KAPITEL SECHS

Elisabeth Martin Ross

In der vorangegangenen Nacht hatte ich versucht, so lange wie möglich wach zu bleiben und auf Bens Rückkehr zu warten. Doch nachdem ich fortwährend in meinem Sessel eingenickt war, hatte ich mich schließlich in mein Bett geschleppt. Am Morgen fand ich meinen Ehemann im gleichen Sessel vor dem mittlerweile kalten Kamin schlafend. Nach so einer unruhigen Nacht war es nicht weiter überraschend, dass es Bessie und mir am nötigen Schwung mangelte, unseren gewohnten morgendlichen Aufgaben nachzugehen. Ich verabschiedete Ben, der Mrs. Jameson und Jenny nach Hause begleitete. Ich fragte mich, wie er die Ermittlungen durchstehen wollte – die allem Anschein nach anstrengend zu werden versprachen –, wenn er die meisten Nächte keinen Schlaf fand.

Ich schickte die gähnende Bessie zum Fleischer Hammelkoteletts kaufen. Nicht ohne sie zuvor zu ermahnen, sich nicht beim Tratsch über die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu vertrödeln, sondern umgehend wieder nach Hause zurückzukehren. Ich selbst machte mich auf den Weg zu einer Spitzenklöpplerin, um zu sehen, welche Fortschritte sie mit den bei ihr in Auftrag gegebenen Kragen und Manschetten machte, von denen ich hoffte, dass sie ein unscheinbares Kleid ein wenig aufbessern würden. Mein Weg führte mich am Terminus der Eisenbahn in Waterloo vorbei. Hier herrschte stetes Gedränge, und ich wusste, dass ich auf meinen Geldbeutel aufpassen musste. Es war reiner Zufall, dass ich auf dem Rückweg von der Spitzenklöpplerin Kohlenhaus-Joey erspähte.

Joey vermied es normalerweise, Aufmerksamkeit zu erregen. Aufmerksamkeit bedeutete, soweit es ihn betraf, stets Ärger. Landstreicherei war strafbar. Doch ich bemerkte eine flüchtige Bewegung aus den Augenwinkeln, und da war er, hastete die Straße entlang, immer im Schatten der Mauern, wie es Ratten oder streunende Katzen getan hätten.

Er hielt sich stets tief geduckt, um nicht die Aufmerksamkeit von Ladeninhabern oder patrouillierenden Ordnungskräften auf sich zu ziehen. Spontan rief ich seinen Namen. Ich befürchtete schon, er würde in die nächste Gasse flüchten und im Labyrinth der Höfe und Gassen dahinter untertauchen, doch er zögerte und beäugte mich misstrauisch.

»Ich bin es, Mrs. Ross. Du kennst mich doch, Joey!«, rief ich und winkte ihm zu.

Bessie wäre nicht damit einverstanden gewesen. »Sie sollten sich von ihm fernhalten, Missus«, hatte sie mir bei etlichen Gelegenheiten gesagt. »Sie fangen sich irgendwas ein, wenn Sie ihm zu nah kommen. Er ist voller Läuse und Nissen, und die Wäscherkrätze hat er auch. Außerdem stinkt er fürchterlich.«

Sie hatte Recht, zumindest was den Geruch anging. Ein strenger Hauch wehte mir entgegen, als Joey sich näherte. Ich bezweifelte, dass er jemals gebadet hatte oder auch nur mit Wasser in Berührung gekommen war; die hieraus resultierende bräunlich-graue Schicht überzog seine Haut wie eine Schutzschicht. Es war nur schwer vorstellbar, wie er bisher überlebt hatte oder welches arme Ding ihn in die Welt gesetzt hatte. Er war noch ein Kind an Jahren und Gestalt, doch was Erfahrungen betraf, war er ein alter Mann. Sein dürrer Leib steckte in einer zusammengewürfelten Mischung verdreckter Lumpen. Er hatte spitze Zähne wie ein Tier und ein paar davon bereits verloren. Als mir zum ersten Mal klar geworden war, dass er in unserer Nachbarschaft lebte, hatte ich Ben gefragt, ob wir nicht irgendetwas für ihn tun könnten.

»Inwiefern?«, hatte Ben gefragt.

»Vielleicht könnte man ihn in einem Handwerk ausbilden.«

»Kein Handwerker würde ihn aufnehmen«, entgegnete Ben. »Obwohl er die richtige Statur hätte, um einen Kamin hochzuklettern.«

Daraufhin ließ ich mich empört über die Missstände aus, unter denen die Kletterjungen leiden mussten. Ben entgegnete, dass er selbst auch als Junge in den Minen von Derbyshire gearbeitet hatte. »Ich musste stundenlang in der kalten Dunkelheit hocken, in ständiger Angst vor Ratten und davor, am Ende der Schicht vergessen zu werden und für alle Zeiten dort unten gefangen zu sein! Wäre nicht die Großzügigkeit deines Vaters gewesen, ich wäre heute noch in der Mine und würde nach Kohle schürfen.«

»Dann solltest du Kohlenhaus-Joey gegenüber etwas mehr Mitgefühl zeigen«, folgerte ich.

»Aber ich zeige Mitgefühl!«, erwiderte Ben. »Ich habe ihn zweimal erwischt, wie er aus unserem Kohlenhaus gekrochen kam und ihn nicht wegen Einbruchs oder unbefugten Betretens festgenommen. London ist voll von streunenden Kindern, Lizzie. Du kannst dich nicht um alle kümmern.«

So war Joey zu seinem Spitznamen gelangt. In kalten, nassen Nächten kroch er in die Kohlenhäuser der Leute oder in ihre Keller. Seine kleine Gestalt passte durch schmalste Lücken und winzige Fenster. Es war ein Wunder, dass die Einbrecherinnung noch nicht versucht hatte, sein Talent für ihre Zwecke auszunutzen. Joey verschwand stets bei Tagesanbruch, und außer einem Abdruck seiner kleinen Hand oder seiner Füße im Kohlestaub wies nichts darauf hin, dass er da gewesen war. Er stahl nichts aus den Häusern, in denen er heimlich nächtigte, und Hauseigentümer wie Dienstmädchen zuckten nur die Schultern. »Es war nur Kohlenhaus-Joey«, sagten sie. Vielleicht wurde er irgendwann in der Zukunft zu einer Legende ähnlich Willow dem Waldlicht oder – falls er einen übleren Ruf erlangte – ähnlich Springfeder-Jack. (Ben hatte mir erzählt, dass die Polizei von Zeit zu Zeit immer noch Meldungen erhielt, dass diese seltsame Gestalt gesehen worden wäre.)

Wie dem auch sei, auf dem Weg nach Hause hatte ich ein paar Äpfel gekauft. Ich nahm einen davon aus meinem Korb und hielt ihn Joey hin. Der Knabe näherte sich mit leuchtenden Augen. Doch nicht unähnlich einem wilden Tier wollte er den Apfel nicht aus meiner Hand annehmen. Also legte ich ihn auf den Bürgersteig. Joey sprang blitzschnell vor, packte ihn mit festem Griff und zog sich wieder zurück. Er starrte mich unter einem Schopf verfilzter Haare hervor aus großen, dunklen Augen an und murmelte seinen Dank.

»Ich habe dich einige Tage nicht gesehen, Joey«, sagte ich.

»Der alte Butcher ist hinter mir her.« Ich war überrascht ob seiner klaren, deutlichen Aussprache.

»Du meinst Constable Butcher?«

»Jepp, aber er kriegt mich nicht. Er kann nicht rennen. Er ist zu fett.«

»Möglicherweise erwischt er dich eines Tages doch, Joey. Warum gehst du nicht zum Armenhaus? Dort würde man dich aufnehmen.«

»Ich gehe in kein Armenhaus!«

»Du würdest dort Essen bekommen.«

»Ich krieg auch so Essen.« Er hielt den Apfel hoch. »Sehen Sie? Manchmal geben mir die Leute Brot. Ich klapper die Hintertüren der Lokale ab. Einige Köche kennen mich. Sie lassen mir das Essen, das aus dem Speisesaal zurückkommt. Was die Leute auf dem Teller gelassen haben, wissen Sie? Die Leute lassen es einfach zurückgehen. Manchmal ’ne ganze Kartoffel, Fett vom Fleisch, Bratensoße …« Bei dem Gedanken an all die Leckerbissen bekam Joey sehnsüchtige Augen. »Wie auch immer«, fügte er unvermittelt hinzu. »Ich brauch kein Armenhaus.«

Er blinzelte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Da hat es einen Mord in Ihrer Straße gegeben«, sagte er.

»Oh, du hast also davon gehört, ja?«, fragte ich überrascht.

»’türlich hab ich das. Ich weiß über alles Bescheid, was ringsum passiert. Soweit ich gehört hab, war es ein kleiner alter Kerl, den es da erwischt hat.« Er sah mich erwartungsvoll an.

Mir wurde klar, dass sich gerade eine Art Geschäft entwickelte. Ich hatte Kohlenhaus-Joey einen Apfel gegeben. Er wollte sich erkenntlich zeigen – oder sich auch zukünftig kleine Lebensmittelgeschenke sichern –, indem er mir im Gegenzug auch etwas anbot.

»Das ist richtig. Sein Name ist, oder vielmehr war, Mr. Tapley. Mr. Thomas Tapley.«

»Den Namen kenn ich nicht«, entgegnete Joey. »Ich weiß nur, dass er jeden Tag rausgegangen ist, selbst wenn es geregnet hat. Er hatte so ’nen alten Regenschirm, sah ganz komisch aus damit.«

»Leider wirst du Mr. Tapley nun nicht mehr sehen, Joey.«

»Wird so sein«, sagte Joey unbekümmert. Er legte den Kopf auf die Seite. »Ich hab allerdings auch seinen Besuch gesehen.«

Ich hatte Mühe, mir meine Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Ich schätze, Joey wusste trotzdem genau, dass er mich überrascht hatte, denn er grinste zufrieden. Er hatte gehofft, mir als Gegenleistung für den Apfel eine Information überlassen zu können, die ich noch nicht besaß, und das war ihm gelungen.

»Wann ist das gewesen, Joey?«

Er runzelte die Stirn. »Ich kenn die Tage nicht. Sind alle gleich für mich, mit Ausnahme vom Sonntag, wenn die Kirchenglocken läuten. Ist drei oder vier Tage her, vielleicht ’ne Woche, bevor der Alte abgekratzt ist.«

»War der Besucher bei ihm zu Hause?«

Joey nickte. »Aber es war im Geheimen. Die Lady, der das Haus gehört? Sie war nicht daheim.« Er hielt inne, und überlegte, was er über den Haushalt der Witwe wusste. »Zwecklos, die Magd nach was Essbarem zu fragen. Manche geben mir ein paar Bissen Brot, wenn ihre Missus nicht da ist. Ihre nicht!« Joey sah mich grollend an. »Ihre ist übellaunig, wissen Sie? Genau wie die in dem Haus, wo der Mord passiert ist, die mit den roten Haaren. Die gibt auch nichts. Also schenk ich es mir, ums Haus rum zur Hintertür zu gehen und zu fragen. Als ich gesehen hab, wie die Lady das Haus verlassen hat, bin ich geblieben, wo ich gerade war. Hab in einer Seitengasse auf der anderen Straßenseite gesessen.«

»Und?«, drängte ich ihn ungeduldig.

»Dann hab ich ’nen jungen Kerl gesehen, kam die Straße lang. Nicht besonders groß, der Bursche. Hatte ’nen schwarzen Mantel an, mit so ’nem hohen Kragen, dazu ’nen Hut. Hatte ihn so aufgesetzt, dass man kaum was von seinem Gesicht sehen konnte. Sah aus, als wär er noch sehr jung gewesen. Stampfte nicht daher, wie es der alte Butcher tut, sondern hüpfte wie eine Feder. Er kam auf meine Seite rüber – ich meine dorthin, wo ich in der Gasse saß. Ich kroch in den Schatten und war mucksmäuschenstill. Sehn Sie, ich dachte mir, dass er was vorhatte. Er blieb stehen, direkt vor mir, ich hätt nur ein wenig den Arm ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er hat nicht gemerkt, dass ich da war. Er hat nur dagestanden und das Haus angestarrt. Dann kam der alte Tapley, wie Sie ihn nennen, zum Fenster im Obergeschoss und sah nach draußen. Er sieht den jungen Kerl, wie der so zu ihm hochglotzt, und macht das Fenster auf, um sich rauszulehnen. Er hat nichts gerufen. Hat nur auf die Haustür gezeigt und den Finger an die Lippen gelegt, so in etwa.« Joey hob einen schmuddeligen Zeigefinger an den Mund und machte das Zeichen für Schweigen. »Der junge Kerl hat also wieder die Straßenseite gewechselt und sich vor die Tür gestellt. Die geht auf, und ich seh, dass es der alte Tapley ist, nicht die rothaarige Magd. Der Kerl flitzt rein, und Tapley macht die Tür schnell und leise wieder zu. Er hat ihn heimlich reingeschmuggelt, so sieht’s aus. Ganz heimlich, wissen Sie? Er wollte nicht, dass es jemand mitkriegt.«

Ich hatte genau den gleichen Eindruck. Ben musste so schnell wie möglich davon erfahren.

»Wie lange ist der Besucher geblieben, Joey?«

»Nicht lang. Vielleicht ’ne halbe Stunde oder so. Dann hat Tapley ihn wieder rausgelassen, und der junge Kerl hat sich die Straße runter davongemacht.« Joey schenkte mir ein kurzes Lächeln. »Und ich bin hinterher. Ich wollt wissen, wo er hinging.«

»Und wohin ist er gegangen?«

Das triumphierende Leuchten in Joeys Gesicht war nun nicht mehr von der Hand zu weisen. »Das ist das Allerbeste. Er marschiert um die Ecke, dann die Straße runter Richtung Fluss. Dort steht ’ne Kutsche, mit geschlossener Kabine, ein wirklich schickes Ding, mit ’nem Paar wunderschöner Pferde. Ich mag Pferde«, fügte er hinzu. »Diese hier sind die Krönung, zueinander passend, golden glänzende Füchse mit hellen Mähnen und Schweifen. Verdammt, die müssen ’n Vermögen gekostet haben, diese Pferde.«

»Also reden wir hier von einer privaten Kutsche«, merkte ich an.

Er nickte. »Keine von diesen alten Mietdroschken hat so ’n perfektes Gespann, nicht eine davon! Der Wagen war glänzend schwarz poliert. Der Kutscher hatte so einen schicken Mantel an und ’nen Hut und all den Kram. Der junge Kerl, der, der den alten Tapley besucht hat, springt in die Kutsche, und ab geht’s die Straße runter, geradewegs auf die Brücke zu.«

Das war tatsächlich eine ebenso merkwürdige wie geheimnisvolle Angelegenheit! »Der Besucher ist nicht wiedergekommen, Joey?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn zumindest nicht mehr gesehen. Auch die Kutsche nicht. Ich hab danach Ausschau gehalten, weil ich die Pferde noch mal sehen wollte.«

»Joey«, sagte ich ernst, »das alles wird meinen Mann interessieren. Es geht um einen Mord, und sämtliche Informationen sind äußerst wichtig. Würdest du heute Abend zu mir nach Hause kommen und Inspector Ross erzählen, was du mir erzählt hast?«

Doch das war mehr verlangt, als der Apfel wert war. »Ich red nicht mit Bullen!«, sagte Joey mit Nachdruck. »Nicht mal, wenn sie in Zivil sind wie Ihr Macker.«

Und mit diesen Worten rannte er davon und war kurz darauf verschwunden.

Ich eilte in unsere Straße zurück und zum Haus der Witwe Jameson. Wie ich am verkratzten Holz um den Bereich des Schlosses in der Haustür erkennen konnte, war der Schlosser inzwischen da gewesen und hatte seine Arbeit gemacht. Doch auch nach mehrfachem Betätigen des Türklopfers erschienen weder Ben noch Morris, um mir zu öffnen, obwohl Ben mir von seinem Vorhaben erzählt hatte, Morris mitzunehmen, damit er ihm bei der Durchsuchung von Thomas Tapleys Zimmern half. Ich wanderte sogar die enge Passage entlang, die mich zum Hinterhof brachte, doch die einzigen Lebenszeichen kamen von Mrs. Jamesons Hühnern, die munter pickend in ihrem Verschlag herumliefen.

Die Hintertür war von innen gesichert, und ein Blick durch die Scheibe zeigte nichts außer dem Küchenherd. Möglicherweise waren die beiden Männer schon wieder gegangen, und ich hatte sie um ein paar Minuten verpasst.

Ich sah mich im Hof um. Es war nicht schwer, sich hier hereinzuschleichen, so wie ich es getan hatte. Zu warten, bis Jenny die Küche verlassen hatte, um dann unbemerkt das Haus zu betreten und eine Schandtat zu verüben. Doch Tapleys früherer Besucher war nicht auf diesem Weg gekommen. Offensichtlich hatte er eine Verabredung mit Tapley gehabt, vorbeizukommen, sobald Mrs. Jameson das Haus verlassen hatte. Er hatte auf der anderen Straßenseite gewartet. Tapley hatte am Fenster nach ihm Ausschau gehalten und ihn zur Vordertür hereingelassen. Warum hatte der Besucher den riskanten Weg genommen und sich nicht hintenherum hereingeschlichen, wie es der Mörder vermutlich getan hatte? Wahrscheinlich lag es daran, dass der Besucher mit einer privaten Kutsche gekommen war. Jemand wie er dachte vermutlich nicht einmal im Traum daran, den Dienstboteneingang zu nehmen, geschweige denn eine öffentliche Droschke zu benutzen. Tapleys junger Besuch war anscheinend ein Mann mit finanziellen Mitteln.

Ich schob meine Überlegungen beiseite. Ben musste so schnell wie möglich von Kohlenhaus-Joeys Geschichte erfahren, nicht erst am Abend, wenn er nach Hause kam. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als eine Droschke zu nehmen und mich auf dem schnellsten Weg zum Scotland Yard zu begeben.

Es erschien mir logisch, zum nahegelegenen Bahnhof zu laufen und dort am Stand auf eine passende Kutsche zu warten. Ich benötigte eine geschlossene Kutsche, da ich alleine unterwegs und mir sehr wohl bewusst war, dass sich nur Frauen von zweifelhaftem Ruf allein in einem offenen Zweispänner umherfahren ließen. Tatsächlich war eine Droschke frei und wartete auf einen Fahrgast. Als ich mich näherte, löste sich der Kutscher, der sich ein Stück abseits mit Kollegen unterhalten hatte, in Erwartung des möglichen Fahrgasts aus der Gruppe und kam auf mich zu. Im gleichen Moment erkannten wir einander.

»Wenn das nicht Mr. Slater ist?«, rief ich aus. Die ramponierte Gestalt des ehemaligen Preisboxers ließ keinen Zweifel zu.

»Hallo!«, entgegnete der Kutscher. Er grinste breit und offenbarte dabei mehrere abgebrochene Zähne. »Na, das ist doch Miss Martin, wenn ich nicht irre! Warum rennen Sie denn auf dem Bahnhof rum? Ich hoffe doch, Sie halten nicht Ausschau nach Leichen?« Es war als Witz gemeint, mit dem er an unsere erste Begegnung bei meiner Ankunft in London erinnern wollte. Er kicherte heiser.

»Zufälligerweise ja, Mr. Slater. Es hat einen Mord gegeben, und ich muss schnell zum Scotland Yard. Oh, und ich heiße jetzt Mrs. Ross, und mein Mann ist Inspector bei Scotland Yard.«

Er warf mir einen ernsten Blick zu. »Ach, tatsächlich? Nun, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Heirat und hoffe, dass Sie genauso zufrieden damit sind wie Mrs. Slater. Obwohl Sie einen Zivilhengst aus dem Yard geheiratet haben, eh?« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Nicht, dass ich überrascht wäre. Sie hatten schon immer ein merkwürdiges Interesse an Leichen. Ich weiß, dass Ladies ihre Hobbies haben. Aber normalerweise malen sie Blumen oder gehen den Armen mit ihren guten Taten auf die Nerven. Ihr Vater war ein Knochensäger, wenn ich mich recht entsinne. Vermutlich liegt es in der Familie. Sie haben wahrscheinlich einen besonderen Blick für das Böse.«

»Ja, ja, Mr. Slater, wenn Sie es sagen.« Es war zwecklos, ihn überzeugen zu wollen, dass ich kein besonderes Interesse an Leichen hatte. »Wären Sie jetzt so freundlich, mich auf dem schnellsten Weg zum Scotland Yard zu bringen?«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Nur rein in die Kutsche! Ich habe sie erst gestern ausgewaschen, es ist alles sauber. Ich muss geahnt haben, dass Sie auftauchen.«

Wir legten die Strecke in ordentlicher Zeit zurück. Bevor wir uns verabschiedeten, wünschte er mir alles Gute bei meinen Nachforschungen. »Auf Wiedersehen, Mrs. Ross. Gerne auch ohne dass wieder eine Leiche aufgetaucht ist!«

Ich eilte in den Yard.

»Hallo, Mrs. Ross«, sprach mich ein junger Constable an. »Der Inspector ist beim Superintendent. Bitte nehmen Sie einen Augenblick Platz. Ich gehe hoch und sage Bescheid, dass Sie da sind. Es wird nicht lange dauern, bis er wieder im Büro ist.«

»Lizzie?«, erklang ein paar Minuten später Bens Stimme, und ich konnte die Überraschung an seinem Gesicht ablesen. »Was ist denn nun wieder passiert?« Seine Stimme wurde schärfer.

Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit Kohlenhaus-Joey und Tapleys mysteriösem Besuch.

»Ich muss den Jungen ausfindig machen«, sagte er und schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Natürlich waren Morris und ich heute Morgen in diesem Haus, um Tapleys Zimmer zu durchsuchen. Ich wünschte, wir wären auch noch da gewesen, als du gekommen bist. Wir hätten sofort in die Gegend gehen können, wo du Joey getroffen hast, und alle zusammen nach ihm suchen. Ich muss Constable Butcher und seinen Kollegen Bescheid sagen, dass sie nach dem Jungen Ausschau halten.«

»Sie würden Joey nicht erwischen«, sagte ich. »Er ist ständig auf der Hut vor der Polizei. Ich könnte Bessie bitten, die anderen Mägde in der Straße zu fragen, ob sie ihr Bescheid geben, wenn Joey an ihrer Küchentür auftaucht und sich Essensreste erbettelt. Leider kommt er nie zu uns. Bessie jagt ihn fort, wenn ich nicht da bin. Die Magd der Witwe Jameson scheucht ihn ebenfalls weg. Wenn ich zuhause bin und ihn sehe, gebe ich ihm immer etwas. Ich wünschte wirklich, wir könnten etwas für ihn tun. Er mag Pferde, Ben. Er könnte Stalljunge werden.«

»Er könnte sich bei den Stallungen herumdrücken und sehen, ob er den Stallknechten für ein oder zwei Penny aushelfen kann. Ich bezweifle allerdings, ob irgendjemand ihm ein kostbares Tier anvertrauen würde.« Ben runzelte gedankenverloren die Stirn. »Diese ›goldenen‹ Pferde, wie er sie nach deinen Worten nannte. Sie müssten leicht zu finden sein, wenn wir wüssten, in welcher zweifellos wohlhabenden Gegend von London wir suchen müssen. Ich informiere die anderen Reviere. Sie sollen ihren Leuten Anweisung geben, nach einem zueinander passenden Gespann dieser Art Ausschau zu halten und sofort Nachricht an Scotland Yard zu geben.«

Ben legte die Arme über den Kopf und seufzte. Er sah müde aus, dabei lag ein Großteil des Tages noch vor ihm. »Hoffen wir, dass ich morgen etwas aus Southampton höre oder dass der Bericht über den Mord in den Abendzeitungen Interesse erregt. Unser Quäker-Witwen-Untermieter ist ein faszinierender Fall, Lizzie, doch wir werden schon noch herausfinden, was es mit seinen Geheimnissen auf sich hat.«

In diesem Moment erklangen schwere Schritte im Gang, und Superintendent Dunns kräftige Gestalt erschien in der Tür.

»Hallo, Mrs. Ross!«, rief er. »Es ist immer eine Freude, Sie zu sehen, Ma’am.«

Was haben Sie hier zu suchen? war die unausgesprochene Frage hinter seiner Begrüßung, erkennbar an den buschigen Augenbrauen, die sich bis fast zum Haaransatz hoben.

Ben berichtete ihm hastig von meinem Zusammentreffen mit Kohlenhaus-Joey.

»Was würden wir bloß ohne Sie anfangen, Mrs. Ross?«, polterte Dunn. »Schon wieder bringen Sie uns nützliche Informationen. Zu schade, dass wir hier beim Yard keine Frauen anstellen. Sie scheinen sehr geschickt im Beschaffen von Hinweisen und Zeugen zu sein.«

Wie viel lieber war mir da doch Wally Slaters aufrichtige Meinung, ich wäre eine seltsame Frau mit eigenartigen Interessen. Das konnte ich akzeptieren. Alles war mir lieber, als Dunns gönnerhaftes Lächeln.

»Ja!«, entgegnete ich brüsk. »Wirklich zu schade, dass Sie im Yard keine Frauen beschäftigen. Ich hoffe inständig, dass das eines Tages der Fall sein wird!«

Ich weiß nicht, wer von den beiden erschrockener dreinsah. Ich strahlte sie an und ließ sie allein, damit sie über die Schrecken einer Zukunft mit Frauen beim Yard nachdenken konnten. Und wenn Superintendent Dunn noch mehr Beweise brauchte, dass Scotland Yard von weiblichen Ermittlern profitieren konnte, dann würde ich mein Bestes tun, damit er sie bekam.