. »Wenn Sie sagen, er ist aufgeweckt, dann wird das wohl so sein. Aber er muss schon hoch genug kommen, um Nelson zu striegeln, also wenn er klein ist, könnte das ein Problem werden.«

»Ich denke schon, dass er das schaffen kann, wenn er auf eine Kiste klettert. Er ist von der Sorte Jungen, die, wenn man ihnen eine Aufgabe überträgt, stets einen Weg finden, sie zu lösen.«

»Tatsächlich?«, entgegnete Wally trocken. »Mir scheint – ohne respektlos sein zu wollen, Ma’am –, mir scheint, Sie und dieser Junge haben eine Menge gemeinsam. Bringen Sie ihn vorbei.«

»Überlassen Sie das nur mir«, sagte ich zuversichtlich. »Es könnte höchstens eine Weile dauern. Ich weiß nicht, wo er im Augenblick steckt. Ich muss ihn suchen.«

»Ich hoffe, ich habe mich nicht auf irgendwas eingelassen, Ma’am. Außerdem muss er zuerst von Mrs. Slater in Augenschein genommen werden, verstehen Sie? Mrs. Slater ist sehr speziell. Sie duldet niemanden vor dem Haus, von dem sie glaubt, es könnte einen schlechten Eindruck erwecken, soweit es die Nachbarschaft betrifft. Wenn Sie ihn finden, bringen Sie ihn zu Mrs. Slater. Sie wird entscheiden, ob er geeignet ist oder nicht, und mich wissen lassen, was ich darüber denke.« Er kicherte.

»Verlassen Sie sich auf mich, Mr. Slater.«

Er bedachte mich mit einem letzten Blick, tippte sich an die Hutkrempe und schnalzte Nelson zu. Das Pferd setzte sich in Bewegung, und die Droschke entfernte sich rumpelnd.

Inspector Benjamin Ross

Dunns Worte hatten mich momentan jeglicher Fähigkeit zur Sprache beraubt. Die Person in der Husarenjacke schien unbeeindruckt. Sie nickte gnädig in meine Richtung in Kenntnisnahme unserer Vorstellung und sagte auf Englisch: »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Inspector Ross. Sie sind also der Beamte, der mit der Suche nach dem Halunken beauftragt wurde, der meinen armen Ehemann ermordet hat.«

Zwei Dinge fielen mir sofort ins Auge. Erstens, dass die Lady ein ganz ausgezeichnetes Englisch sprach, gefärbt in einem attraktiven Akzent, und das mit einer dunklen, rauchigen Stimme. Hatte Jenkins etwa gelogen, als er Lizzie erzählt hatte, seine weibliche Klientin wäre des Englischen nicht besonders mächtig? Oder war es eine Finte gewesen, um seine Anwesenheit als Dolmetscher bei einer eventuellen Befragung sicherzustellen? Oder hatte er tatsächlich nicht gewusst, dass sie die Sprache beherrschte? Ich zweifelte keinen Moment daran, dass wir es hier mit seiner ominösen weiblichen Klientin zu tun hatten, selbst ohne die Beschreibung des auffälligen Hutes.

Das Zweite, was mir auffiel, war die offensichtliche Selbstbeherrschung der fremden Lady. Sie zeigte jedenfalls keine übermäßige Trauer. Im Gegenteil, sie zeigte überhaupt keine. Vielleicht war sie eine Person mit außergewöhnlicher Kontrolle über ihre Emotionen. Oder vielleicht war sie einfach zu gerissen, um vorzutäuschen, was sie nicht empfand. Konnte sie wirklich die Witwe von Thomas Tapley sein, dem erst vor so kurzer Zeit Verschiedenen, dessen sterbliche Hülle noch nicht begraben war? Der Leichnam von Thomas war auf Bitten von Jonathan Tapley zu einem Beerdigungsunternehmer gebracht worden. Dort lag er nun in einem kostspieligen Sarg und wartete auf das weitere Vorgehen.

Entweder sie konnte Gedanken lesen oder aber zumindest meine. In ihrem Gesicht rührte sich nicht ein einziger Muskel, doch in ihren dunklen Augen flackerte Begreifen auf, während sie mich beobachtete.

»Superintendent Dunn hat meine Heiratsurkunde gesehen«, sagte sie. »Thomas und ich haben in Montmartre geheiratet, vor mehr als drei Jahren. Montmartre ist eine kleine Gemeinde am Rand von Paris, ein sehr beliebter Ort bei den Parisern, die sich dort gerne aufhalten und die Umgebung genießen. Wir haben zahlreiche Restaurants, Musiklokale, Ballsäle und im Sommer Freiluft-Tanzveranstaltungen. Die Atmosphäre ist unkonventionell. Es gibt außerdem eine Reihe kleiner Hotels. In Montmartre stellt niemand Fragen …«

Ihre beherrschte Maske verrutschte für einen kurzen Moment, und sie ließ sich zu einem koketten Lächeln verleiten. Schon eine Sekunde später erkannte sie, dass es unter den gegebenen Umständen unangemessen war, und sie fuhr nüchtern und kontrolliert fort. »Ich habe für einige Jahre eine respektable Herberge in Montmartre betrieben. Thomas kam vor fast vier Jahren zu mir, zuerst als zahlender Gast und später als mein Ehemann.«

Dunn hielt wie zur Bestätigung ein offiziell aussehendes Dokument in meine Richtung, das bisher auf seinem Schreibtisch gelegen hatte. Er sah mir kaum in die Augen.

»Ich habe Superintendent Dunn gesagt, dass ich keinerlei Einwände dagegen habe, wenn er meine Heiratsurkunde vorläufig behält, um sich zu überzeugen, dass unsere Ehe ordentlich registriert ist. Aber Sie werden darauf aufpassen, Superintendent?«, wandte sie sich an Dunn. »Ich brauche sie unbedingt zurück.«

»Selbstverständlich, Madame«, antwortete Dunn schroff und ließ die Urkunde zurück auf seinen Schreibtisch fallen.

Mir dämmerte, dass er sich genauso überfahren fühlte wie ich.

»Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch, Madame«, sagte ich, indem ich die gleiche Anrede benutzte wie zuvor Dunn.

Erneut dieses elegante Kopfnicken. »Danke sehr.«

Doch sie lieferte keinerlei Erklärung, wo sie die Sprache gelernt hatte! Sie war eine sehr schlaue Person. Sie legte ihre Karten eine nach der anderen und mit großem Bedacht auf den Tisch. Wenn ich Informationen von ihr wollte, musste ich sie ihr entlocken. Ich fing mit dem Offensichtlichen an.

»Darf ich fragen, ob Sie Gelegenheit hatten, den Leichnam Ihres verstorbenen Mannes ein letztes Mal zu sehen? Falls nicht, lässt sich das selbstverständlich einrichten.«

»Ich komme soeben vom Bestatter, Inspector. Ich musste mich mit eigenen Augen überzeugen, dass es in der Tat mein armer Thomas ist, bevor ich herkam, um Sie zu sehen.«

Sie hatte den Leichnam gesehen – und dennoch nicht eine einzige Träne?

»Mrs. Tapley hat eine Erklärung unterzeichnet, dass es sich bei dem Toten um ihren Ehemann handelt«, sagte Dunn hölzern.

»Mr. Thomas Tapley ist vor einem Jahr alleine in dieses Land zurückgekehrt«, begann ich vorsichtig in dem Versuch, meine Befragung fortzuführen. »Es scheint eine ganze Weile her zu sein, dass Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben, und damals war er am Leben. Mein herzliches Beileid, Madame.« (Nicht, dass sie eine Spur von Trauer gezeigt hätte.) »Leider muss ich Sie dennoch nach den Umständen fragen, unter denen Sie sich getrennt haben. Gab es eine Entfremdung? Waren Sie vielleicht übereingekommen, sich zu …«

»Wo denken Sie hin!«, unterbrach sie mich empört. »Das war ganz und gar nicht der Fall! Es stimmt, dass er Anfang letzten Jahres verschwand. Seit damals habe ich verzweifelt nach ihm gesucht, Inspector. Leider, wie ich gestehen muss, nur in Frankreich.«

Dunns Gesichtszüge zuckten verräterisch, doch er sagte nichts und überließ es mir allein, mich mit ihr abzuquälen.

»In Frankreich? Sie hielten es nicht für möglich, dass er nach England gegangen sein könnte? Immerhin ist er gebürtiger Engländer …«

»Aber einer, der seit vielen, vielen Jahren aus England fortgegangen war, um in Frankreich zu leben! Der mit mir zusammen unter einem Dach gelebt hat. Er hat nie davon gesprochen, wegzugehen oder mich zu verlassen, und er hatte nicht den geringsten Grund dazu!«

Wieder hatte sie mich unterbrochen, doch vielleicht blickte ich unbeeindruckt drein. Wie dem auch sei, sie brach ab und seufzte.

»Es muss Ihnen eigenartig erscheinen«, fuhr sie nach einigen Sekunden fort. »Lassen Sie mich erklären, wie alles anfing. Sie müssen wissen, dass Thomas im vorletzten Jahr sehr krank war. Ich habe ihn gesund gepflegt. Leider war er ein veränderter Mensch, als er wieder gesund war. Vor seiner Krankheit war er ein friedfertiger gut gelaunter Mann gewesen. Wir führten ein zufriedenes Leben, wir beide. Aber nach seiner Krankheit war er ganz anders, aufbrausend, misstrauisch, leicht zu verärgern … Er war oft mit den Gedanken woanders. Ich habe mit dem Arzt darüber gesprochen. Er hat mir gesagt, dass lange Krankheiten mit ausgedehntem Fieber manchmal zu derartigen Ergebnissen führen, insbesondere, wenn der Kranke schon älter ist. Er kann Erinnerungen verlieren. Sein Gedächtnis kann ihm Streiche spielen, Episoden erfinden. So war es auch bei meinem Ehemann. Er begann, sich … Dinge einzubilden. Auch das war nicht ungewöhnlich, sagte der Arzt. Ich habe alles versucht, wieder den alten Menschen aus ihm zu machen, was seine Gesundheit und seinen Verstand angeht. Ich konnte ihn sogar überreden, ans Meer zu fahren, in der Hoffnung, dass eine Luftveränderung helfen würde. Wir fuhren nach Deauville. Doch nach unserer Rückkehr nach Paris wurde sein Zustand noch schlimmer.

Dann eines Tages verschwand er ohne Vorwarnung. Ich kam nach Hause und stellte fest, dass er nicht mehr da war. Er hatte seine Reisetruhe gepackt und mitgenommen. Ich fand einen Fuhrmann, der ihn von Montmartre bis ins Zentrum von Paris mitgenommen hatte. Der Mann hatte frisches Gemüse an Les Halles geliefert, die Markthallen von Paris. Er hatte Thomas und seine Truhe an einem Droschkenstand ganz in der Nähe abgesetzt. Ich eilte zu diesem Stand, doch …«

Sie zuckte elegant die Schultern. »Wahrscheinlich kennen Sie die Gegend von Les Halles nicht. Man nennt sie auch den Bauch von Paris. Es gibt unendlich viele Menschen, unendlich viele Waren aller Art von überall aus Frankreich, so viele Geschäfte, alles rennt durcheinander, und über allem liegt ein unglaublicher Lärm. Berge leerer Kisten und Schachteln warten auf ihren Abtransport, und ständig werden neue angeliefert. Die Droschken vom Stand nebenan sind ununterbrochen im Einsatz. Eine Kutsche kommt mit einem Fahrgast an, und beinahe im gleichen Augenblick steigt ein neuer Fahrgast ein, und es geht weiter. Die armen Pferde sind ständig todmüde. Meine Frage nach einem Mann mit einer Reisetruhe brachte mir nichts als Gelächter ein. Die Kutscher sehen Dutzende davon, jeden Tag. Niemand konnte sich an Thomas erinnern. Niemand hatte Zeit, mit mir zu reden. Niemand scherte sich um meine Sorgen. Ich kehrte nach Montmartre zurück. Ich war zutiefst verzweifelt.«

»Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, er könnte nach England zurückgekehrt sein?«, beharrte ich.

»Zuerst nicht, nein.« Sie schüttelte den Kopf, was meinen Blick wieder auf den Hut mit den lavendelfarbenen Seidenblüten lenkte. »Warum sollte ich so etwas denken? Thomas hat mir stets erzählt, er hätte England ein für alle Mal hinter sich gelassen. Er nannte es ›den Staub von den Schuhen schütteln‹. Sagt man das nicht so?«

»Das ist richtig«, antworteten Dunn und ich unisono. Wir wechselten verstohlene Blicke.

»Ich befürchtete«, fuhr unsere Besucherin fort, »dass Thomas in seinem verwirrten Zustand ziellos durch Frankreich irren könnte. Dass er möglicherweise seinen Namen vergessen hatte! Jetzt erfahre ich, dass er ihn zwar noch wusste, sich aber offensichtlich nicht mehr an unser Heim in Montmartre erinnern konnte. Die französische Polizei war nicht sehr hilfreich, wie ich leider sagen muss. Ich gab Suchanzeigen in Provinzzeitungen auf, in denen ich um Informationen bat – ohne Erfolg. Schließlich fing ich in meiner Verzweiflung an, mich zu fragen, ob er am Ende nicht doch nach England zurückgekehrt war und ob ich in dieses Land fahren musste, um nach ihm zu suchen. Allerdings …«, sie breitete die Hände in einer sehr fremdländischen Geste aus. »Ihm hierher zu folgen und nach ihm zu suchen hätte viel Geld gekostet, das ich damals noch nicht hatte. Ich musste erst eine ganze Weile sparen, und erst gegen Ende letzten Jahres, Ende Oktober, hatte ich genug zusammen, um die Reise anzutreten und hier in England zu bleiben, um nach Thomas zu suchen. Und alles nur, um zu erfahren, dass ich zwischenzeitlich zur Witwe wurde.« Sie schlug untröstlich die Augen nieder.

»Einmal mehr mein herzliches Beileid«, sagte ich. »Darf ich fragen, von wem Sie erfahren haben, dass Ihr Mann tot ist?«

Sie hob den Blick und sah mich aus ihren dunklen Augen direkt an. »Thomas hatte mir gegenüber einen Cousin erwähnt, Jonathan Tapley, der in London wohnt. Ich wollte zuerst eigentlich gar nicht mit ihm in Verbindung treten, weil es offensichtlich Streit zwischen den beiden gegeben hatte. Bis gestern, als ich ihm eine Karte schickte, in der ich ihm erklärte, wer ich bin. Ich war inzwischen ziemlich verzweifelt, wissen Sie? Ich hatte immer noch keine Spur von Thomas gefunden. Heute Morgen erhielt ich eine Antwort, in der ich gebeten wurde, mich bei einer Adresse in der Gray’s Inn Road zu melden. In einer Anwaltskanzlei, wie es hier wohl heißt. Jonathan Tapley ist Anwalt – ein avocat, wie man in Frankreich sagt – und hat in diesem Gebäude sein Büro. Also begab ich mich am frühen Morgen zur angegebenen Adresse, und dort überbrachte man mir die tragische Neuigkeit. Der arme Thomas ist tot, und schlimmer noch, er wurde ermordet!«

Nun nahm sie ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Augen. »Ich kann jetzt nicht mehr darüber sprechen, Messieurs. Ich bin zu erschüttert.«

»Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte ich mitfühlend. »Sind Sie ganz allein in London, Madame?«

»Allerdings. Ganz allein«, antwortete sie trauervoll. Sie erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen, Messieurs. Sie haben meine Adresse, Superintendent. Es ist ein kleines, wenig kostspieliges Hotel, wie Sie sicher verstehen werden. Ich werde dort bleiben, und Sie können mich leicht finden – oder eine Nachricht senden, und ich komme hierher.«

Bevor Dunn oder ich wussten, was geschah, war sie auf dem Weg zur Tür. Ich konnte nichts anderes mehr tun, als ihr selbige aufzuhalten und einen Constable zu rufen, der sie nach unten auf die Straße begleitete.

»Nun, Ross?«, fragte Dunn, als wir wieder allein waren. »Was halten Sie von alledem?«

»Sie wird sich wieder melden«, sagte ich. »Wir haben ihre Heiratsurkunde, und ich bezweifle nicht eine Minute, dass ihre Ehe korrekt eingetragen ist. Die Urkunde ist echt, und sie wird sie zurückverlangen.«

»Aber ist sie echt?«, fragte Dunn und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an.

»Wer weiß? Ich bin jedenfalls sicher, dass wir es hier mit einer äußerst schlauen Frau zu tun haben, Sir«, sagte ich rundheraus.

»Ah, das ist allerdings richtig. Und eine äußerst attraktive Person obendrein.« Dunn richtete seine verschlagenen kleinen Augen auf mich. »Aber halten Sie sie auch für imstande, einen Mord zu begegen?«

Ich konnte nur schief grinsen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn Sie die Fähigkeit in sich trägt. Sie ist so kalt wie ein Eisberg. Aber wenn sie jemanden ermordet hat, dann würde ich eher Gift als ihre Methode der Wahl vermuten. Werden Sie sich mit der französischen Polizei in Verbindung setzen, Sir?«

»Ja, ja … Sie bleiben dieser Frau auf den Fersen und werden sie ein weiteres Mal befragen. Versuchen Sie, die Lady dazu zu bringen, dass sie zugibt, einen Detektiv angeheuert zu haben, diesen Jenkins. Ah, und bevor ich’s vergesse, das hier sollten Sie sich ansehen …« Dunn hielt mir die Heiratsurkunde hin.

»Na so was …«, sagte ich, als ich das Dokument überflogen hatte. »Also war die Lady vor ihrer Ehe mit Thomas Tapley eine Mademoiselle Victorine Guillaume.« Ich gab Dunn die Urkunde zurück. »Was mich an das Pärchen mit Namen Guillaume erinnert, das Major Griffiths in The Old Hall besucht hat und solch großes Interesse an den abwesenden Besitzern des Anwesens zeigte. Sie gaben vor, Bruder und Schwester zu sein. Es ist sicher kein Zufall, dass der Familienname der gleiche ist? Nehmen wir an, Victorine war die Frau. Wer hat die Rolle ihres Bruders gespielt, und wo ist dieser ›Bruder‹ jetzt?«

»Wir sollten uns auf einen weiteren Besuch von Mr. Jonathan Tapley einstellen, schätze ich«, sagte Dunn. »Jetzt, nachdem er feststellen musste, dass seine junge Cousine, die bei ihm aufgewachsen ist, eine Stiefmutter hat.«

»Ich will verdammt sein!«, murmelte ich. »Weiß oder wusste Madame Victorine Tapley, dass ihr verstorbener Ehemann eine Tochter in London hat?«

»Sie sollten sie besser möglichst schnell fragen, Ross«, sagte Dunn. »Nur zu, worauf warten Sie noch? Stehen Sie nicht hier rum und spekulieren Sie. Schaffen Sie mir Antworten herbei!«

»Grundgütiger!«, sagte Lizzie, nachdem ich ihr am Abend zu Hause von den jüngsten Entwicklungen erzählt hatte. »Was für eine ungewöhnliche Geschichte!«

»Das scheint mir, wenn ich das so sagen darf, sehr gelinde ausgedrückt«, erwiderte ich.

»Menschenskind …«, murmelte Bessie, die in der Tür gestanden und zugehört hatte. »Wer hätte das gedacht?«

Es hätte wenig Sinn gehabt, sie in die Küche zu schicken – sie hätte nur heimlich hinter der Tür weiter gelauscht.

»Was meinst du«, sagte Lizzie langsam. »Ist es ein Zeichen für ihre Unschuld, dass sich Victorine Guillaume oder Jonathan Tapley so unversehens gemeldet haben? Und wo ist der Mann, den Miss Poole in Begleitung von Victorine im Büro von Jenkins gesehen hat?«

»Ich arbeite daran, das herauszufinden. Ich muss sehr vorsichtig zu Werke gehen. Schließlich möchte ich nicht, dass unsere französische Besucherin zurück nach Montmartre flieht, in das respektable Gasthaus, das sie dort betreibt. Abgesehen davon, Miss Poole hat die beiden Besucher nur von hinten gesehen«, glaubte ich meine Frau erinnern zu müssen. »Und nur für einen kurzen Moment. Hätte sie nicht den Hut mit den lavendelfarbenen Rosenknospen oder was auch immer so genau beschrieben, gäbe es nicht den geringsten Anlass zu der Vermutung, dass Mrs. Tapley die Frau von diesem eigenartigen Pärchen war. Abgesehen davon, es gibt sicherlich noch mehr Hüte mit lavendelfarbenen Blumen, oder nicht? Es wäre ziemlich riskant, Miss Pooles Beschreibung eines Hutes, den sie obendrein nur flüchtig gesehen hat, als stichhaltigen Beweis zu betrachten. Und stichhaltige Beweise sind es, die Dunn von mir verlangt – mit weniger gibt er sich nicht zufrieden. Schlimmer noch, er erwartet, dass ich sie beibringe, und zwar auf der Stelle!«

»Was ist mit Jonathan Tapley?«, fragte Lizzie unvermittelt. »Was wird er jetzt tun?«

»Das werden wir bestimmt sehr schnell herausfinden, Lizzie. Wenigstens das.«

»Furchtbar aufregend, diese Geschichte, nicht wahr?«, fragte Bessie von der Tür her.