KAPITEL ACHTZEHN
Inspector Benjamin Ross
Ein Versuch, Victorine Tapley noch am gleichen Abend zu vernehmen, gleich nach unserer Rückkehr zum Scotland Yard, erwies sich als unproduktiv. Zuerst weigerte sich die Lady glattweg zu reden. Sie hatte die Nadeln herausgezogen, die den Federhut auf ihrem Haar hielten, und die Kopfbedeckung auf den Tisch zwischen uns gelegt, wo sie mich unwiderstehlich an einen toten, als Trophäe ausgebreiteten Vogel erinnerte. Sie saß auf ihrem Stuhl, die Augen unverwandt auf den Hut gerichtet und die Hände im Schoß gefaltet.
»Sie tun sich keinen Gefallen damit, Madame«, sagte ich zu ihr. »Indem Sie beharrlich schweigen, obwohl Ihr Verhalten so eigenartig war, erwecken Sie den Verdacht, hinter ihrem Schweigen könnte ein nicht ganz einwandfreies Motiv stecken.«
»Welches Verhalten?«, fragte sie so ruhig und gesetzt, als wäre nichts gewesen.
»Auf dem Friedhof, Madame. Als wir alle losrannten, um Miss Flora zu helfen oder ihren Angreifer zu verfolgen, rannten Sie in die entgegengesetzte Richtung davon und widersetzten sich dem Versuch meiner Frau, Sie an der Flucht zu hindern.«
Das brachte mir eine erhobene Augenbraue ein. »Ich wusste nicht, was plötzlich los war! Ich bin in einem fremden Land. Mein Ehemann wurde in diesem Land ermordet! Wir waren auf diesem Friedhof, um ihn zu begraben! Meine Gedanken kreisten um diese Bestattung und nichts anderes, als plötzlich aus einem Grund, den ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden hatte, alle laut durcheinanderschrien und -rannten! Also rannte ich ebenfalls. Im Dämmerlicht erkannte ich nicht sogleich, dass Mrs. Ross hinter mir war. Ich dachte, eine Bande von Raufbolden hätte uns auf diesem einsamen Friedhof aufgelauert! Warum ist Mrs. Ross gerannt?«
»Weil Sie gerannt sind, Madame.«
»Dann würde ich vorschlagen, dass es Ihre Frau war, die sich unlogisch verhalten hat, nicht ich.«
Mit diesem wohlgezielten Pfeil hatte sie mitten ins Schwarze getroffen, und das wusste sie auch. Sie weigerte sich, noch etwas zu sagen.
»Wir lassen sie über Nacht in einer Zelle«, sagte ich zu Dunn. »Vielleicht hat sie bis morgen früh ihre Meinung geändert und redet mit uns. Oder wir haben von der französischen Polizei gehört, was ich sehr hoffe, denn im Moment können wir ihr überhaupt nichts vorwerfen … außer dass sie weggerannt ist, als alle anderen ebenfalls gerannt sind und in Panik waren. Wenn wir nichts Neues erfahren, müssen wir sie morgen wieder laufen lassen. Wir riskieren ohnehin, uns zum Narren zu machen. Wenn wir den Mann finden, der Flora Tapley angegriffen hat, und wenn sich herausstellt, dass dieser Mann Hector Mas ist, dann sieht die Sache wieder anders aus. Es wird ihr schwerfallen abzustreiten, dass sie mit ihm unter einer Decke gesteckt hat, ob er redet oder nicht. Aber bis dahin …«
Ich wusste, dass ich frustriert und verbittert klang. Dunn war in der gleichen Stimmung.
»Wenn dieser Schuft auf dem Friedhof Hector Mas war, wo zum Teufel steckt er jetzt?«, schäumte er. »Finden Sie ihn, Ross! Er muss doch auffallen wie ein bunter Hund, ganz egal, wo er steckt!«
Da es nichts mehr gab, was ich noch tun konnte an diesem Abend, ging ich nach Hause zu meiner Frau. Es war bereits spät, doch Lizzie war aufgeblieben und wartete auf mich.
»Ich hatte keine Zeit, heute zu kochen«, empfing sie mich. »Ich dachte, ich wäre rechtzeitig von der Beerdigung zurück, um noch etwas zu machen, und du wärst ebenfalls da, deswegen habe ich Bessie nicht gebeten, uns etwas zu kochen.«
»Ich habe Bessies trockene Fleischpasteten und verbrannte Reispuddings gegessen«, antwortete ich. »Ich bin froh, dass du sie nicht gefragt hast. Nachdem Victorine Guillaume mich wie einen Idioten hat aussehen lassen und nachdem uns Mas auf dem Friedhof durch die Lappen gegangen ist, hätte mir Bessies Küche zweifellos den Rest gegeben.«
»Sie verbessert ihre Fähigkeiten als Köchin«, verteidigte Lizzie unser Dienstmädchen. »Aber zufällig gibt es in der Speisekammer noch einen Rest von der Rindfleisch-Nieren-Pastete, die wir vor zwei Tagen hatten. Sie ist noch einigermaßen frisch. Es ist kühl in der Speisekammer um diese Jahreszeit, und man muss keine Angst haben, dass irgendetwas in so kurzer Zeit verdirbt.«
Also aßen wir drei Tage alte Pastete, und ich muss sagen, sie schmeckte gut.
Als ich am nächsten Morgen auf dem Yard eintraf, stellte ich fest, dass wir nach langer Zeit endlich einen entscheidenden Schritt weitergekommen waren. Die französische Polizei hatte unsere Anfrage beantwortet. Es war ein überraschend langer Bericht.
Die Ehe zwischen Thomas Tapley und Victorine Guillaume war nach französischem Recht ordnungsgemäß geschlossen und registriert worden. Der Bräutigam hatte erklärt, Witwer zu sein. Die Braut hatte angegeben, unverheiratet zu sein. Sie war nicht ganz unbekannt bei der Polizei. Bevor sie sich als Wirtin einer seriösen Herberge niedergelassen hatte, war sie Tänzerin gewesen, außerdem die Mätresse eines Weinhändlers und zur gleichen Zeit Zuhälterin oder Kupplerin für eine Reihe junger Frauen, die sie zu Kurtisanen ausgebildet hatte. Letzteres hatte schließlich zu einer Untersuchung durch die Polizei geführt und in der Folge zum Verlust ihres Beschützers. Bevor ihr der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war, hatte sie Paris verlassen und war für eine Reihe von Jahren verschwunden, möglicherweise nach England. Als sie schließlich zurückgekehrt war, hatte sie die Herberge in Montmartre erstanden. Sie war selbst nie im Gefängnis gewesen, doch sie war aktenkundig mit einer ganzen Reihe von Kleinkriminellen bekannt – einschließlich einem gewissen Hector Mas, nach dem wir ebenfalls gefragt hatten. Es wurde gemeinhin angenommen, dass er ihr Liebhaber war. Mas stammte ursprünglich aus Marseille. Er hatte eine Reihe von Jahren in Paris gelebt, wo er seinen Unterhalt hauptsächlich als Trickbetrüger und Kartenhai verdient hatte, der Neuankömmlingen aus der Provinz das Fell über die Ohren zog. Er hatte zweimal im Gefängnis gesessen, einmal in seiner Geburtsstadt Marseille und einmal in Paris. Mas war in den letzten Monaten nicht in Paris gesehen worden, ebenso wenig wie Victorine Tapley geborene Guillaume. Die Herberge befand sich weiterhin in ihrem Besitz und wurde während ihrer Abwesenheit von einem Geschäftsführer geleitet. Das Geschäft schien nach außen hin einwandfrei. Ein vor einigen Jahren entstandener Verdacht, es könnte sich um ein unregistriertes Bordell handeln, hatte durch die sich anschließenden Ermittlungen nicht erhärtet werden können.
»Damit wissen wir zumindest«, sagte ich zu Dunn, »dass Hector Mas die übliche Sorte von glattzüngigem Kleinganoven ist. London ist voll von Kerlen wie ihm, alle mit dem gemeinsamen Ziel, die Leichtgläubigen und Naiven zu schröpfen.«
»Und obwohl diese Frau auf dem Gegenteil beharrt, hält er sich gegenwärtig nicht in Frankreich auf, so viel wissen wir jetzt!«, schnaubte Dunn. »Er treibt sich irgendwo in London herum. Er wusste, wann und wo die Beerdigung stattfinden würde, und das kann er nur von Victorine erfahren haben! Er hat sich auf dem Friedhof in den Hinterhalt gelegt und auf eine Chance gelauert, Flora zu entführen! Es war ein gewagter Schritt, doch unsere Verschwörer sind offensichtlich verzweifelt.« Dunn schüttelte einen dicken Zeigefinger in meine Richtung. »Die Entdeckung, dass Thomas eine Tochter hatte, war ein Element, mit dem sie nicht gerechnet hatten, als sie dem armen Kerl nach England gefolgt sind. Es muss ein ziemlicher Schock für die beiden gewesen sein.«
»Ich denke, Sir, mit Hilfe unserer neuen Informationen sollte es jetzt möglich sein, die Lady erneut zu vernehmen.«
»Nun, Madame«, sagte ich eine kleine Weile später, nachdem ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Ich hoffe, die Nacht war nicht allzu unbequem für Sie.«
Sie ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Stattdessen bedachte sie mich mit einem verachtungsvollen Blick, der Bände sprach.
Sie war immer noch elegant in ihrer Witwenkleidung, und die schwarze Perücke saß fest auf ihrem Kopf. Zweifellos war ihre Gelassenheit nur vorgetäuscht, wenngleich recht überzeugend. Nicht mehr lange, wie ich hoffte.
»Wir haben Nachricht von der französischen Polizei, Madame«, begann ich.
Ihre Lider sanken kurz über die dunklen Augen herab, doch dann starrte sie mich auf ihre übliche direkte Art an. »Dann wissen Sie ja auch, dass unsere Ehe legal war.«
»Ja, Madame, so viel hat man uns gesagt … und noch viel mehr. Sie haben ein abwechslungsreiches Leben geführt, Madame.«
»Sie sind kein Narr, Inspector«, erwiderte sie kalt. »Sie wissen sehr gut, dass die Welt nicht freundlich ist gegenüber Frauen, die alleine sind. Ich war das uneheliche Kind einer Sängerin in den Cabarets von Montparnasse. Sie brachte mich als kleines Kind in die Ballettschule in der Hoffnung, dass ich eine Beschäftigung fand, die mich von der Straße fernhalten und mir ermöglichen sollte, letztendlich einen Beschützer zu finden, der reich genug war, um uns beide zu ernähren. Meine Mutter starb ein paar Jahre später an Schwindsucht. Ich musste mich immer auf meine eigenen Fähigkeiten verlassen, und ich habe überlebt, weil ich getan habe, was dazu nötig war. Aber ich wurde nie wegen eines Verbrechens angeklagt, Inspector!«
»Es gibt immer ein erstes Mal, Madame, für alles, heißt es. Die französische Polizei hat uns informiert, dass Sie vor Jahren beschuldigt wurden, junge Mädchen verkuppelt zu haben …«
Ihre Augen blitzten vor Empörung. »Ein Mädchen! Ein einziges Mädchen, und ich will Ihnen sagen, wie das war, Inspector, bevor Sie mir Vorträge halten! Ihre Eltern wollten sie zwingen, einen alten Mann zu heiraten, einen alten Mann, den sie verabscheute und fürchtete. Also lief sie von zu Hause fort. Ich fand sie bettelnd auf der Straße. Ich nahm sie mit zu mir nach Hause und versuchte ihr zu helfen, indem ich jemanden fand, der sich um sie kümmerte. Ich fand einen Beschützer, einen anständigen Mann, der sie gut behandelt hätte – doch genau in diesem Moment tauchten ihre Eltern wieder auf! Sie wollten ihre Tochter zurück. Sie beschuldigten mich, ihr unschuldiges Kind zu einem verabscheuungswürdigen, unmoralischen Leben verführt zu haben. Sie erstatteten Anzeige bei der Polizei. Die Polizei kam zu mir, und das arme Ding musste zurück in sein Elternhaus. Aber nicht, weil sie ihre Tochter wieder bei sich haben wollten, oh, nein – sie fürchteten das Gerede und den Skandal. Der alte Freier stand wieder vor der Tür, und weil das arme Ding diesmal keine Gelegenheit mehr bekam, vor ihm zu fliehen, schluckte es Rattengift, Arsen. Es ist ein furchtbarer Tod, Inspector. Die Polizei hatte plötzlich kein Interesse mehr daran, mich weiter zu verfolgen. Niemand erhob Anklage gegen mich vor Gericht. Und selbstverständlich ging niemand gegen die Eltern vor oder den dreckigen alten Lustmolch, der die Ursache für alles war!«
»Dennoch findet sich die Angelegenheit in Ihrer Polizeiakte, Madame. Wenn das zutrifft, was Sie sagen, dann war das in der Tat eine unglückselige Geschichte.«
»Die Polizei in ganz Europa und überall sonst auf der Welt wohl auch hängt an ihren Akten, denke ich. Möglicherweise wollen sie den Steuerzahlern auf diese Weise suggerieren, dass ihr Geld gut angelegt ist«, sagte Victorine.
Ich beschloss, das Thema auf sich beruhen zu lassen. Ich wurde es allmählich leid, mich immer wieder von ihr übertrumpfen zu lassen.
»Reden wir von Ihrem Partner, Hector Mas«, sagte ich. »Bei ihm sieht die Sache schon ganz anders aus. Seine Akte ist ziemlich dick, und keiner der Berichte darin steht in Zweifel. Er wurde wenigstens zweimal zu Gefängnis verurteilt und hat eine Zeit lang gesessen. Er wurde seit einiger Zeit nicht mehr in Paris oder sonst irgendwo in Frankreich gesehen. Er ist hier in London, stimmt’s? Wir glauben, es war Mas, der auf dem Friedhof versucht hat, Flora Tapley zu entführen. Die einzige Erklärung dafür, dass er wusste, wo er ihr auflauern konnte, ist, dass Sie es ihm gesagt haben: Ort, Tag und Stunde der Beerdigung. Ich kann Ihnen jetzt schon versichern, Madame, dass wir Sie wegen Beihilfe, wenn nicht sogar Anstiftung zur Entführung anklagen werden.«
Das war eine riskant hingeworfene Bemerkung von mir. Es bestand die Möglichkeit, dass wir eine Anklage vor Gericht durchbrachten, aber ohne Mas in den Händen würde es schwierig werden.
»Ich weiß nicht, wer dieser Mann auf dem Friedhof war …«, fing sie an.
»Bitte, Madame!«, unterbrach ich sie freundlich. »Sie waren eben so freundlich festzustellen, dass ich kein Idiot bin, also bitte ich Sie, fangen Sie jetzt nicht an, mich wie einen Idioten zu behandeln. Ich für meinen Teil halte sie für eine intelligente Frau. Ihnen muss doch klar sein, dass Sie sich nicht auf diesen Mas verlassen können. Wir werden ihn fassen, glauben Sie mir. Er flüchtet im Moment wie ein gejagter Fuchs, aber wir werden ihn stellen. Die französische Polizei sucht ab sofort ebenfalls nach ihm. Sollte er auf die Idee kommen, nach Frankreich zurückzukehren, wird man ihn dort verhaften. Er wird versuchen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, Madame. Ich kenne diese Sorte. Er interessiert sich nur für seine eigene Haut. Er kennt keine Freundschaft und keine Loyalität.«
Sie sagte nichts, doch sie beobachtete mich misstrauisch. In mir flackerte ein winziger Hoffnungsschimmer auf, dass ich sie dazu bringen konnte zu verhandeln. Sie würde tun, was sie nach ihren eigenen Worten immer getan hatte: Alles, was notwendig war, und das schloss den Verrat an Mas mit ein, aber nur, wenn ich vorsichtig zu Werke ging.
»Madame«, begann ich von Neuem. »Fangen wir noch einmal von vorn an. Ich erzähle Ihnen, wie sich – meiner Meinung nach – alles zugetragen hat. Und Sie sagen mir dann, ob ich richtigliege. Ist das akzeptabel für Sie?«
»Ich kann Sie nicht daran hindern«, antwortete sie kalt.
»Thomas Tapley war ein Engländer, der viele Jahre in Frankreich gelebt hatte. Persönliche Umstände verhinderten, dass er in seine Heimat zurückkehrte. Er wurde älter und älter und fing an, das Fehlen seiner Heimatbasis zu bedauern. Sie auf der anderen Seite sind die Besitzerin einer Herberge in einem Vorort von Paris. Eines Tages spazierte Tapley in eben diese Herberge.
Er wirkte arg heruntergekommen, doch er war ein Gentleman, so viel konnten Sie gleich erkennen. Er mietete sich bei Ihnen ein. Ihnen wurde schon bald klar – weil Sie eine scharfe Beobachtungsgabe haben –, dass dieser ›arme‹ Engländer in seinen schäbigen Sachen möglicherweise nicht ganz so mittellos war, wie es anfangs schien. Er zahlte seine Miete regelmäßig und pünktlich. Er erhielt von irgendwo Geld. Vielleicht war ihm nicht bewusst, wie gut Sie seine Sprache nicht nur sprechen, sondern auch lesen und schreiben. Eines Tages, während er außer Haus war, betraten Sie sein Zimmer und verschafften sich Zugang zu seinen persönlichen Unterlagen. Er stand mit einer Bank in England in Korrespondenz und mit einer Anwaltsfirma. In den Briefen steht etwas von Besitztümern …«
Sie hatte keinen Versuch unternommen, mich zu unterbrechen, und beobachtete mich die ganze Zeit aufmerksam. Ich bin auf der richtigen Spur!, dachte ich nur.
»Sie erzählten Ihrem guten Freund Hector Mas von Ihrem neuen Mieter. Mas kann einen fetten Braten gegen den Wind riechen. Er war sehr interessiert. Ich weiß nicht, wessen Idee es war, aber Sie sollten Tapley dazu bringen, Sie zu heiraten. Um sich, so die Argumentation, auf diese Weise auf seine alten Tage ein komfortables Heim zu sichern. Vielleicht Ihre, weil Sie in der Vergangenheit wenigstens einmal bei einem Beschützer gelebt haben. Sie sind nicht mehr jung genug, verzeihen Sie meine Offenheit, um sich einen Beschützer zu suchen. Möglicherweise jedoch ist die Situation diesmal umgekehrt. Möglicherweise können Sie sich Tapley als eine Art Beschützerin präsentieren, als eine Frau, die für ihn sorgen wird und in der Position ist, ihm ein komfortables Heim zu bieten. Wie dem auch sei, es kommt zur Eheschließung.
Zuerst läuft alles nach Plan, doch dann wird Thomas krank. Sie kümmern sich hingebungsvoll um ihn. Doch als er wieder gesund wird, ist er nicht dankbar, sondern voller Misstrauen. Vielleicht hat Mas zu oft in der Herberge herumgehangen, und vielleicht hat Tapley ihn als das erkannt, was er ist. Vielleicht hat Mas Sie gefragt, warum Sie sich so sehr bemüht haben, Ihren Ehemann gesund zu pflegen, wo Sie ihn doch einfach hätten sterben lassen können, um anschließend nach England zu schreiben und die Herausgabe des Erbes zu verlangen. Sie sind inzwischen beide ziemlich sicher, dass Thomas über Vermögen verfügt. Vielleicht haben Sie während seiner Krankheit die an ihn gerichtete Post gelesen oder in seinen Papieren herumgewühlt.
Aber Tapley hat es gemerkt. Er fürchtet eine Verschwörung gegen sich, hat Angst um sein Leben. Falls er wieder ›erkrankt‹, würde kein Arzt etwas dabei finden, nicht nach der schweren Krankheit, die er gerade erst überwunden hat. Vielleicht hat Mas etwas in der Richtung zu Ihnen gesagt, Madame. Eines Tages, als Sie außer Haus sind und Mas aus dem Weg, packt Tapley seine Kiste und flieht. Er ist so verzweifelt, dass er sich nirgendwo in Frankreich sicher fühlt und nach England zurückkehrt. Er sucht seinen Anwalt in Harrogate auf, deponiert persönliche Papiere, betont die Notwendigkeit, sie sicher zu verwahren, und spricht von einem ›Zwischenfall‹. Er erweckt den Eindruck eines verängstigten, gehetzten Mannes. Habe ich bis hierher mehr oder weniger Recht, Madame?«
»Sie nehmen die Fakten, die ich Ihnen erzählt habe, und interpretieren sie auf eine andere Art und Weise, Inspector«, sagte Victorine. »Nichts von dem, was Sie gesagt haben, ist neu, außer Ihren Vermutungen, was Hector Mas angeht. Und diesbezüglich sollten Sie ihn lieber selbst fragen und nicht mich.«
»Sie suchten in Frankreich nach Ihrem Mann, und als Sie ihn nicht fanden, überlegten Sie, dass er nach England gegangen sein könnte – auch das haben Sie mir selbst gesagt«, fuhr ich fort. »Sie wussten, dass er nicht mit Ihnen nach Frankreich zurückkehren würde, falls Sie ihn fanden. Ich glaube, Sie und Mas haben von Anfang an geplant, ihn ausfindig zu machen und zu ermorden.«
Victorine sprang auf. Ihre Augen funkelten und blitzten vor Empörung. »Das ist eine Beleidigung, und es ist obendrein töricht! Warum sollte ich planen, meinen lieben Mann zu ermorden wegen Geld, das vielleicht überhaupt nicht existiert?«
»Setzen Sie sich wieder, Madame. Sie sind inzwischen beide ziemlich sicher, dass das Geld existiert. Sie waren in Harrogate und haben Tapleys Haus gesehen, The Old Hall. Sie waren am Bryanston Square, wo Tapleys Cousin Jonathan Tapley mit seiner Familie lebt, und haben sein Haus gesehen. Sie haben Erkundigungen über Jonathan Tapley eingezogen und erfahren, dass er ein reicher Mann ist. Die Tapleys sind eine geachtete, gut situierte und wohlhabende Familie. Sie haben außerdem etwas Alarmierendes herausgefunden. Mr. Jonathan Tapley ist Anwalt. Sie müssen vorsichtig sein. Sie können nicht einfach an seiner Haustür anklopfen und fragen, ob er weiß, wo Ihr Mann steckt.
Also beschließen Sie, sich die Hilfe eines Detektivs zu sichern, Mr. Horatio Jenkins. Sie geben Jenkins eine Photographie Ihres Ehemannes, und Jenkins spürt ihn auf. Sie zahlen Jenkins aus, doch er weigert sich unter irgendeinem Vorwand, Ihnen die Photographie zurückzugeben. Damit hat er, ohne es zu wissen, sein Todesurteil unterschrieben. Mas geht zu dem Haus, in dem Thomas Tapley logiert. Er betritt das Haus in Abwesenheit der Dienstmagd durch die Küchentür, schleicht die Hintertreppe hinauf, findet Ihren Ehemann lesend in seinem Zimmer und erschlägt ihn von hinten. Er durchsucht den Raum oberflächlich, doch er findet nirgendwo eine Spur von Korrespondenz mit dem Anwalt in Harrogate noch sonst irgendetwas Schriftliches, aus dem hervorgeht, dass Tapley Angst um sein Leben hatte, sollte seine Frau ihn finden. Kein Tagebuch, kein Brief, ›Zu öffnen im Fall meines Todes‹. Er geht in das nächste Zimmer, Tapleys Schlafzimmer. Er will nicht länger bleiben als nötig angesichts des Toten auf dem Teppich nebenan, doch eine Lösung bietet sich an. Auf dem Nachttisch neben dem Bett liegt ein Haustürschlüssel. Mas steckt ihn ein in der Absicht, später zurückzukehren und die beiden Zimmer in Ruhe zu durchsuchen. Dann verschwindet er.«
»Sie irren sich!«, keifte Victorine. »Sie liegen vollkommen falsch!« Sie rang sichtlich um Fassung. »Hector war nicht dort! Er hat meinen Mann nicht ermordet!« Sie riss sich mühsam zusammen. »Der elende Detektiv hat sich geweigert, uns die Adresse meines Mannes zu geben. Er wollte nur mehr Geld!«
»Wer sonst könnte den Tod Ihres Mannes wünschen? Wer sonst würde in das Privathaus einer respektablen Quäkerwitwe eindringen, sich nach oben schleichen und ihren harmlosen, scheinbar mittellosen Untermieter erschlagen?«
»Hector hat ihn nicht getötet!«, wiederholte sie halsstarrig. »Genauso wenig wie ich, falls Sie das glauben!«
»Was ist mit Jenkins, dem Detektiv, den Sie angestellt haben? Irgendjemand hat den unglückseligen Burschen umgebracht. Irgendjemand hat sein Büro auf den Kopf gestellt und von oben bis unten durchwühlt. War das Mas? Hat er nach der Photographie gesucht? Sie war nicht dort. Wir haben herausgefunden, wo sie war, und wir haben sie in Besitz genommen!«
Das überraschte sie so sehr, dass sie fassungslos stammelte. »W-wo war sie?«
»Jenkins hatte sie jemandem gegeben, damit er sie verwahrte. Kommen Sie, Madame, die Indizienbeweise gegen Sie und Mas sind sehr eindeutig. Es steht außer Zweifel, dass Sie wegen der versuchten Entführung von Flora Tapley vor Gericht gestellt werden. Der Zeitpunkt ist gekommen, sich selbst zu helfen, weil Sie ohne Mas alleine mit einer Anklage wegen Verschwörung zu Mord und Verführung konfrontiert werden. Sie haben mir selbst gesagt, Madame, dass Sie immer getan haben, was zum Überleben notwendig war. Tun Sie es auch jetzt.«
Sie atmete tief durch. »Also schön, ich werde Ihnen erzählen, was passiert ist. Wenn Sie mir nicht glauben …«, sie zuckte die Schultern. »Ich kann es nicht ändern. Aber Hector war nicht in diesem Haus und hat meinen Mann getötet. Er war bei Jenkins und verlangte die Herausgabe der Photographie. Jenkins weigerte sich. Hector bedrohte ihn törichterweise mit einem Messer. Jenkins versuchte es zu packen, und es kam zum Kampf. Jenkins wurde erstochen. Der Tod des Detektivs war ein Unfall. Es lag nicht in Hectors Absicht, ihn zu töten. Hector durchsuchte das Büro, aber er konnte die Photographie nicht finden. Jetzt sagen Sie, dass Sie sie haben. Ich kann nur wiederholen, ich habe mich nicht mit Hector Mas verschworen, Flora Tapley zu entführen. Ich weiß nicht, wer der Mann auf dem Friedhof war, genauso wenig wie Sie, Inspector! Es gibt nichts, Mr. Ross, absolut nichts an Beweisen, das Sie berechtigt, mich wegen eines Verbrechens anzuklagen!«
»Aber ich werde Beweise haben«, sagte ich zuversichtlich. »Sobald ich Mas habe. Er wird nämlich reden, wissen Sie? Er wird alles gestehen, um seine Haut zu retten. Er wird Sie belasten. Er wird sagen, es war alles Ihre Idee, Ihr Plan, nach England zu kommen. Er wird behaupten, Sie hätten ihn überredet, bezahlt, überlistet, was auch immer. Sie haben mir gegenüber soeben gestanden, dass Sie das Wissen um ein kapitales Verbrechen für sich behalten haben, den Mord an Jenkins. Sie sagen, Hector Mas war verantwortlich. Wenn Sie wissen, wo wir Mas finden können, und sich weigern, es uns zu verraten, machen Sie sich nicht nur der Mitwisserschaft schuldig, sondern auch der aktiven Strafvereitelung, weil sie den Aufenthaltsort eines gesuchten Mannes verschweigen. Bevor Sie sich weigern, mit uns zu sprechen, Madame, überlegen Sie doch bitte selbst, ob Hector Mas Ihnen gegenüber die gleiche Loyalität an den Tag legen wird, wie Sie es tun? Er ist ein erbärmlicher Kleinkrimineller und Trickbetrüger. Für Leute wie ihn gibt es keine Ehre und kein Ehrenwort, nicht einmal unter Dieben.«
Sie holte seufzend Luft, verdrehte die Augen und zuckte die Schultern. Meine Zuversicht stieg. Sie würde reden! Sie würde vielleicht nicht alles erzählen, aber sie würde uns zumindest erzählen, was sie über Mas wusste.
»Also schön. Er ist in Wapping.« Sie redete leise und mit abgewandtem Blick, als schämte sie sich, einen Mann zu betrügen, obwohl sie wissen musste, dass er ein wertloser Mistkerl war. »Er hat in einem Gasthof mit Namen Silver Anchor logiert. Er hat natürlich einen anderen Namen benutzt, Pierre Laurent. Ich weiß nicht, ob er immer noch dort wohnt. Vielleicht versucht er, eine Passage nach Übersee zu ergattern, indem er sich auf einem der Schiffe im Hafen als Hilfsmatrose verdingt. Als er jünger war, ist er auf dem ganzen Mittelmeer herumgekommen, auf Handelsschiffen. Vielleicht hat er das Land bereits für immer verlassen. Falls das so ist, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.«
»Das war sehr klug von Ihnen, Madame«, sagte ich, bemüht, meinen Tonfall ernst zu halten und mir meine Hochstimmung nicht anmerken zu lassen.
Sie starrte mich hasserfüllt an. »Sie werden niemals beweisen, dass Hector und ich uns verschworen haben, meinen Mann zu ermorden!«, sagte sie. »Weil wir es nämlich nicht getan haben. Sie werden niemals Beweise finden, die etwas anderes erzählen!«