KAPITEL ELF

Auf dem Rückweg von The Old Hall, nachdem ich mich von Fred Thorpe verabschiedet hatte, suchte ich das Telegraphenbüro auf und schickte meine kurze Nachricht an Scotland Yard. Es war Zeit für meinen Besuch bei den Barnes’ zu Hause. Mrs. Barnes bereitete mir einen geradezu königlichen Empfang, und ich aß ganz vorzüglich zu Abend. Es gab Hackbraten und Fruchttorte zum Nachtisch.

Inzwischen war ich nach einem langen, ereignisreichen Tag rechtschaffen müde und sehnte mich nach meinem Bett im Commercial Hotel. Doch ich hatte noch eine weitere Verabredung, die ich einhalten musste. Ich hatte Fred Thorpe versprochen, nach dem Abendessen vorbeizukommen, um seinen Vater und seinen Großvater kennenzulernen, und so machte ich mich gemeinsam mit Sam Barnes auf den Weg zum Haus der Thorpes.

Es war ein beachtliches Haus, wo wir die gesamte Thorpe-Familie versammelt fanden, einschließlich der Ladies, Freds Ehefrau, seiner Mutter und einer unverheirateten Tante. Der junge Thorpe hatte, wie ich erfuhr, Kinder, doch sie waren noch klein und bereits im Kinderzimmer und schliefen tief und fest. Das Haus war zum Bersten voll mit Thorpes. Nach den üblichen Formalitäten wie Vorstellung und Plaudereien zogen sich die Frauen zurück. Sam und ich saßen vor einem munter knisternden Kaminfeuer in Gesellschaft der drei männlichen Thorpes. Der Port machte die Runde.

Ich hatte an diesem einen Tag mehr Alkohol getrunken als in der ganzen Zeit vorher seit Weihnachten, und so nippte ich nur vorsichtig an meinem Port, fest entschlossen, einen klaren Kopf zu behalten. Es war nicht einfach angesichts meiner Müdigkeit und so vieler neuer Informationen, die mir nach den vielen Begegnungen des Tages durch den Kopf schwirrten.

Freds Vater war mehr oder weniger eine ältere Ausgabe seines Sohnes, das lockige Haar immer noch reichlich, wenngleich inzwischen ergraut. Der Gedanke, dass dieser robuste, vor Gesundheit strotzende Mann im gleichen Alter war wie der verstorbene Thomas Tapley unterstrich einmal mehr, wie unfair das Schicksal zu Tapley gewesen war. Freds Vater als den »alten Thorpe« zu bezeichnen war gleichermaßen unfair, doch er schien durchaus zufrieden damit. Mr. Thorpe senior, der Großvater, war ein grimmig dreinblickender Alter, der ein Hörrohr schwang und von Kopf bis Fuß in kariertes Tuch gekleidet war. Bei seinem Anblick befürchtete ich gewisse kommunikative Schwierigkeiten.

»Wir waren alle sehr betroffen, als wir erfuhren, was Thomas Tapley zugestoßen ist«, begann Freds Vater, der alte Thorpe.

»Was war das?«, verlangte Thorpe Senior mit lauter Stimme, indem er sich das Hörrohr ans Ohr hielt und in seinem hochlehnigen Queen-Anne-Sessel nach vorn beugte; in dieser Haltung sah er aus wie ein Paket aus Karostoff, das jemand dort abgelegt und vergessen hatte.

»Tom Tapley, Opa!«, brüllte der jungen Thorpe.

»Er hat die Familie im Stich gelassen, als er ein junger Mann war«, quäkte Thorpe senior.

»Du tust ihm Unrecht, Vater!«, widersprach der alte Thorpe entschieden. »Und du vergisst, dass du über einen alten und respektierten Klienten der Firma redest.«

»Nein, tue ich nicht!«, schnappte der Alte. »Er hat sie im Stich gelassen! Es gab einen großen Skandal, als er in Oxford war, und er musste ganz schnell weg. Es hat seine Mutter schlimm getroffen, nicht weil sie wusste, was er angestellt hatte, sondern weil sie es nicht wusste. Er wurde mit einem anderen Kerl überrascht, in einer, wie es so schön heißt, kompromittierenden Situation. Niemand wollte es der Mutter erzählen, und sie dachte, er hätte eine gewöhnliche Dummheit begangen, zum Beispiel ein Dienstmädchen verführt oder etwas in der Art. Es war nicht weiter schwer, sie in diesem Glauben zu lassen und dass das Mädchen Schweigegeld bekommen hatte. Sie war eine von jenen Frauen, die stets akzeptieren, was man ihnen sagt. Aber Tapley – es war kein Dienstmädchen, mit dem er sich vergnügt hatte … Es waren Knaben!«

Nun, dachte ich, Thorpe senior mag vielleicht ein Problem mit dem Gehör haben, aber mit seinem Gedächtnis war ganz sicher nichts verkehrt.

Der alte Thorpe wandte sich zu mir und sprach mit leiser Stimme. »Was mein Vater über den Grund für Tapleys Abreise aus England erzählt, entspricht der Wahrheit. Obwohl die Nachricht, dass er in Ungnade gefallen war, nicht vertuscht werden konnte, so wussten doch nur sehr wenige Leute hier in Harrogate den wahren Grund für den Skandal, oder falls sie es wussten, redeten sie nicht darüber. Seine Mutter hat es nie erfahren, bis zu ihrem Tod nicht.«

»Aber Ihr Vater scheint bestens informiert zu sein?«, warf ich ein.

»Was war das?«, brüllte Thorpe senior hörrohrschwingend.

»Inspector Ross sagt, dass du die Wahrheit gewusst hast, Großvater!«, brüllte Fred Thorpe.

»Wie denn auch nicht? Sein Onkel kam her zu mir und informierte mich, dass die Sache möglicherweise vor Gericht gehen würde, sollte die Wahrheit ans Licht kommen, und dass er einen Anwalt nehmen wollte. Ein ernstes Verbrechen. Damals unter Todesstrafe verboten. Doch es kam nicht so weit. Alles wurde vertuscht, zum Besten aller. Thomas Tapley war nicht der Erste, und er wird nicht der Letzte gewesen sein.«

»Tom hat später sogar geheiratet«, sagte Freds Vater zu mir, bevor er sich an seinen eigenen Vater wandte und die Worte fortissimo wiederholte: »Später hat er geheiratet!«

»Das Klügste, was er tun konnte!«, sagte Thorpe senior. »Ich hatte es ihm dringend geraten. Ein Landbesitzer Anfang vierzig, gesund an Leib und Geist, der keine Anstalten machte, sich um einen Nachfolger und Erben zu bemühen … die Leute fingen schon wieder an zu reden. ›Sucht ihm eine Frau!‹, sagte ich. Also hat er eine von Alexander Sanders Töchtern geheiratet, die schlichtere von beiden«, erklärte Thorpe senior genüsslich. »Sie schielte zu allem Überdruss.«

»Tom und seine Frau hatten eine gemeinsame Tochter, Großvater!«, rief der junge Fred.

»Ich bin überrascht, dass er so was zustande gebracht hat. Schielt sie auch?«, fragte der alte Bursche interessiert.

»Nein, Mr. Thorpe«, unternahm ich es diesmal, die Antwort zu brüllen. »Ich habe die junge Lady kennengelernt, Miss Flora Tapley. Sie ist im Gegenteil sehr attraktiv.«

Thorpe senior brummte und sank zwischen seinen Karotüchern zusammen.

»Mrs. Tapley verstarb, Sir, und Miss Flora wurde von Mr. Jonathan Tapley und seiner Frau aufgezogen.« Ich stellte fest, dass ich inzwischen jedes Wort brüllte.

»Ein gerissener Bursche, der junge Jonathan Tapley«, murmelte Thorpe senior. »Ist nicht auf den Kopf gefallen, ganz und gar nicht. Tom hingegen war immer ein Träumer. Kam wahrscheinlich nach seiner Mutter.«

»Er ging ins Ausland, Großvater, nach Frankreich!«

»Das Vernünftigste, was er tun konnte, wenn du mich fragst«, murmelte Thorpe senior.

Um anschließend beunruhigenderweise einfach einzuschlafen.

»Es ist schon sehr spät für meinen Großvater«, entschuldigte sich der junge Thorpe.

Nach meinem geschäftigen Tag war es auch für mich spät geworden. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich bei allen für ihre Gastfreundschaft und Hilfe zu bedanken, und verlieh meinem Vergnügen Ausdruck, sie kennengelernt zu haben. Ich schüttelte Fred Thorpe und seinem Vater die Hand. Großvater Thorpe schnarchte leise unter seinen Karotüchern vor sich hin, daher bat ich den jungen Thorpe, ihm später meine besten Wünsche auszurichten.

»Morgen hat er wahrscheinlich schon wieder vergessen, dass Sie hier waren«, erwiderte Fred Thorpe melancholisch.

»Ich hatte eigentlich den Eindruck, dass sein Erinnerungsvermögen ausgesprochen klar ist.«

Fred lächelte und schüttelte den Kopf. »Er erinnert sich an die Dinge, die vor Jahren passiert sind. Aber was gestern war – das ist eine andere Geschichte.«

»Nun?«, fragte Sam Barnes, als er mich zum Commercial Hotel begleitete. »Können Sie etwas mit den Informationen anfangen?«

»Offen gestanden, ich habe heute eine ganze Menge erfahren, aber ob es zu einer Spur führt, vermag ich noch nicht zu sagen. Dazu ist es zu früh. Ich muss morgen den Frühzug nach London erreichen.«

»Ich komme Sie abholen und bringe Sie zum Bahnhof«, versprach Barnes. »Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen bei uns.«

Elizabeth Martin Ross

»Es ist wirklich schade, dass wir schon nach Hause müssen«, sagte Bessie, als wir in den Omnibus stiegen, um die Rückfahrt anzutreten.

Ihr Tonfall war sehnsüchtig. Ich überlegte, dass sie nur selten nach draußen kam, um etwas Neues zu sehen, und dass der heutige Tag ein wunderbares Abenteuer für sie gewesen sein musste. Doch wir mussten noch nicht nach Hause, nicht auf direktem Weg. Ben würde ohnehin nicht vor dem späten Abend zu Hause sein, falls er überhaupt heute noch kam. Gut möglich, dass er übernachtete und erst morgen zurück nach London fuhr. Abgesehen davon hatte Horatio Jenkins mich durchaus richtig beurteilt. Ich war genauso infiziert vom Detektivspielen wie er selbst. Er hatte sich am Bryanston Square herumgetrieben in der Hoffnung, einen Fortschritt zu machen – und war mit meinem Anblick belohnt worden. Warum sollte ich nicht das Gleiche tun und auf ähnliches Glück hoffen?

»Wir fahren zuerst zum Bryanston Square, wo Mr. Jonathan Tapley mit seiner Familie lebt«, entschied ich mit fester Stimme.

Bessie riss die Augen auf. »Sie haben doch wohl nicht vor, an seine Tür zu klopfen, Missus?«, ächzte sie erschrocken.

»Gewiss nicht, Bessie«, antwortete ich bedauernd. »Das darf ich nicht. Ich bin sicher, Maria Tapley würde mir nicht erlauben, Flora zu besuchen. Aber wir fahren trotzdem hin und spazieren ein wenig durch die Gegend, und dann … wer weiß?«

»Ich würde sein Haus gerne sehen«, sagte Bessie.

Der Bryanston Square lag ruhig da und lud im Schein der Frühlingssonne zum Verweilen ein. In der Mitte des Platzes gab es einen schattigen Park, umsäumt von einem Geländer. Die Tore standen offen, und zwei Kindermädchen schoben Korbstubenwagen die Wege hinauf und hinunter. Bessie und ich betraten den Park und setzten uns.

»Ich habe gerne am Dorset Square gewohnt, als ich noch bei Mrs. Parry war«, sagte Bessie, um sogleich hastig hinzuzufügen: »Aber ich arbeite viel, viel lieber für Sie und den Inspector, Missus! Was ich sagen wollte, war, der Dorset Square ist ein wenig wie dieser hier, mit einem grünen Park in der Mitte.«

»In der Umgebung von Waterloo Station gibt es leider keinen Park«, gestand ich. Die Erwähnung von Tante Parry ließ mich überlegen, ob wir nicht hingehen und sie noch einmal besuchen sollten, wo wir schon so nahe waren und falls sich hier am Bryanston Square nichts Interessantes ergab. Aber da ich erst vor so kurzer Zeit bei ihr zu Besuch gewesen war, verspürte ich keine große Lust dazu. Möglicherweise interpretierte sie meinen Besuch auch als Sehnsucht von meiner Seite, und ich bedauerte ganz gewiss nicht, dass ich ihr Haus verlassen hatte.

»Missus!«, zischte Bessie und packte meinen Arm.

Ich war in Tagträumereien versunken und hatte nicht bemerkt, dass sich die Vordertür des Tapley’schen Hauses geöffnet hatte und zwei Frauen auf die Straße getreten waren. Beide waren jung, also konnte keine von ihnen Maria Tapley sein. Eine war gut gekleidet, doch offensichtlich in Trauer. Die andere ganz in Grau hatte den unzufriedenen Gesichtsausdruck einer Kammerzofe. Die beiden überquerten die Straße in Richtung des Parks, wo Bessie und ich saßen.

»Sie kommen hierher!«, keuchte Bessie. »Glauben Sie auch, Missus, dass die Dame in Schwarz die Tochter des armen alten Mr. Tapley ist?«

»In der Tat, das glaube ich«, beschied ich Bessie. »Und ich beabsichtige, mich davon zu überzeugen!«

Die beiden jungen Frauen hatten den Park erreicht und spazierten gemächlich umher. Sie unterhielten sich nicht. Flora – falls es Flora war – ging ein kleines Stück vor ihrer Begleiterin, den Kopf leicht geneigt, so dass ich nicht unter den Rand ihres Hutes sehen konnte. Die Zofe folgte ihr gesittet und mürrisch zugleich, ein Umhängetuch über dem Arm für den Fall, dass ihrer Herrin plötzlich kühl wurde. Ich beobachtete die beiden gespannt, bis sie ihre Runde beinahe beendet hatten und sich Bessie und mir näherten. Dann erhob ich mich von meinem Platz.

»Verzeihen Sie«, sagte ich zu der jungen Frau in Schwarz. »Aber sind Sie vielleicht Miss Flora Tapley?«

Sie blickte überrascht auf. »Ja«, sagte sie einfach. Dann runzelte sie die Stirn. »Aber ich fürchte, ich kenne Sie nicht …«

»Mein Name ist Elizabeth Ross. Ich bin die Ehefrau von Inspector Ross, dem Beamten, der wegen des Todes ihres Vaters ermittelt. Ich würde gerne meinem großen Bedauern angesichts der furchtbaren Geschichte Ausdruck verleihen. Ich kannte Ihren Vater flüchtig. Er wohnte nicht weit von uns. Ich sah ihn immer, wenn er spazieren ging, und wir grüßten einander im Vorübergehen.«

Ihr Gesicht hellte sich auf vor Freude. »Sie kannten meinen Papa?« Sie warf einen Blick zu ihrer Zofe. »Warte hier, Biddy. Ich werde mit Mrs. Ross eine Runde drehen!«

Wir gingen weiter und ließen die beiden Mädchen zurück. Sie standen beieinander und beobachteten uns. Bessie sah aufgeregt aus. Das andere Mädchen, Biddy, starrte uns unverhohlen übellaunig hinterher. Sie hatte ihre Instruktionen, Flora nicht von der Seite zu weichen, vermutlich von Maria Tapley persönlich. Wovor fürchtete sich Maria?

»Was führt Sie hierher nach Bryanston Square, Miss Ross?«, fragte Flora.

»Ich … ich habe eine Verwandte, die ganz in der Nähe am Dorset Square wohnt. Ihr Name ist Parry, und Sie sind ihr vielleicht schon begegnet. Ich hatte überlegt, sie zu besuchen.«

Das war nicht gelogen. Ich hatte tatsächlich überlegt, ob ich Tante Parry noch einmal besuchen sollte, und mich dann dagegen entschieden. Was ich Flora natürlich nicht verraten musste.

»Es sah so hübsch und friedlich aus hier im Park, und ich beschloss, für eine Weile auszuruhen und mich auf eine Bank zu setzen«, fügte ich hinzu.

»Ja, es ist wirklich hübsch hier«, pflichtete mir Flora mit trauriger Stimme bei. »Und es ist mehr oder weniger der einzige Ort, an den ich gehen darf, ohne dass Tante Maria mich im Auge behält. Selbst jetzt schickt sie mir Biddy hinterher, um sicher zu sein, dass ich nicht irgendeine Dummheit begehe.«

Dummheit? Was für ein merkwürdiger Gedanke. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was Mrs. Tapley von ihrer wohlerzogenen Nichte dachte.

»Sie werden demnächst heiraten, wenn ich richtig informiert bin?«, sagte ich. »Ihre Tante bewacht Sie übereifrig, vermute ich.«

»Oh, ich weiß nicht, ob meine Heirat noch stattfindet«, entgegnete Flora, ohne lange zu überlegen. »Es gibt plötzlich ein Problem wegen der Art und Weise, wie mein Vater gestorben ist. Georges Eltern gefällt das überhaupt nicht. Sie sind entschieden auf Distanz zu dem ganzen Vorhaben gegangen. Mein Onkel und meine Tante sind ganz außer sich deswegen. Sie waren so erfreut, als George um meine Hand anhielt, aber wenn er mich jetzt nicht mehr genügend liebt, um mich trotz allem, was passiert ist, zu heiraten, dann will ich ihn auch nicht haben. Er sollte seinen Eltern endlich einmal die Stirn bieten, wenn sie Einwände haben. Meinen Sie nicht auch?«

»Nun ja«, sagte ich vorsichtig. »Ich kenne den Gentleman nicht und auch nicht seine Familie …«

»George ist immer sehr höflich und will es jedem recht machen.« Flora machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ich meine, natürlich will er nicht, dass ich aufgebracht bin, aber er will auch nicht, dass seine Eltern aufgebracht sind. Seine Eltern sind nett, aber unglaublich steif und korrekt. Und dann ist da noch die Frage des Titels, die für sie sehr wichtig ist. George ist nicht der Erbe, sondern sein älterer Bruder Edwin. Aber wenn Edwin einen Unfall hat, irgendein Unglück …« Sie zögerte, dann fuhr sie fort. »Nicht, dass es wahrscheinlich wäre. Edwin ist sehr langweilig und klettert nicht auf Berge oder so was. Er studiert Motten, stellen Sie sich das vor! Er sitzt abends draußen im Garten mit einer Laterne und einem Netz, um die Tiere zu fangen. Aber angenommen, Edwin würde krank werden, eine Lungenentzündung beispielsweise, weil er immer die halbe Nacht draußen sitzt … Würde er sterben, wäre George der Erbe. Das haben sie ihm eingebläut, seit frühester Kindheit. Also darf es unter keinen Umständen einen Skandal geben, was seine zukünftige Frau betrifft, und das heißt so viel wie mich

Flora stieß ein entrüstetes »Tsss!« aus. »Es ist nicht so, als würde Edwin Anzeichen machen, dass er irgendwann heiraten und einen Sohn bekommen will. Das würde George endlich frei machen, so dass er das tun kann, was er möchte. Ohne das, fürchte ich, wird George niemals für irgendetwas kämpfen, wenn es bedeutet, dass er sich gegen seine Eltern stellen muss. Wenn wir heiraten würden, ginge es genauso weiter, so viel ist mir inzwischen klar geworden. Ich musste immer tun, was Onkel Jonathan und Tante Maria von mir wollten. Und wenn ich Georges Frau werde, muss ich tun, was seine Familie von mir will. Ich finde das sehr, sehr ermüdend. Was denken Sie, Mrs. Ross? Niemand fragt mich je danach, was ich mir wünsche oder gerne hätte.«

Der arme George, dachte ich. Aufgezogen mit dem Gedanken im Kopf, die Zweitbesetzung für seinen Bruder abzugeben. Auch er war niemals gefragt worden, was er sich eigentlich wünschte. Ich fragte mich, warum Edwin, der Erbe, nicht vor seinem jüngeren Bruder geheiratet oder sich auch nur verlobt hatte. Verließ er sich vielleicht auch darauf, dass George ihn von der Bürde des Titels befreite? Eine Sache schien zumindest klar. Floras Herz war alles andere als gebrochen, nachdem ihre Hochzeit stark gefährdet war. Im Gegenteil. Sie schien geradezu erleichtert angesichts der Möglichkeit, dass die Hochzeit platzen könnte.

Wir hatten den Park inzwischen einmal vollkommen umrundet und näherten uns der Bank, wo die beiden Mädchen saßen und schwatzten. Beide erhoben sich bei unserem Näherkommen. Flora signalisierte ihnen, sich wieder zu setzen, und wir begannen unsere zweite Runde. Biddy zögerte, doch Bessie redete sofort wieder auf sie ein und zwang sie, ihre Aufmerksamkeit von uns abzuwenden. Ich wusste, ich konnte mich darauf verlassen, dass Bessie das andere Dienstmädchen so lange auf der Bank festhielt wie nur irgend möglich.

»Inspector Ross schien sehr sicher, dass er den Halunken fangen wird, der meinen Papa ermordet hat«, sagte Flora nun. »Glauben Sie das auch?«

»Er tut sein Bestes, ohne Frage«, versicherte ich ihr.

»Das hat er auch gesagt. Aber ich fürchte trotzdem, dass der Täter entkommt. Mein armer Papa. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihm verbracht.«

Ein Prickeln lief mir über den Rücken.

»Als Kind, meinen Sie?«, fragte ich vorsichtig.

»Oh, ja, sicher, auch damals. Aber ich dachte mehr an die letzten Wochen und Monate, seit er nach London zurückgekehrt war. Es war nur so wenig Zeit.« Sie gab ein unterdrücktes Schluchzen von sich und schniefte in ein Taschentuch. »Sieht Biddy her? Ich hoffe nicht. Sie petzt alles an Tante Maria.«

Ich war so verblüfft wegen ihrer Worte, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. »Sie wussten, dass er nach England zurückgekehrt war?«, japste ich.

Flora lief dunkelrot an und sah mit einem Mal viel jünger aus als neunzehn Jahre. »Sie sagen es niemandem, oder?«

Ich durfte nicht lügen. »Es mag notwendig sein, das ich mit Ben … mit Inspector Ross darüber spreche. Aber er ist sehr diskret, Miss Tapley. Wie haben Sie herausgefunden, dass Ihr Vater in London war, und wann?«

»Oh, erst vor Kurzem, leider, nur ein paar Wochen, bevor … bevor jemand ihn umgebracht hat. Ich wusste, dass Onkel Jonathan an Papa nach Frankreich geschrieben hatte, um sein Einverständnis zu meiner Heirat mit George einzuholen, doch seine Briefe blieben unbeantwortet. Onkel Jonathan schrieb dann an irgendwelche Anwälte in Harrogate, die Papas Angelegenheiten erledigen. Sie berichteten ihm, dass Papa nach England zurückgekehrt war, aber sie hatten keine Adresse. Sowohl Onkel Jonathan als auch Tante Maria gerieten darüber regelrecht in Panik. Doch weil Papa sich nicht bei uns gemeldet hatte, überlegten sie, dass er wohl wieder nach Frankreich zurückgekehrt war.

Ich für meinen Teil hoffte weiter, dass er eines Tages kommen und mich besuchen würde. Dann passierte es. Ich war zur Leihbücherei gegangen. Es ist ungefähr der einzige Ort, zu dem Tante Maria mich alleine gehen lässt, und jetzt darf ich nicht einmal mehr das. Wie dem auch sei, an jenem Tag war ich in der Bücherei, als ein Gentleman vor mich trat und meinen Namen sagte. ›Flora?‹, einfach so, eine Frage. Er war nicht mehr jung, und er klang nervös. Er sah ein wenig heruntergekommen aus, aber man trifft viele ältere Gentlemen in der Bücherei, die genauso aussehen, insbesondere an kalten Tagen. Aber er wusste meinen Namen, und ich blickte ihm ins Gesicht und sah, dass er mein Vater war. Ich erkannte ihn sofort, obwohl es so viele Jahre her war, dass er weggegangen war.«

Flora verstummte für einige Sekunden. »Ich war sehr bewegt, und ihm ging es genauso«, fuhr sie schließlich fort. »Er hatte Tränen in den Augen, und ich konnte mich gerade noch beherrschen, sonst wäre ich ihm um den Hals gefallen. Wir gingen nach draußen, damit niemand etwas bemerkte. Er erklärte, dass er nach England zurückgekehrt wäre, weil sich seine Lebensumstände in Frankreich geändert hätten.«

»In welcher Weise?«, fragte ich.

Flora runzelte die Stirn. »Das hat er nicht gesagt, und es gab so viele Dinge, die wir einander sagen wollten und so wenig Zeit, dass ich ihn nicht fragte. Er sagte, dass er sehr froh war, mich zu sehen, und dass ich so erwachsen geworden wäre. Ich fragte ihn, warum er nicht zu uns nach Hause gekommen wäre und wo er jetzt wohnte. Er antwortete, dass er Jonathan jetzt noch nicht sehen wollte. Er bat mich, weder seinem Cousin noch seiner Frau zu sagen, dass er in England war. Er musste erst etwas erledigen, sagte er. Ich fragte ihn, ob er die Briefe nicht erhalten hätte, die ihm nach Frankreich geschickt worden wären, und er sagte Nein. Ich erzählte ihm, dass ich heiraten würde. Es war ein großer Schock für ihn. Er fragte, wer denn der junge Mann wäre, und er flehte mich an, nicht zu hastig zu sein.

Wir konnten nicht länger verweilen und reden. Wir hatten beide Angst, irgendjemand könnte uns sehen und es Tante Maria oder Onkel Jonathan erzählen.«

Flora blickte über die Schulter. »Sieht Biddy zu uns?«

Ich sah zu der Bank. Bessie redete ununterbrochen, und Biddy schien ihr wie gebannt zuzuhören. Was um alles in der Welt mochte Bessie ihr erzählen? Irgendeine reißerische Geschichte über Polizeiarbeit vermutlich. Wie dem auch sein mochte, es hatte den gewünschten Effekt. Biddy hatte vergessen, dass sie hier war, um ein Auge auf Miss Tapley zu werfen.

In der Nähe stand eine weitere, unbesetzte Bank, und Flora und ich nahmen darauf Platz.

»Jedenfalls hatte ich eine brillante Idee«, fuhr Flora sichtlich befriedigt fort. »Papa wollte nicht zu uns nach Hause kommen. Ihn irgendwo anders in der Öffentlichkeit zu treffen war zu riskant. Also würde ich zu ihm fahren, ihn dort besuchen, wo er wohnte.«

»Aber wie das?«, fragte ich ungläubig. »Man hätte Sie doch gesehen?«

»Oh, nein«, widersprach Flora selbstgefällig. »Ich hatte mir etwas ausgedacht, um das zu vermeiden. Ich habe eine Freundin, Emily Waterton. Ihr Bruder ist in Eaton im Internat. Er ist fünfzehn Jahre alt, besitzt ungefähr meine Größe und ist sehr schlank. Während er in der Schule ist, bleibt ein Teil seiner Sachen zu Hause im Schrank. Also ging ich zu Emily und sagte ihr, dass ich jemandem einen Streich spielen wollte. Ich wollte mich als jungen Burschen verkleiden und Joliffe den Kutscher überreden, mich über den Fluss zu bringen in die Nähe der Gegend, wo mein Vater wohnte. Dort sollte er mit der Kutsche auf mich warten. Natürlich musste Emily ebenfalls mitkommen; alles hing davon ab, dass sie mitspielte. Joliffe hätte mich bestimmt nicht gefahren, wenn ich alleine gewesen wäre. Doch wenn Emily mitkam und in der Kutsche wartete, während ich Papa besuchte, würde Joliffe wahrscheinlich mitspielen und denken, es wäre ein Streich. Emily ist eine sehr lustige Person, und als wir noch in der Schule waren, hat sie immer Streiche ausgeheckt. Bei meinem nächsten Treffen mit Papa erklärte ich ihm meinen Plan. Wir trafen uns nicht weit von hier, bei der St Mary’s Church. Die Bücherei war uns zu riskant. Papa war im ersten Moment erschrocken, doch ich überzeugte ihn, dass es wirklich ganz einfach war. Er sagte mir, dass seine Wirtin regelmäßig an einem Nachmittag in der Woche zu einem ihrer Treffen ging. Sie war eine Quäkerin. Wenn ich kommen und draußen auf der Straße warten würde, würde er nach mir Ausschau halten. Ich sollte unter keinen Umständen an die Tür läuten kommen, weil das Dienstmädchen ›ein schwatzhaftes kleines Balg‹ war, wie er es nannte. Sie würde gewiss sehen, wenn sie mich aus der Nähe betrachtete, dass ich kein Junge war.

So machten wir es dann auch. Ich blieb nicht lang. Nur lang genug, um die Zimmer in Augenschein zu nehmen, in denen Papa jetzt wohnte. Wir redeten kurz über meine Hochzeit. Er sagte, wenn ich mir wirklich ganz sicher wäre, würde er einen Brief an seinen Cousin schreiben und seine Zustimmung erteilen – oder gleich zu Onkel gehen und alle erforderlichen Dokumente unterschreiben. Doch er wollte, dass ich sehr sorgfältig über mein Vorhaben nachdachte. ›Wenn du erst einmal verheiratet bist, meine Liebe, gibt es nichts mehr, was ich für dich tun kann. Genauso wenig wie dein Onkel Jonathan. Du bist ganz und gar deinem Mann und seiner Familie ausgeliefert. Du sagst, es ist eine adlige Familie mit einer gesellschaftlichen Position. Du wirst zweifellos ein sehr komfortables Leben führen und dich in einer schicken Welt voller Unterhaltung und Abwechslung bewegen, aber all das kann dir kein Glück garantieren. Ich wünsche mir vor allem anderen, dass du glücklich bist. Deswegen meine Bitte – du musst dir absolut sicher sein, was deine Liebe zu dem jungen Mann angeht.‹ Seine Worte beeindruckten mich zutiefst. Ich versprach ihm, sorgfältig nachzudenken und ihm dann Bescheid zu geben.«

Flora verstummte. »Ich habe in nie wiedergesehen. Bevor wir ein zweites Treffen arrangieren konnten, brachte Onkel Jonathan die schrecklichen Neuigkeiten.« Sie blickte in Richtung der Bank, wo die beiden Dienstmädchen warteten. Biddy blickte in unsere Richtung, und dann erhob sie sich.

»Sie kommt her, um mir zu sagen, dass es Zeit wird, nach Hause zu gehen«, sagte Flora. »Ich muss los.«

»Miss Tapley«, sagte ich hastig. »Hat Ihr Onkel oder Ihre Tante etwas von dieser Eskapade bemerkt? Haben sie erfahren, dass Ihr Vater in London war?«

»Oh, nein! Onkel Jonathan weiß nichts von meiner Maskerade und davon, dass Joliffe mich und Emily in der Kutsche über den Fluss gebracht hat. Aber Tante Maria hat es erfahren. Joliffe hat es ihr erzählt. Er hatte Angst, es könnte herauskommen und er könnte seine Stellung verlieren, weil er nichts gesagt hatte, ohne ein Empfehlungsschreiben für eine neue Anstellung. Tante Maria befahl ihm, Stillschweigen zu bewahren und Onkel Jonathan nichts von alledem zu erzählen. Dann unterwarf sie mich einem Verhör. Ich schwor, dass es nur ein Scherz gewesen wäre, den Emily und ich einem anderen Mädchen gespielt hätten, mit dem wir zusammen in der Schule gewesen waren. Sie glaubte mir nicht. Sie beschuldigte mich, heimlich einen anderen Mann zu treffen, nicht George, sondern jemanden, der vollkommen unpassend war und nicht standesgemäß. Sie bestand darauf zu erfahren, wo ich diese Person kennengelernt hätte, also sagte ich ihr der Wahrheit entsprechend, in der Bücherei.«

Flora schnitt eine Grimasse. »Ich dachte, sie würde ohnmächtig vor Entsetzen. ›So ein skandalöses Verhalten!‹, rief sie. ›Und das, wo mein Mann und ich so viel auf uns genommen haben, um eine geeignete Mannsperson für dich zu finden! Der junge Bursche hingegen, mit dem du dich heimlich getroffen hast, verfolgt sicherlich die finstersten Gedanken. Diese Kerle treiben sich in Museen herum, in Kunstgalerien, öffentlichen Ausstellungen und zweifellos sogar Büchereien auf der Suche nach jungen Frauen ohne Begleitung!‹

So ging es fast eine ganze Stunde lang weiter. Am Ende fühlte ich mich wie ein feuchter Putzlappen; trotzdem gestand ich nicht die Wahrheit. Sie weiß immer noch nicht, dass es Papa war, den ich besucht habe. Ich hielt es geheim, genau wie seine Anwesenheit hier in London. Wenn Tante Maria unbedingt glauben will, dass ich so ein dummes Ding bin, das sich von irgendeinem dahergelaufenen Lüstling mit nichts als Verführung im Sinn beschwatzen lässt, bitte sehr, soll sie. Es ist oft viel einfacher, man lässt die Leute denken, was sie wollen, wissen Sie? Sie warnte mich eindringlich, dass Onkel Jonathan es niemals erfahren und dass ich meinen guten Ruf niemals wieder so leichtfertig aufs Spiel setzen dürfte, oder kein wirklich geeigneter junger Mann würde im Traum daran denken, mich zu heiraten.«

Flora seufzte. »Seitdem hat sie mich so unter ihre Fuchtel genommen, dass ich mich fühle wie ein gefangener Verbrecher.«

»Miss Flora?« Biddy stand plötzlich vor uns und bedachte mich mit einem misstrauischen Blick.

»Ja, Biddy, schon gut«, sagte Flora unwirsch und erhob sich von ihrem Platz. »Wir müssen zurück, oder Mrs. Tapley macht sich Sorgen. Meine liebe Mrs. Ross«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. »Es war mir ein wirkliches Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben. Danke sehr für Ihre freundlichen Worte und Ihr Mitgefühl wegen meines Vaters. Die Vorstellung, dass Sie ihn ein wenig gekannt haben, und zu erfahren, dass er in solch respektabler Umgebung gewohnt hat, ist ein großer Trost für mich. Bitte bestellen Sie Inspector Ross meine Grüße.«

Sie marschierte davon, und Biddy trottete hinter ihr her.

»Was glauben Sie, Missus?«, fragte Bessie heiser.

»Ich glaube, dass Miss Flora Tapley eine durch und durch bemerkenswerte junge Frau ist«, antwortete ich.

Ich hoffte außerdem, dass sie sich nicht dazu drängen ließ, den rückgratlosen George zu heiraten. Für eine so temperamentvolle und unternehmungslustige junge Frau wäre eine Ehe mit jemandem wie George alles andere als glücklich. Thomas Tapley mochte nur wenig Zeit mit seiner Tochter gehabt haben, doch er hatte ihr einen großen Dienst erwiesen, indem er sie dazu gebracht hatte, das zu erkennen.

Ich weiß nicht, was mich dazu bewegte, mich noch einmal umzudrehen, als wir den kleinen Park verließen. Vielleicht wollte ich mich nur überzeugen, dass Flora ins Haus zurückgekehrt war. Doch dort, unter einem Baum, stand ein Mann, den ich nicht bemerkt hatte, als ich im Park gewesen war. Er verhielt sich ganz still, und sein karierter Tweedanzug fiel in den vom Sonnenlicht zwischen Zweigen und Blättern gesprenkelten Schatten kaum auf. Ich wage zu behaupten, dass ich ihn nicht bemerkt hätte, hätte ich nicht genau den gleichen Anzug schon eine kleine Weile zuvor gesehen. Diesmal aß sein Träger keinen Apfel, sondern stand nur reglos da und beobachtete mich. Genau wie beim letzten Mal bemerkte er meinen Blick und legte grüßend die Hand an die Krempe seines Filzhutes, wobei er sich ein klein wenig verneigte.

Ich spürte eine unwillkommene Woge Rot in meine Wangen steigen und wandte mich hastig ab. Gütiger Himmel, Mrs. Ross!, sagte ich zu mir, während ich versuchte, meine Unruhe durch Albernheit zu verdrängen. In deinem Alter, eine respektabel verheiratete Frau von bereits dreißig Jahren, und du hast allen Ernstes einen Verehrer!

Doch ich fühlte mich nicht geschmeichelt. Nicht ein Stück.

Wir waren noch nicht lang zu Hause angekommen, Bessie und ich, als es laut an der Haustür klopfte. Für einen langen, erschrockenen, dummen Augenblick dachte ich, der Kerl im Tweedanzug wäre mir bis zu meinem eigenen Heim gefolgt. Ich lauschte nervös, als Bessie zur Tür ging und öffnete.

Es gab einen leisen Wortwechsel, und ich hörte Bessie irgendwann laut ausrufen: »Wie dem auch sei, Sie werden nicht mit diesen Stiefeln über meinen sauberen Boden laufen! Ziehen Sie sie gefälligst aus, und lassen Sie sie hier stehen. Sie hätten ohnehin nicht zum Vordereingang kommen sollen. Das nächste Mal gehen Sie ums Haus herum zur Küchentür!«

Die Stimme eines jungen Mannes antwortete. Sie klang gekränkt und kam mir vage bekannt vor. »Ich bin nicht zur Küchentür gegangen, weil ich nicht hergekommen bin, um Sie zu besuchen, ja? Ich bin hergekommen, weil ich Mrs. Ross sprechen muss. Ist sie zu Hause? Wenn sie nämlich da ist, dann gehen Sie doch bitte, und holen Sie sie. Sagen Sie ihr, dass ich da bin!«

»Sie geben mir keine Befehle!«, schnappte Bessie zurück. »Diese Uniform gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, einfach so mit schmutzigen Stiefeln an den Füßen in ein respektables Haus hereinzuplatzen!«

»Wer ist es denn, Bessie?«, rief ich in den Flur.

Weiteres Rascheln und Murmeln aus der Diele, und dann öffnete sich die Tür. Bessie erschien zuerst, hochrot im Gesicht vor Entschlossenheit. Hinter ihr ragte bedrohlich eine uniformierte Gestalt auf.

»Es ist dieser Constable Biddle, Ma’am«, berichtete Bessie. »Er wünscht Sie zu sehen!«

»Nun, dann kommen Sie doch herein, Constable!«, forderte ich ihn auf, während ich mich aus meinem Sessel erhob, um ihn zu begrüßen. »Haben Sie mir eine Botschaft von meinem Mann gebracht?«

Biddle schob sich entschlossen an Bessie vorbei und stand schließlich auf Socken und mit dem Helm unter dem Arm vor mir. »Jawohl, Ma’am. Inspector Ross hat eine Telegraphen-Nachricht an den Superintendent geschickt. Er kommt morgen früh nach London zurück. Er hat darum gebeten, dass jemand hier vorbeischaut und Ihnen Bescheid gibt, Ma’am. Also sagte Mr. Dunn, dass ich herkommen und Sie informieren soll.«

»Ich danke Ihnen, Constable«, sagte ich. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie einen so großen Umweg in Kauf genommen haben. Ich bin sicher, Bessie wird Ihnen eine Tasse Tee bringen, nicht wahr, Bessie?«

Bessie, die hinter ihm stand, verdrehte die Augen in meine Richtung, doch sie führte Biddle in die Küche, und einige Minuten später verriet mir leises Stimmengemurmel, hier und da durchbrochen von einem unerwarteten Kichern seitens Bessie, dass Frieden und Harmonie wieder Einkehr gefunden hatten.

Ben würde also heute Nacht nicht nach Hause kommen. Das war wirklich zu schade – ich hatte ihm so viel zu erzählen. Ich konnte alles Biddle erzählen und ihn bitten, es an seine Vorgesetzten weiterzugeben, doch es war eine Menge zu erklären für einen jungen Constable wie Biddle. Ich hatte keine Ahnung, wie verzerrt meine Erzählung bei Superintendent Dunn ankommen würde. Abgesehen davon war es besser, wenn die Tatsache, dass ich auf eigene Faust ermittelt hatte (›mich eingemischt‹, wie Dunn es zweifellos nennen würde), durch Ben weitergegeben wurde. Dunn war ohnehin der Meinung, dass ich meine Nase zu sehr in Polizeiangelegenheiten steckte. Ich konnte mir seine erste Reaktion allzu deutlich vorstellen. Doch nicht einmal Dunn wäre imstande zu bestreiten, dass ich eine Reihe von Fakten gefunden hatte, die von entscheidender Bedeutung für die Ermittlungen waren. Ben würde morgen nach Hause kommen, und ich würde ihm alles erzählen. Alles – bis auf die Sache mit dem Burschen im Tweedanzug, heißt das. Er würde mir nur einen Vortrag halten, wie töricht es sei, ohne Sinn und Zweck durch die Straßen zu wandern mit nichts als einem sechzehn Jahre alten Dienstmädchen als Eskorte. Abgesehen davon wollte ich mir den Mann aus dem Kopf schlagen, so schnell es ging. Doch er blieb einfach dort mit seinen dunklen Augen und den glänzend weißen Zähnen, die in den grünen Apfel bissen. Es war ein Bild, das mich nicht wenig irritierte.

Weiteres Lachen aus der Küche, diesmal von Biddle, der sich Bessies fröhlichem Kichern anschloss. Ich hoffte, ich hatte keine Dummheit gemacht, als ich die beiden zusammen in die Küche geschickt hatte. Dann kam mir der alarmierende Gedanke, dass sie Biddle möglicherweise von unseren Abenteuern an diesem Tag erzählen würde. Aber nein. Bessie war diskret. Sie hatte den Kopf richtig herum auf den Schultern sitzen.

Aus der Küche kam ein weiterer Schwall glockenhellen Gelächters. Nun ja. Hoffentlich hatte ich Recht mit meiner Einschätzung.