KAPITEL DREI
Patience Jameson
»Wie ich bereits erwähnte, war der Name meines Ehemanns Ernest, und er war der Kapitän des Klippers Josie. Seeleute verbringen zwangsläufig einen Großteil ihrer Zeit fernab der Heimat, und ich pflegte ihn oft zu necken, dass er mehr mit Josie zusammen war als mit mir.
Seine letzte Fahrt führte ihn zu den Westindischen Inseln. Auf der Heimreise nach London erkrankte er am Fieber und starb. Wir stammen beide aus Quäker-Familien, und keiner von uns rührte auch nur einen Tropfen Alkohol an, gleich welcher Art. Auch seiner Mannschaft verbot Ernest den Alkohol. Doch auf dieser letzten Reise befanden sich unter der Fracht einige Fässer Jamaikarum. Der Bootsmann hatte nach Ernests Tod das Kommando übernommen und schlug vor, den Leichnam in Rum zu konservieren, um ihn zu mir nach Hause bringen und beerdigen zu können. Natürlich hätten sie ihn auch auf See bestatten können, doch Mr. Brand – der Bootsmann – dachte, dass ich Ernests sterbliche Überreste lieber in England zur letzten Ruhe betten wollte. Das war sehr freundlich von Mr. Brand. Also stachen sie ein Fass an und kippten den Rum in ein anderes Behältnis. Dann haben sie Ernests Leiche irgendwie zusammengeklappt, in das Fass gesteckt und dieses wieder mit Rum aufgefüllt und schließlich den Deckel darauf befestigt. Ich weiß nicht, was sie mit dem restlichen Rum gemacht haben. Ich fürchte, sie haben ihn getrunken. Doch die Methode war erfolgreich, und Ernest wurde in Alkohol konserviert zu mir zurückgebracht. Ich habe ihn in seiner Heimatstadt Norwich begraben und empfand es als einen Trost.
Das war ziemlich merkwürdig, wissen Sie, aber als der Bestatter Ernest für die Beerdigung vorbereitete, fragte er mich, ob er den Verstorbenen rasieren und ihm die Haare schneiden sollte, bevor ich meinen geliebten Mann im Sarg zu sehen bekam. Ich sagte ihm, dass dies sicher nicht nötig sein würde. Doch er erklärte mir, dass Ernests Haare, Bart und Schnurrbart nach seinem Tod und während der Heimreise im Fass noch weiter gewachsen wären und das Ernest inzwischen aussah wie ein Straßenräuber oder ein Eremit. Ich stimmte also zu, damit Ernest bei der Beerdigung wieder wie ein zivilisierter Mensch aussah.
Ich war es gewöhnt, über längere Zeiträume hinweg allein zu sein, während sich mein Ehemann auf See befand, und sämtliche wichtigen Entscheidungen und Arrangements für mich allein zu treffen, und so kam ich besser zurecht als manch andere Witwe. Ernest hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, sodass ich nicht mittellos zurückblieb. Natürlich erbte ich auch das Haus. Doch ich musste sehr sparsam haushalten, und so kam ich auf die Idee, einen Untermieter zu nehmen. Ich überlegte, nach Möglichkeit an einen älteren Gentleman zu vermieten. Junge Männer sind unzuverlässig. Ein älterer Mann macht wenig Ärger. Junge Vertreter und Handlungsreisende hingegen sind geradezu prädestiniert für Scherereien, Mrs. Ross, und volltrunken nach Hause zu kommen ist nur eine der Unannehmlichkeiten, die sie einem bereiten! Ich fragte zuerst bei der Quäkergemeinde nach, doch zum damaligen Zeitpunkt suchte niemand dort eine Unterkunft. Also gab ich eine sorgfältig formulierte Anzeige in einer der lokalen Zeitungen auf, in der ich betonte, dass es sich um einen alkoholfreien Haushalt handelte. Gleich am nächsten Tag meldete sich Mr. Tapley.
Er wirkte ein wenig heruntergekommen, doch es war offensichtlich, dass er ein Mann von vornehmer Herkunft und entsprechender Bildung war. Er strahlte so eine – eine Herzensgüte aus, in seinem Gesicht, seiner Art und seiner Stimme. Ich habe keine andere Beschreibung dafür. Man könnte sagen, eine Art Unschuld.
Normalerweise hätte ich gezögert, einen mir völlig unbekannten Mann ohne richtige Referenzen in mein Haus zu nehmen. Er brachte nur eine einzige Empfehlung, von seiner früheren Wirtin in Southhampton. Sie schrieb, dass er ein vorzüglicher Mieter gewesen war, stets rechtzeitig seine Miete gezahlt und keine Unruhe gestiftet hatte. Sie bedauerte seinen Auszug. Ich fragte ihn, was der Grund für seinen Ortswechsel war, und er antwortete, er hätte Lust verspürt, nach London zurückzukehren, wo er als junger Mann gelebt hatte.
Es hört sich unbefriedigend an, ich weiß, doch Mr. Tapley erwies sich in den sechs Monaten seit seiner Ankunft als ausgezeichneter Untermieter. Er zahlte seine Miete stets pünktlich. Ich habe niemals auch nur einen Tropfen Alkohol bei ihm feststellen können. Er war sehr zurückhaltend. Fast jeden Tag unternahm er einen ausgedehnten ›Ertüchtigungsspaziergang‹, wie er es nannte. Ich denke, an regnerischen Tagen hat er öffentliche Bibliotheken oder Museen aufgesucht. Oft brachte er Bücher mit nach Hause, die er bei Straßenständen gekauft hatte. Einmal zeigte er mir einen besonders schönen, in Leder gebundenen Band, den er nach seinen Worten für Sixpence von einem Mann erworben hatte, der in Whitechapel Bücher aus einem Karren heraus verkaufte. Mr. Tapley hat viel gelesen.
Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Es gab zu keinem Zeitpunkt Anzeichen, es könnte etwas nicht stimmen. Es scheint selbst jetzt noch ganz und gar unmöglich, dass so etwas passieren konnte. Ich denke nicht, dass ich jemals wieder einen Untermieter bei mir aufnehmen kann.«
Elisabeth Martin Ross
Mrs. Jameson hatte gerade erst aufgehört zu erzählen und wischte sich die Tränen von den Wangen, als ein lautes Geräusch an der Vordertür erklang und uns alarmiert aufschrecken ließ. Mrs. Jameson sprang auf und sah mich mit gehetztem Blick an. Ich bedeutete ihr, sich wieder zu setzen und hier im Salon zu warten, während ich nachsehen ging, wer an der Tür war. Vermutlich, so beruhigte ich die Witwe, war Ben mit den Beamten vom Scotland Yard zurückgekehrt. Sie sank nicht völlig überzeugt auf ihren Stuhl zurück. Ich hatte ebenfalls Zweifel, dass Ben schon zurück war. Es war kaum ausreichend Zeit vergangen, um den Yard zu erreichen, geschweige denn zurückzukehren. Daher trat ich zum Fenster und spähte nach draußen. Vor der Tür wartete eine stämmige Gestalt in einem Umhang und mit einem Polizeihelm auf dem Kopf.
Beruhigt öffnete ich die Tür. Auf der Schwelle stand ein Constable, der den Türrahmen beinahe gänzlich ausfüllte. Von seinem Umhang perlten Regentropfen. Ich sah an ihm vorbei und stellte fest, dass es angefangen hatte zu nieseln und die Straße nass war.
»Dies dürfte der Haushalt sein, wo sich der Zwischenfall ereignet hat?«, erkundigte sich der Neuankömmling und trat einen Schritt vor.
Ich hatte nicht die Absicht, mich beiseiteschieben zu lassen. »Wer sagt das? Und wer sind Sie überhaupt?«, fragte ich unfreundlich.
Er bedachte mich mit einem herablassenden Blick. »Ich bin Constable Butcher, Ma’am, und das …«, er deutete auf die hinter ihm liegende Straße, »… das hier ist Teil meines Reviers. Ich befand mich auf meiner üblichen Streife und war gerade am anderen Ende, wo ich einem Inspector vom Yard begegnete, der mir sagte, dass ich umgehend hier vorbeischauen sollte. Es hätte einen Vorfall gegeben, und man müsste ermitteln. Also bin ich hier, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, Ma’am, wenn Sie mir gestatten würden einzutreten. Derzeit behindern Sie mich nämlich bei der Arbeit. Sind Sie die Eigentümerin des Hauses?«
»Nein, ich bin Mrs. Ross, die Ehefrau des Inspectors, der Sie hergeschickt hat. Die Eigentümerin heißt Mrs. Jameson, und sie wartet im Salon … Und bei dem Vorfall, auf den Sie sich beziehen, handelt es sich um einen ermordeten Mann in einem Zimmer im ersten Obergeschoss.«
Es gelang mir nicht, meinen verärgerten Tonfall zu unterdrücken, doch ich trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn ein. Hinter mir erschien Mrs. Jameson in der Tür zum Salon. Der Beamte trampelte an uns vorbei, schälte sich aus seinem Umhang und zögerte kurz, dann faltete er ihn vorsichtig zusammen und hängte ihn sich über den Arm, von wo aus die Nässe auf den Boden der Eingangshalle zu tropfen anfing. Mrs. Jameson stieß einen leisen protestierenden Laut aus.
»Ob es sich um einen Mordfall handelt, Ma’am, muss erst noch festgestellt werden. Solange diese Frage nicht vom Coroner beantwortet worden ist, handelt es sich um einen Zwischenfall. Wo befindet sich der Verstorbene? Die Treppe hoch, sagten Sie?« Er wandte sich in Richtung Treppe.
»Mein Mann … Inspector Ross bat mich sicherzustellen, dass niemand nach oben geht, bevor er zurück ist!«, sagte ich laut.
Constable Butcher blieb stehen und blickte sich zu mir um, den Stiefel bereits auf der ersten Stufe. »Er hat damit nicht das Gesetz gemeint, Ma’am!« Sein Blick war nun genauso herablassend wie sein Ton.
Ich musste ohnmächtig mitansehen, wie er die Stufen hinaufstieg. Ich konnte hören, wie er hin und her trampelte, und schließlich hörte ich ihn laut ausrufen: »Ach du Scheiße!« In der Folge war zu hören, wie er Türen öffnete und schloss, vermutlich auf der Suche nach dem Täter. Schließlich erschien er wieder am oberen Absatz und kam die Treppe herunter.
»Ich bewache das Haus, Ma’am, bis die Kollegen vom Yard hier sind«, verkündete er. »Sie gehen besser und setzen sich mit der anderen Lady in den Salon.«
In diesem Moment ertönte aus dem hinteren Teil des Hauses lautes Geklapper, und Stimmen waren zu hören.
»Einbrecher!«, rief Constable Butcher, indem er seinen Schlagstock packte und Anstalten machte, sich Ihnen entgegenzustellen.
Ich bekam seinen Ärmel zu fassen, als er davonstürzen wollte. »Das wird lediglich das Dienstmädchen sein, das zu uns geschickt wurde, um uns zu informieren. Möglicherweise hat unser Mädchen es begleitet.«
»Das werden wir gleich sehen, Ma’am!«, sagte Constable Butcher. »Bis ich mich selbst überzeugt habe, könnte es sich auch um Eindringlinge handeln! Dort oben liegt ein Toter, voller Blut und schrecklich anzusehen, und der Übeltäter könnte sich noch immer im Haus befinden!«
Ich dachte bei mir – und hoffte inständig –, dass der Mörder das Haus längst verlassen hatte. Wenigstens hatte Constable Butcher Tapleys Tod von einem »Zwischenfall« zu einer Gewalttat hochgestuft, und das ohne jede Mithilfe des Coroners.
Er setzte sich in Bewegung, und ich eilte hinter ihm her. Mit Schwung stieß er die Tür auf, und tatsächlich, dort saßen Jenny und Bessie am Küchentisch. Als Butcher hereinplatzte, sprangen sie erschrocken hoch. Jenny schrie auf, und es schien, als könnte sie jeden Moment erneut zu schluchzen anfangen.
Ich schob mich an dem Constable vorbei in die Küche. »Ich hatte also Recht. Diese junge Frau ist das Dienstmädchen des Hauses, und die andere hier ist meine Magd«, sagte ich.
»Wenn Sie es sagen, Ma’am«, gab er widerstrebend nach. Er starrte die Mädchen böse an. »Wie seid ihr hereingekommen?«, fragte er.
»Durch die Hintertür!«, giftete Bessie zurück. »Was denken Sie denn? Wir gehen nicht durch den Vordereingang. Wir sind Dienermädchen.«
Butcher nahm irritiert die Hintertür in Augenschein. Ich nahm an, er überlegte, wie er Vorder- und Hintertür gleichermaßen bewachen konnte. Schließlich trottete er zur Hintertür und legte den Balken ein, der sie gegen unbefugten Zutritt von außerhalb sicherte. Dann ging er zum Küchenfenster und rüttelte am Riegel.
Erst dann wandte er sich zu uns dreien um. »Dieser Balken bleibt vor der Tür, bis ein Beamter ihn entfernt«, ordnete er an. »Sie kehren in den Salon zurück, Mrs. Ross, das ist das Beste, was Sie tun können. Und ihr beide hier …«, Butcher starrte die Mädchen misstrauisch an. »Ihr bleibt hier. Kommt nicht auf die Idee, den Balken vor der Tür anzurühren, nicht einmal, wenn der Erzengel Gabriel persönlich anklopft und Einlass erbittet. Ich für meinen Teil gehe jetzt sämtliche Fenster im Erdgeschoss überprüfen und bewache die Vordertür. Sollte jemand kommen, so werde ich aufmachen und sehen, was zu tun ist.«
Zu unserer großen Erleichterung stiefelte er los, um seine Ankündigung in die Tat umzusetzen.
»Wer ist denn dieser fette Klops?«, fragte Bessie empört.
»Es ist der für dieses Gebiet zuständige Constable.«
»Er ist hoffentlich nicht der ermittelnde Beamte, oder?«
»Ganz bestimmt nicht!«, antwortete ich. »Mach dir keine Sorgen. Inspector Ross regelt das. Wie fühlst du dich jetzt, Jenny?«
»Ganz furchtbar, Missus! Ich bin völlig durcheinander!«, antwortete das Mädchen weinerlich.
»Mach ihr noch einen Tee, Bessie. Jenny, die Beamten vom Scotland Yard werden mit dir reden wollen, also nimm dich zusammen.«
»Ich kann nicht noch mehr Tee trinken!«, protestierte Jenny. »Ich bin schon ganz aufgedunsen!«
»Dann bleib zumindest ruhig sitzen. Bessie, mach das Herdfeuer an, und bleib hier bei ihr.«
Ich kehrte zum Salon zurück und versicherte Mrs. Jameson, dass alles so weit unter Kontrolle war. In diesem Augenblick hörten wir Hufgeklapper und das Geräusch von Rädern. Erneut rannte ich zum Fenster. Draußen war eine geschlossene Droschke vorgefahren. Sie glänzte vor Nässe, genau wie der schwere Umhang des Kutschers. Zu meiner Erleichterung sprang Ben aus der Kutsche, gefolgt von zwei weiteren Männern. Der jüngere der beiden war Constable Biddle. Der andere war mir unbekannt, ein älterer Mann mit einem grauen Schnurrbart, der eine mir vertraut aussehende Tasche bei sich trug. Es war der Doktor, der gerufen worden war, um den Totenschein auszustellen und eine grobe Einschätzung vorzunehmen, wie lange der arme Tapley bereits tot war.
Sie hasteten in Richtung Eingang, und ich hörte, wie Butcher sie begrüßte. Dann waren sie in der Eingangshalle.
»Keine Sorge«, beruhigte ich Mrs. Jameson, die mich aus verängstigten Augen ansah. »Es sind die Beamten vom Scotland Yard.«